Information, Respekt und Verantwortung

Für die Kommunikatorinnen und Kommunikatoren, die sich für eine sachlich korrekte Meinungsbildung über Fragen der Kernenergie einsetzen, begann der vergangene November mit einem doppelten Schock: - In Frankreich starb am Sonntag, 7. November 2004, ein an die Bahnschienen geketteter junger Mann beim Protest gegen den Transport verglaster hochradioaktiver Abfälle aus La Hague nach Gorleben unter den Rädern des fraglichen Eisenbahnzuges. - In der Woche zuvor vergifteten sich in Russland Bewohner des Gebiets Saratow an der unteren Wolga, indem sie aus Angst vor einem vermeintlichen Unfall im Kernkraftwerk Balakowo vorsorglich irgendwelches Jod schluckten.

30. Nov. 2004

Die beiden - aus rationaler Sicht unverständlichen und vor allem unnötigen - Ereignisse sind eigentliche Tragödien. Sie zwingen dazu, über die Bedeutung von Information, über die Tragweite von Demagogie und Manipulation, über die Anforderungen an eine vertrauenswürdige Öffentlichkeitsarbeit von Fachwelt und Behörden in industrialisierten Gesellschaften sowie über Mündigkeit und Verantwortung in demokratischen Systemen nachzudenken.

Warum verlor der 23-jährige Franzose, der sich beim Heranrollen des Zuges bei Avricourt in der Lorraine offenbar nicht wie seine Kollegen in Sicherheit bringen konnte, sein Leben? Doch nicht wirklich, weil er - wie es aus Aktivistenkreisen nach dem Unglück verlautete - als Amateur die Sicherheitstechnik des professionellen Protests halt nicht beherrschte und deshalb seine Ketten nicht rechtzeitig lösen konnte. Entscheidend für das für alle schockierende Ereignis ist vielmehr die Frage, was die jungen Leute dazu bewogen hatte, sich zu dieser selbstmörderischen Ankettungsaktion treiben zu lassen. Offensichtlich sind sich die Wortführer der Protestindustrie, die vom Idealismus und der Radikalität, aber auch von der Beeinflussbarkeit der Jungen lebt, völlig im Klaren über ihre eigene Rolle und Vorbildfunktion bei der militanten Systemkritik sowie über die Nachahmungsneigung ihres Zielpublikums. Jedenfalls meldeten sich Exponenten der Atomgegner sofort zu Wort. Ein Sprecher von "Sortir du nucléaire" distanzierte sich vom unprofessionellen Vorgehen der Gruppe des Opfers, und der deutsche Umweltminister erklärte per Medienmitteilung, er erwarte, dass Umstände und Verantwortlichkeiten für diesen tragischen Unfall lückenlos aufgeklärt werden. "Der Tod des jungen Demonstranten mahnt alle Beteiligten zur Besonnenheit. Kein Ziel rechtfertigt es, das eigene Leben oder die Gesundheit anderer zu gefährden." Angesichts des weltweit einmaligen trittinschen Leistungsausweises bei der Dramatisierung der angeblich von der Radioaktivität ausgehenden Gefahren der Transporte radioaktiver Güter ist diese - nicht etwa vor, sondern nach dem tödlichen Unfall vorgetragene - Mahnung zur Besonnenheit an Zynismus kaum zu übertreffen. Mit einer gewissen Ratlosigkeit wies ein von den Medien auf die Transportsicherheit angesprochener Sprecher des Kernbrennstoff unternehmens Cogema auf die absurde Diskrepanz zwischen den rigorosen Sicherheitsmassnahmen und den sattsam bekannten waghalsigen Aktionen der A-Gegner zur Behinderung der Transporte hin. Seine Bilanz zum tödlichen Transport-Drama von Avricourt: "Man kann doch nicht so tun, als wäre das ein Spiel!"

Die Frage "warum?" stellt sich auch bei der künstlich provozierten weiträumigen Panik nach einer technischen Störung im Sekundärteil des Kernkraftwerks Balakowo-2 im russischen Verwaltungsgebiet Saratow an der unteren Wolga vom 4. November 2004. Als Folge eines Risses in einer Speisewasserleitung eines Dampferzeugers wurde um 1.24 Uhr eine Schnellabschaltung des Druckwasserreaktors vom Typ WWER-1000 ausgelöst. Alle Sicherheitssysteme arbeiteten einwandfrei. Der Vorfall wurde als nicht sicherheitssignfikant auf Stufe 0 - also unterhalb der von 1 bis 7 reichenden internationalen Störfall-Bewertungsskala für Kernanlagen (Ines) -eingestuft. Die Sicherheitsbehörde Rostechnadsor bestätigte die öffentliche Mitteilung des Betreibers Rosenergoatom, es bestehe keine Gefahr. Trotzdem verbreitete sich rasch und weiträumig das Gerücht über einen grossen Reaktorunfall mit menschlichen Opfern und Austritt von Radioaktivität. Gemäss offiziellen Angaben steht fest, dass die Panik durch anonyme Telefonanrufe an Geschäftsbetriebe und Schulen ausgelöst wurde. Die Anrufer gaben vor, Vertreter des Ministeriums für Katastrophenschutz zu sein und empfahlen, Jod als "Strahlenmedizin" zu sich zu nehmen. Diese Warnungen wurden von Lokalradiostationen und einer anonymen Internetseite weiterverbreitet. Bis am 5. November waren nach Medienberichten in den Apotheken der Region alle jodhaltigen Medikamente und Jodpräparate für die äusserliche Anwendung ausverkauft. Eltern holten ihre Kinder aus Schulen und Kindergärten und dichteten zu Hause die Fenster ab. Die Zusicherung der Behörden, dass keine Radioaktivität freigesetzt worden sei, konnte die unbegründete Einnahme von Jod nicht stoppen, und es kam zu Spitaleinweisungen wegen Jod-Überdosen. Nach drastischen Massnahmen der nationalen und regionalen Behörden brach die Panik am 6. November praktisch ab. Der Chef der russischen föderativen Agentur für Atomenergie Rosatom, Aleksandr Rumjanzew, sprach in einem Interview mit nationalen Fernsehstationen von "Informations-Hooliganismus". Die Behörden der Stadt und des Gebiets Saratow leiteten ein Verfahren wegen der mutwilligen Verbreitung von Falschinformation ein, die Panik auslöste und die öffentliche Gesundheit gefährdete. Als Urheber der Falschinformationen werden u.a. politische Gegner des Kraftwerksdirektors oder anderer Exponenten der Region vermutet.

Die Vorfälle Avricourt und Balakowo führen vor Augen, wie schwierig es für die Öffentlichkeit ist, sich ein sachlich zutreffendes Urteil über die Grundlagen unserer technischen Zivilisation und besonders über Fragen der emotional belasteten Kernenergie zu bilden. In beiden Fällen haben sich Menschen, denen das Vertrauen in die öffentlichen Verantwortungsträger fehlt, unnötigerweise in lebensgefährliche Situationen begeben. Zu einem wichtigen Teil gründet dieses Misstrauen und das daraus entstehende fatale Fehlverhalten auf einem Mangel an Wissen und Verständnis für die Technik. Dass es Kreise gibt, die diese Schwierigkeiten - bewusst oder un-bewusst zynisch - für ihre Ziele missbrauchen, gehört zum Gesamtbild.

Die SVA versteht es als ihre wichtigste Aufgabe, die Öffentlichkeit in verständlicher Form über die Kernenergie sachgerecht zu informieren. Das Ziel dieser Arbeit ist, der Bevölkerung zu ermöglichen, sich ein eigenes Urteil über die Vor- und Nachteile der Kernenergie zu bilden. In unserm direktdemokratischen System entscheiden die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger über die Rolle, welche die Kernenergie im zukünftigen Energiemix der Schweiz mittel- und langfristig spielen wird. Der Respekt vor der politischen Urteilskraft der Bevölkerung auferlegt der Fachwelt die Verantwortung, korrekte, offene und verständliche Kernenergie-Information als Entscheidungsgrundlage für ein breites Publikum mit Geduld und Besonnenheit laufend bereitzustellen. Diese Herausforderung wird künftig das Nulearforum Schweiz wahrnehmen, in das die SVA Anfang des nächsten Jahres überführt wird.

Quelle

P.H.

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