Debatte über Niedrigstrahlung erreicht die Schweiz

Schon die kleinste Dosis Radioaktivität ist gesundheitsgefährdend, sagen die einen. Im Gegenteil, finden andere: Geringe Dosen sind sogar gesundheitsfördernd. Bisher war in den Schweizer Zeitungen fast ausschliesslich der erste Standpunkt vertreten. Ein Artikel der «Basler Zeitung» hat das geändert. Auf der anderen Seite zeigte die Diskussion um die sogenannte «Lex Beznau», wie tief verankert die Strahlenangst in der Öffentlichkeit ist.

20. Apr. 2018

Frei nach dem Motto «die gute Nachricht zuerst» beginnen wir diese Medienschau mit einem umfangreichen Beitrag aus der «Basler Zeitung» (BaZ) vom 11. Januar 2018. «Mehr Strahlung – für die Gesundheit» lautete die Überschrift der prominent auf der Titelseite platzierten Zusammenfassung, «Länger leben dank Radioaktivität» die des Artikels, der die ganze dritte Seite der Zeitung einnahm.

Gewöhnungsbedürftige Ansichten

«Für viele Schweizer mag es gewöhnungsbedürftig wirken, was jüngst in Nuclear News zu lesen war, der Zeitschrift der Amerikanischen Wissenschaftsvereinigung für Kerntechnik (American Nuclear Society)», steht am Anfang des Artikels. Leider dürfte in der Schweiz ausserhalb der Nuklearbranche kaum jemand die «Nuclear News» lesen – dafür hoffentlich umso mehr die BaZ. «Es ist offensichtlich geworden, dass die Gesellschaft einen sehr hohen Preis bezahlt wegen der Angst vor tiefdosierter Strahlung», werden dort nämlich die Kernphysiker Jerry M. Cuttler und William H. Hannum zitiert, beides «renommierte Fachleute». Und weiter: «Studien haben gezeigt, dass tiefe Strahlungsdosen die Lebensspannen von Tieren und Menschen verlängern.»

Der BaZ-Redaktor scheint sich bewusst zu sein, dass er mit seinem Artikel in ein Wespennest stechen könnte: «Doch ist die Aussage, radioaktive Strahlung nütze der Gesundheit, nicht eine zynische Verdrehung der Wirklichkeit? Ist die Forderung nach einer Lockerung des Strahlenschutzes nicht ein menschenverachtendes Plädoyer zugunsten der Atomkraft? Jedenfalls ist die Bevölkerung in der Schweiz und in vielen anderen Ländern fest überzeugt, dass radioaktive Strahlung eine unvergleichliche Gefahr darstellt und schon geringste Dosen verheerend für die Gesundheit sind. Das zeigt sich etwa beim erbitterten Streit um die Lagerung radioaktiver Abfälle.» Im Beitrag wird auch nichts verharmlost: «Unbestritten ist zwar, dass eine hohe Dosis, insbesondere wenn sie schlagartig erfolgt, schädlich bis tödlich sein kann. So gab es nach den Atombomben-Abwürfen 1945 über Hiroshima und Nagasaki unter den Bewohnern, die nicht unmittelbar durch die fürchterlichen Druck- und Hitzewellen zu Tode kamen, viele, die stark radioaktiv belastet wurden und einige Wochen oder Monate später an der sogenannten Strahlenkrankheit starben, die unter anderem mit inneren Blutungen einhergeht.»

Eine Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen

Doch die eingangs zitierten Autoren «können sich auf eine Vielzahl wissenschaftlicher Resultate abstützen, die tatsächlich darauf hinweisen, dass massvolle Radioaktivität die Gesundheit fördert und insbesondere die Häufigkeit von Krebs verringert». So seien etwa «die Folgen der Strahlung bei den Überlebenden der Atomexplosionen in Japan (…) dank langjährigen Wissenschaftsprogrammen der USA sehr gut erforscht». Weiter verweist der Artikel auf «eine grosse Zahl von Tierversuchen mit nuklearer Bestrahlung – mit eindeutigen Resultaten: Massvolle radioaktive Strahlung fördert die Gesundheit, führt zu weniger Krebs und verlängert die Lebensspanne von Tieren». Die Wirkung der Strahlung bei Menschen sei dagegen «weniger gut belegt als bei Tieren. Denn Bestrahlungs-Experimente, bei denen Menschen absichtlich einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt würden, sind natürlich nicht zulässig». Dafür gebe es «eine Vielzahl von Untersuchungen bei Personen, die nach Unfällen eine bestimmte Strahlung abbekommen haben, die berufsbedingt eine höhere Strahlendosis akzeptieren müssen, oder die aufgrund ihres Wohnorts einer erhöhten natürlichen Hintergrundstrahlung ausgesetzt sind». Die Namen dieser Orte dürften aufmerksamen Lesern unserer Publikationen bekannt vorkommen: Kerala in Indien oder Guarapari in Brasilien. «Der Ort mit der weltweit höchsten bekannten Strahlung ist der Kurort Ramsar im Iran, wo bis zu 260 mSv pro Jahr gemessen werden.»

Tiefere Krebsraten und höhere Lebenserwartung

Auch bei beruflich strahlenexponiertem Personal sei der Gesundheitszustand mehrfach untersucht worden, etwa bei Mitarbeitern von Kernanlagen oder britischen Radiologen. Beide Gruppen hätten eine tiefere Sterblichkeit wegen Krebs gezeigt. «Ein unerwartetes Ergebnis zeigte auch eine Untersuchung in Taiwan, wo ab 1982 etwa 10’000 Menschen einer stark erhöhten Strahlung ausgesetzt waren. Der Grund war, dass Stahl, der im Hausbau eingesetzt wurde, wegen eines Industrieunfalls durch strahlendes Cobalt-60 versetzt war. Die Strahlung, die die Betroffenen in ihren Wohnungen während Jahren abgekommen haben, war im Schnitt etwa so stark wie diejenige, die anfänglich in der Sperrzone um das AKW Fukushima herrschte. Die Auswertung zeigte aber, dass die Betroffenen signifikant seltener an Krebs litten als die übrige Bevölkerung Taiwans. Zudem gab es weniger Fälle angeborener Missbildungen.» Diese und weitere Studien hätten dazu geführt, dass es heute viel Strahlenbiologen gebe, «die überzeugt sind, dass massvolle Radioaktivität für Menschen von Vorteil sein könnte». Die meisten Präventivmediziner würden davon «allerdings nichts wissen wollen» und auch die Öffentlichkeit wisse kaum etwas von «mutmasslichen Gesundheitsvorteilen bei mässiger Belastung». Das dem nicht immer so war und Radioaktivität in den 1920er- und 1930er-Jahren «einen sehr guten Ruf» hatte, zeigt der Redaktor mit Verweisen auf Radon-Kurorte wie das österreichische Bad Gastein auf. Die «Angst vor jeglicher radioaktiver Strahlung» hätte erst nach den Atombomben-Abwürfen in Japan um sich gegriffen und wurde «mutmasslich bewusst von den Amerikanern befördert, zwecks Abschreckung».

«Astronomische» Kosten für Strahlenschutz

«Brisant» findet es der Autor des BaZ-Artikels, «dass der gesundheitsfördernde Effekt am grössten zu sein scheint bei Strahlungsbelastungen, die denjenigen entsprechen, die in weiten Teilen der Sperrgebiete um die Havarie-Reaktoren in Tschernobyl und Fukushima herrschen». So würden sich denn auch die beiden eingangs zitierten Experten beklagen, «dass der Strahlenschutz heute unsinnig streng sei. Das führe auch dazu, dass die Anwendung radioaktiver Strahlung in der medizinischen Diagnostik und Behandlung stark eingeschränkt sei. Weiter bewirke die übergrosse Angst vor jeglicher Radioaktivität absurderweise auch, dass der Schutz vor tatsächlich gefährlichen Strahlungsdosen leide. ‹Es gibt viele durch Waffenprogramme nuklear belastete Standorte, wo Sanierungen nötig sind, um übermässig strahlendes Material von der Umgebung fernzuhalten›, schrieben die beiden Forscher. Die überhöhten Anforderungen trieben die Sanierungskosten in ‹astronomische› Höhen und behinderten damit die Eliminierung von strahlendem Material. Cuttler und Hannum fordern nun ‹eine konstruktive Debatte, um sichere Grenzwerte zu bestimmen›. An diesen solle sich der Strahlenschutz künftig orientieren». Dem ist von unserer Seite nichts beizufügen – sehr wohl aber den Berichten, die rund zwei Wochen später in den Schweizer Zeitungen erschienen sind.

«Bundesrat ergreift Partei für AKW-Betreiber»

Diese Überschrift stand am 24. Januar 2018 im «Tagesanzeiger», im «Bund», im «Landboten», in der «Berner Zeitung» sowie leicht abgeändert in den «Freiburger Nachrichten», darunter jeweils – Medienverbund sei Dank – der identische Text. Kern der darin erläuterten Problematik war ebenfalls die Frage, wie viel Radioaktivität schädlich ist – genauer gesagt, ob bei einem Ereignis, das statistisch betrachtet nur einmal in 10’000 Jahren vorkommt, die im Schadensfall in einer Schweizer Kernanlage am meisten exponierte Person der Bevölkerung nicht mehr als 1mSv oder nicht mehr als 100mSv akkumulieren darf. Um diese Frage geht es nämlich laut dem Artikel in einer Vernehmlassung des Bundesrates, die am 10. Januar 2018 eröffnet worden ist, mit Frist bis am 17. April. Brisant daran ist aus Sicht des Redaktors, dass die gleiche Frage zudem im Zentrum eines beim Bundesverwaltungsgericht hängigen Verfahrens steht, welches mehrere Beznau-Anwohner zusammen mit drei Umweltorganisationen angestrengt haben, da sie mit dem Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) nicht einverstanden sind. Dieses hatte nach dem Reaktorunfall in Fukushima von allen Schweizer KKW verlangt, dass sie «ihre Anlagen punkto Erdbebensicherheit überprüfen lassen. Unter anderem hatten sie die Frage zu klären, wie viel Radioaktivität aus ihrer Anlage bei einem schweren Erdbeben – wie es nur einmal alle 10’000 Jahre auftritt – entweichen würde. Der Stromkonzern Axpo errechnete für sein Atomkraftwerk Beznau eine Dosis von 29 Millisievert, das Ensi kam auf 78. Beide Resultate lagen also unterhalb jener Schwelle von 100 Millisievert, die darüber entscheidet, ob ein Atomkraftwerk zumindest vorläufig vom Netz genommen und nachgerüstet werden muss». Ergo hat das Ensi den Weiterbetrieb des KKW Beznau bewilligt, was die erwähnte Gruppierung jedoch mittels «Gesuch um Feststellung der Rechtsverletzung» angefochten hat. Sie wirft «dem Ensi vor, einen hundertmal zu hohen Grenzwert anzuwenden: 100 statt 1 Millisievert». Das Ensi lehnte das Gesuch ab und nun beschäftigt sich das Bundesverwaltungsgericht damit.

Die Beschwerdeführer erachten die vom Bundesrat vorgeschlagene Teilrevision der entsprechenden Verordnungen als Einmischung in das laufende Verfahren, was sie im Artikel auch umfassend kundtun. «Leuthard und der Gesamtbundesrat dagegen», so der Beitrag, «sehen keine Abstriche bei der Sicherheit: Der Grenzwert von 100 Millisievert, so argumentieren sie, sei mit den internationalen Vorgaben konform und entspreche der bisherigen Ensi-Praxis». Die Axpo könne wohl aufatmen, so das Fazit des Artikels, da die geänderte Verordnung wohl vor Abschluss des Gerichtsverfahrens in Kraft treten dürfte und somit «der Grenzwert im neuen Recht eindeutig bei 100 Millisievert läge».

Die Dosis macht’s

Auffällig ist vor dem Hintergrund des eingangs behandelten Artikels der BaZ die Informationsspalte des Artikels zur «Lex Beznau» unter dem Titel «Krebsgefährdung – die Dosis macht es aus», die wir hier zum Vergleich komplett, aber unkommentiert, wiedergeben: «Radioaktive Stoffe senden energiereiche Strahlung aus, die je nach Dosis Zellen von Menschen und Tieren zerstören und Krebs verursachen. Wie gefährlich Radioaktivität für ein Lebewesen ist, hängt von der Strahlendosis ab. Dieser Wert wird in Millisievert (mSv) angegeben. Der gesetzliche Grenzwert für die Strahlendosis liegt in der Schweiz generell für die Bevölkerung bei 1 Millisievert pro Jahr, bei beruflich strahlenexponiertem Personal bei 20 Millisievert. Der Wert bezieht sich dabei auf künstliche Quellen wie zum Beispiel Radioaktivität in der Umgebung von Kernkraftwerken. Auch Strahlenquellen bei medizinischen Untersuchungen wie Computertomografie, Dosen durch natürliches Radon im Gestein und kosmische Strahlung sind ausgenommen. Werden diese Faktoren berücksichtigt, so beträgt die jährliche durchschnittliche Strahlendosis in der Schweiz laut Bundesamt für Gesundheit 5,6 Millisievert pro Person. Die Wissenschaft kann allerdings nicht ausschliessen, dass langfristig auch unterhalb des Grenzwertes von 1 Millisievert in Einzelfällen Krebs entstehen kann. Dennoch soll erst bei einer jährlichen Dosis von 200 bis 1000 Millisievert eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für bestimmte Krebserkrankungen bestehen.»

Nur die NZZ an der Medienkonferenz?

Am 1. Februar 2018 traten die Beschwerdeführer in der besagten «Affäre» in Bern vor die Medien und legten ihren Standpunkt dar. Die Veranstaltung stiess auf wenig Echo in den gedruckten Tageszeitungen. Wir fanden einzig in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) einen Bericht dazu. Das lag vielleicht auch daran, dass wir davor bei der «alten Dame» nichts zu diesem Thema gelesen haben und diese die Medienkonferenz als Anlass nahm, ebendies nachzuholen. Wie dem auch sei, der Inlandredaktor der NZZ beurteilte den Sachverhalt wie folgt: «Was nach einer Nachführung und Präzisierung tönt, hat es jedoch in sich, denn die Änderungen kommen mitten in einen am Bundesverwaltungsgericht hängigen Rechtsstreit um den Weiterbetrieb der zwei Reaktoren des AKW Beznau und betreffen genau die strittige Auslegung der Abschaltkriterien. Die Beschwerdeführer, eine Gruppe von Beznau-Anwohnern sowie die Schweizerische Energiestiftung (SES), der Trinationale Atomschutzverband (Tras) und Greenpeace, sehen dies als Schachzug des Bundesrates, mit einer eigentlichen ‹Lex Beznau› die mögliche Ausserbetriebnahme abzuwenden.» Weiter zitiert er die Präsidentin des Vereins «Beznau Verfahren», Nationalrätin Irène Kälin (Grüne, Aargau): «Obwohl das Gericht noch kein Urteil gefällt hat, ist der Bund nun im Begriff, die gesetzlichen Sicherheitsbestimmungen so abzuschwächen, dass Beznau die Prüfung auch vor Gericht bestehen würde». Kälin bezeichnete zudem das Vorgehen des Bundesrates als «hinterhältig», denn «die Anpassungen würden eine massive Erhöhung des nuklearen Risikos für die Bevölkerung bedeuten. Zudem würden Grundsätze des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung missachtet, weil der Bund in die Rechtsauslegung des Gerichts eingreife».

Wir bleiben sowohl an der Strahlenschutzdebatte wie auch am Rechtstreit um die «Lex Beznau» dran und halten Sie auf dem Laufenden.

Quelle

M.Re. nach verschiedenen Medienberichten, 2018

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