Über Risikokommunikation und Angstkulturen

Die Risikokommunikation ist um ein Kapitel reicher: Heute beginnen wir zu verstehen, weshalb Deutschland in Energiefragen einen komplett anderen Weg geht als zum Beispiel Grossbritannien oder Frankreich. Einblicke gibt uns ein Forscher am Max Planck-Institut für Bildungsforschung.

16. Apr. 2012
Falsche Risikowahrnehmung: Das Flugzeug gehört zu den sichersten Verkehrsmitteln: trotzdem wird Fliegen aufgrund der Berichterstattung in den Medien von vielen Menschen als gefährlich eingestuft.
Falsche Risikowahrnehmung: Das Flugzeug gehört zu den sichersten Verkehrsmitteln: trotzdem wird Fliegen aufgrund der Berichterstattung in den Medien von vielen Menschen als gefährlich eingestuft.
Quelle: Swiss

Es gibt Erkenntnisse in der Kommunikationsforschung, die zwar unbestritten sind und dennoch immer wieder von neuem verblüffen. Grundlegend ist die Theorie der kognitiven Dissonanz. Besteht ein Widerspruch zwischen aufgenommenen Informationen und den vorbestehenden Elementen der Kognition (eigene Meinung, Wertvorstellung, Einstellung), so spricht man von einem dissonanten Verhältnis. Bei einem Raucher entsteht diese Dissonanz, wenn er mit Informationen konfrontiert wird, dass Rauchen Lungenkrebs verursachen kann. Sein Verhalten steht in Widerspruch zu diesen durchaus beängstigenden Informationen. Auch in gesellschaftspolitischen Debatten erkennen wir diese Phänomene. An Kernenergiegegnern prallen Informationen – zum Beispiel die Fakten über die CO2-arme Kernenergie – ab, Informationen, die an sich durchaus das Potenzial hätten, die eigene Einstellung zu hinterfragen. Hingegen beachten KKW-Gegner und KKW-Befürworter jene Fakten viel stärker, die sie –obwohl sie ihnen meistens schon bekannt sind –in ihrer Einstellung bekräftigen.

Risiken werden falsch eingeschätzt

Die Situation des Rauchers weist uns auf eine weitere wichtige Erkenntnis. Nennen wir sie asymmetrische Risikowahrnehmung. Er nimmt die Relevanz der Gefahr nicht objektiv wahr. Auch hatten mache Schweizer und Deutsche die aus den zerstörten japanischen Kernreaktoren austretende Radioaktivität für Menschen ausserhalb Japans als sehr gefährlich eingestuft, obwohl es dazu objektiv betrachtet keinen Grund gab. Offensichtlich wird dieses Missverhältnis in der Telekommunikationsbranche. Noch heute ängstigen sich selbst Handynutzer vor den Mobilfunkantennen, obwohl die Strahlung ihrer Handys viel mehr ins Gewicht fällt. Diese irrationale Angst verhindert, dass der Handynutzer wenigstens eine konsistente Entscheidung fällt: Ist er nämlich tatsächlich der Meinung, dass Mobilfunkstrahlen gesundheitsschädigend sind, dann müsste er zu allererst ein Headset benutzen. Somit erhöht sich die Distanz vom Handy zum Kopf. Man merke: Zur kognitiven Dissonanz gesellen sich oft asymmetrische Risikowahrnehmung sowie asymmetrisches und inkonsistentes Risikoverhalten.

Vor allem beweisen Studien der Risikokommunikation: Die selber eingegangenen Risiken werden in der Regel als viel geringer wahrgenommen, als jene Risiken, die man unmittelbar nicht beeinflussen kann. So erklärt sich, dass in Deutschland wohl einige Atomkraftgegner in der Nähe von Kernkraftwerken unter Schlafstörungen leiden. Selber setzen sie sich aber unvergleichlich höheren, ja potenziell tödlichen Gefahren aus. In einer modernen, hochtechnisierten Welt ist es bemerkenswert, dass blosse Denkfehler zu logischen Inkonsistenzen und schliesslich zu kognitiven Dissonanzen führen können. So etwa, wenn eine Person die Zusammenhänge von bestimmten Fakten nicht erkennt.

Verschiedentlich wurde in der Vergangenheit im Bulletin auch die Rolle der Medien gestreift. Sie sind tatsächlich als Trendverstärker in einer Schlüsselrolle, auch wenn Medienschaffende selber keine Trends schaffen können. Problematisch sind schliesslich – wie verschiedentlich dargelegt – die emotionalen Dramatisierungen, die ein vertieftes Verständnis der Rezipienten zu einem Thema erschweren.

«Politik beschränkt sich auf das übliche Arsenal»

Psychologie-Professor Gerd Gigerenzer* vom Max Planck-Institut für Bildungsforschung ging kürzlich in einem ausführlichen Interview einigen Aspekten der Risikokommunikation auf den Grund. Schauplatz New York, 11. September 2001: Offiziell starben bei den Terroranschlägen am 11. September 2001 in New York fast 3000 Menschen. Doch Gigerenzer behauptet: «Rechnen Sie noch einmal gut die Hälfte dazu. Viele starben nämlich, weil die Bilder der Flugzeuge, die da ins World Trade Center oder ins Pentagon krachten, ihnen so zugesetzt hatten, dass sie es nicht mehr wagten, ein Flugzeug zu besteigen. Sie nahmen lieber, wo es möglich war, das Auto.» Die Statistiken der zwölf Monate nach den Anschlägen hätten das deutlich gezeigt: ein höheres Verkehrsaufkommen und rund 1600 Unfalltote mehr als im Vor- und auch im Folgejahr. Auch diese Menschen seien zu Opfern des Terrors geworden, aber keiner habe sie als solche zur Kenntnis genommen. Man hätte sie retten können, wenn man als Reaktion auf die Anschläge die allgemeine Risikokompetenz erhöht hätte. Stattdessen beschränkte sich die Politik auf das übliche Arsenal: verschärfte Bürokratie, Technologie, Einschränkung der persönlichen Freiheit, Kontrollen, Nacktscanner.

Man hetzt von einer Katastrophe in die andere

«Man hetzt in der Mediengesellschaft von einer Katastrophe in die andere», so Gigerenzer und weiter: «Ob es aber wirkliche Krisen sind oder nur eingebildete, können oder wollen wir nicht immer unterscheiden. Schauen Sie mal zurück: Im vergangenen Sommer hatten wir die drohende EHEC-Epidemie – schon vergessen. Jeder isst wieder Tomaten und Gurken. Davor war es die Schweinegrippe – auch schon vergessen.» Vogelgrippe, SARS, BSE: Man braucht nur die Zeitung aufzuschlagen. Das Problem sei, dass wir uns sehr stark emotional steuern lassen würden. «Die Medien tun sechs Monate lang alles, um uns in Panik zu versetzen, dann lassen sie das Thema fallen. Denken Sie an Fukushima: Die Deutschen haben auf einen Schlag ihre Energieversorgung umgestellt, aber aus den Medien ist das Thema schon wieder verschwunden. In den Jahren zuvor hatten wir uns noch um die Treibhausgase aus Kohlekraftwerken gesorgt. Und ich sage Ihnen: Demnächst wird uns wieder die CO2-Belastung der Luft nervös machen.»

Für das Ausbrechen der Panik gibt es für Gigerenzer auch folgenden Erklärungsversuch:
Es handle sich um ein psychologisches Phänomen, das vermutlich tief in unserer Entwicklungsgeschichte begründet liege: So lange Menschen in kleinen Gruppen umherzogen, war der plötzliche Tod eines Teils der Gruppe für den Rest lebensbedrohlich. Das ist heute nicht mehr der Fall. Aber immer noch lässt sich sehr einfach Angst auslösen vor Situationen, in denen viele Menschen zum selben Zeitpunkt sterben könnten. Deswegen haben immer noch viele Angst vorm Fliegen, was statistisch jedoch kaum zu begründen ist. Aber wenn etwas passiert, dann ist es eine sehr sichtbare Katastrophe. Als BSE drohte, gab es Artikel in renommierten Fachzeitschriften, die sagten: bis zu 100'000 Tote, in Deutschland ist aber keine Person daran gestorben. Bei der Schweinegrippe hat die WHO bis zu zwei Milliarden Infizierte vorhergesagt. Die Reaktion war bei vielen grosse Furcht. Dabei waren das bei uns nur vorgestellte Katastrophen. Gigerenzer: «Von den wirklichen Killern dagegen erfahren wir erstaunlich wenig in den Medien: Nikotin, Alkohol, mangelnde Bewegung, falsche Ernährung. Oder Auto und Motorrad: rund 42'000 Verkehrstote pro Jahr in den USA, knapp 4000 in Deutschland – haben Sie etwa Angst, ins Auto zu steigen?» Da kommen gemäss Gigerenzer zwei Dinge zusammen: Eine psychologische Disposition, die etwas mit unserer Evolution zu tun habe, und zweitens der Einfluss der Medienkultur.

Es gibt kollektive Reizthemen

Diese Methoden funktionieren überall gleich. Allerdings gibt es verschiedene Angstkulturen. In Deutschland sind es für Gigerenzer vor allem Strahlen, die Angst auslösen: «Mobilfunk, Mammografie oder Atomkraftwerke garantieren in Deutschland immer heftige Reaktionen. Franzosen oder Amerikaner sind in dem Punkt weit weniger sensibel.» Aber auch dort gebe es kollektive Reizthemen. Wovor wir uns fürchten, wird durch soziales Lernen, Imitation anderer, auch Imitation ihrer Ängste geprägt: Das sind soziale Strategien, die einmal für das Überleben wichtig waren. Wer jeden Pilz erst selbst probieren wollte, um herauszufinden, ob er giftig ist, der hat sich schnell aus dem Genpool entfernt.
Angst sei also sehr wohl kulturspezifisch. Gigerenzer erzählt dazu aus seinem Leben: «Ich bin mit einer Amerikanerin verheiratet, habe auch lange in den USA gelebt, in Chicago. Wir haben oft Besuch von drüben, und wenn diese Gäste bei uns etwa zu Weihnachten erleben, wie wir Wachskerzen am Christbaum entzünden – dann halten die uns für komplett verrückt! Dieses Risiko! Was, wenn der Baum Feuer fängt? Auf der anderen Seite erinnere ich mich an ein Weihnachtsfest in den USA. Der Freund, den wir besuchten, hatte selbstverständlich elektrische Kerzen am Baum, alles vernünftig und sicher. Und dann zeigte er mir voller Stolz das Geschenk, das er für seinen Sohn ausgesucht hatte: ein Gewehr, eine Winchester! Der Junge war 16.»

*Gerd Gigerenzer, Jahrgang 1947, gehört zu den gefragtesten Psychologen Deutschlands. Seine populären Bücher «Das Einmaleins der Skepsis» (Bloomsbury Taschenbuch) und «Bauchentscheidungen. Die ‹Intelligenz des Unbewussten›» (C. Bertelsmann Verlag) wurden in 18 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, unter anderem als Wissenschaftsbücher der Jahre 2002 und 2007.

Quelle

Hans Peter Arnold

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