«Der Ausstieg wird umso teurer, je schneller er realisiert werden soll»

An der Jahrestagung Kerntechnik 2011 des Deutschen Atomforums e.V. (DAtF) vom 17. bis 19. Mai 2011 in Berlin waren die Ereignisse im japanischen Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi nach dem Erdbeben und dem Tsunami vom 11. März und vor allem die daraus gezogenen Konsequenzen allgegenwärtig. Da in Deutschland eine erneute politische Entscheidungsfindung über die Zukunft der Kernenergie in vollem Gange ist, verzichteten die DAtF-Veranstalter heuer auf den Programmteil, der sonst politische und gesellschaftliche Debatten aufgreift. Die deutsche Kernenergieskepsis war dann auch eines der Themen der Eröffnungsrede von DAtF-Präsident Ralf Güldner, der die deutschen Kernkraftwerke mit den Anlagen in Fukushima verglich und die Folgen einer unbedachten Ausstiegspolitik aufzeigte.

1. Juni 2011
An der Jahrestagung Kerntechnik 2011 hatten die Teilnehmenden Gelegenheit sich in Fachsitzungen und zahlreichen technischen Sitzungen bei mehr als 200 Vorträgen umfassend über die weltweiten Trends und Entwicklungen auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu informieren.
An der Jahrestagung Kerntechnik 2011 hatten die Teilnehmenden Gelegenheit sich in Fachsitzungen und zahlreichen technischen Sitzungen bei mehr als 200 Vorträgen umfassend über die weltweiten Trends und Entwicklungen auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu informieren.
Quelle: DAtF

Als sich vom 17. bis 19. Mai 2011 die deutsche Kernenergiegemeinschaft zur Jahrestagung Kerntechnik in Berlin traf, waren seit dem Reaktorunglück in Fukushima-Daiichi gut zwei Monate vergangen. Die Bewältigung dieser Ereignisse war ebenso in vollem Gang, wie die dadurch neu aufgeflammten Debatten. Dementsprechend sprach Güldner in seiner Eröffnungsrede von in zweierlei Hinsicht besonderen Umständen: Einerseits stand die Tagung selbstverständlich unter den Eindrücken der Ereignisse nach dem Erdbeben und Tsunami vom 11. März. Güldner kündigte an, dass man sich «intensiv mit der Analyse der Ereignisse in Fukushima befassen und allen Teilnehmern Gelegenheit zum fachlichen und persönlichen Austausch geben» wolle. Der Plenartag zum Auftakt der Tagung stand denn auch ganz im Zeichen des Unglücks von Fukushima-Daiichi. Andererseits fiel die Tagung auf einen Zeitpunkt, zu dem in Deutschlands Politik und Gesellschaft erneut intensiv über die Zukunft der Kernenergie diskutiert wurde. In Bezug auf Japan betonte Güldner seine Betroffenheit über die Naturkatastrophe, die mehr als 20'000 Menschenleben gefordert hatte, und drückte seinen «grossen Respekt vor dem enormen Einsatz und der Leistung unserer Kollegen» in Fukushima aus. Weiter wies er auf die Schwierigkeiten bei der Interpretation der Ereignisse aufgrund teilweise widersprüchlicher Meldungen hin.

Beschleunigter Ausstieg statt Laufzeitverlängerung

Güldner erklärte mit seinen einleitenden Worten, warum das Programm der Jahrestagung um einen Aspekt gekürzt wurde. Ursprünglich war für den ersten Tag die politische und gesellschaftliche Debatte um die Kernenergie in Deutschland auf der Themenliste gestanden. Das DAtF entschied sich jedoch, diesen Teil aus dem Programm zu nehmen und die Veranstaltung einen Tag später zu beginnen – aus Achtung vor dem «Primat der Politik», wie Güldner betonte. Der dynamische politische Prozess würde «die Rahmenbedingungen der Kernenergie in Deutschland deutlich verändern», so Güldner. Man wolle nicht spekulieren und zuerst politische Entscheide abwarten. Nichtsdestotrotz richtete er deutliche Worte an die Politik. «Kraftwerke, die gerade erst mit guten Gründen Laufzeitverlängerungen erhalten hatten, wurden plötzlich zum Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft erklärt und es begann ein Wettlauf um die Prognose kürzest möglicher Laufzeiten» – so beschrieb Güldner die Stimmung in Deutschland, wie sie sich parallel zu den Ereignissen in Japan entwickelte. Er brachte sein Verständnis für die Verunsicherung und Sorge wegen der Ereignisse in Japan zum Ausdruck. «Die Sicherheit unserer Kernkraftwerke – der älteren und der jüngeren – ist jedoch heute nicht schlechter als davor. Die deutschen Kernkraftwerke erfüllen alle sicherheitstechnischen Anforderungen und übertreffen sie zum Teil sogar deutlich», so Güldner weiter.

Unterschiede bei der Sicherheit

Beim schweren Unfall im Kraftwerk Fukushima-Daiichi handelte es sich nach Güldners Verständnis nicht um einen Fall eines eingetretenen Restrisikos, sondern «um Ereignisse, die in der Auslegung gegen Naturereignisse am Standort hätten Berücksichtigung finden müssen». Diese These bekräftigte er mit dem Umstand, dass statistisch betrachtet alle 15 Jahre ein Tsunami mit Wellenhöhen über zehn Metern auf die japanische Küste trifft. Die Sicherheitsmassnahmen in Fukushima-Daiichi seien jedoch bloss auf Bemessungswasserstände von 5,7 Metern ausgelegt gewesen. Nach den vorliegenden Informationen hätte der Tsunami die Schäden ausgelöst. Dem stärksten je in der Region gemessenen Erdbeben hätten die Anlagen und die Sicherheitsmassnahmen standgehalten. Im Folgenden ging Güldner auf die Unterschiede zwischen den betroffenen japanischen Anlagen und deutschen Kernkraftwerken ein. Die deutsche Auslegungsphilosophie rechnet mit Erdbeben, wie sie einmal in 100'000 Jahren vorkommen, und mit Hochwassern, die statistisch betrachtet alle 10'000 Jahre eintreten. Im Vergleich zu deutschen Kernkraftwerken habe die Anlage in Fukushima zudem über weniger Notkühl- und Nachwärmeabfuhrsysteme, über höchstens halb so viele Notstromsysteme, und weder über verbunkerte Notstandsysteme noch über externe Reservenotstromsysteme verfügt. Auch Wasserstoff-Rekombinatoren zum Abbau sich bildenden Wasserstoffs hätten gefehlt und die Druckentlastung sei nicht gefiltert über den Abluftkamin erfolgt. Diese Umstände bezeichnete Güldner als anlagenspezifisch und nicht typisch für die japanische Nuklearindustrie.

Konsequenzen der Abschaltung

Güldner warf die Frage auf, «ob der Ausgangspunkt der politischen Diskussion und Entscheidungsfindung zur Kernenergie nach dem 11. März in Deutschland faktenbasiert oder vor allem emotional begründet war». Er wies deutlich auf die unmittelbaren Konsequenzen der Abschaltung der sieben ältesten deutschen Reaktoren hin. So sei Deutschland vom Strom-Exporteur zum Importeur geworden. Würden die Anlagen länger oder für immer abgeschaltet bleiben, drohe das Land «zu Zeiten, in denen auch unsere Nachbarn einen erhöhten Bedarf haben, zu einem Stressfaktor für den europäischen Stromverbund zu werden». Ausserdem bestehe laut der Bundesnetzagentur das Risiko grösserer Stromausfälle, falls weitere Anlagen abgeschaltet würden. Doch auch für die Klimavorsorge habe das Abschalten der Kraftwerke negative Auswirkungen. So wurden laut Güldner alleine während des dreimonatigen Moratoriums rund acht Mio. t zusätzliches CO2 ausgestossen. Blieben die Anlagen dauerhaft abgeschaltet, wäre mit mehr als 30 Mio. t zu rechnen.

Der endgültige Ausstieg aus der Kernenergie wird gemäss Güldner umso teurer, je schneller er durchgesetzt werde. Einer Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) zufolge müsste ein deutscher Privathaushalt bei einem beschleunigten Ausstieg bis 2017 im Folgejahr mit um EUR 137 höheren Stromkosten rechnen. Darüber hinaus müssten erhebliche Kosten für den Netzausbau und die Schaffung von Speicherkapazitäten berücksichtigt werden. Diese hätten laut der Deutschen Energieagentur GmbH (dena) für Privatkunden einen zusätzlichen Kostenanstieg von rund 20% zur Folge. Hinzu kämen steigende Preise bei Waren und Dienstleistungen aufgrund höherer Energiekosten bei der Produktion. Dazu fügte Güldner eine Äusserung von Bill Gates zur Abschaltung der deutschen Kernkraftwerke an: «Das ist wahrlich ein Zeichen von Wohlstand». Auch für die Industrie hätte ein rascher Ausstieg finanzielle Konsequenzen, die laut Güldner sogar existenzbedrohend sein könnten. Ein durchschnittlicher gewerblicher Stromkunde mit einem Verbrauch von 2 GWh pro Jahr müsste zusätzliche Kosten um EUR 22'000 in Kauf nehmen, ein industrieller Grosskunde mit 24 GWh Verbrauch gar EUR 400'000. Dadurch sah Güldner nicht nur mehr als 800'000 Arbeitsplätze in Gefahr, sondern die gesamte Wertschöpfungskette des Industriestandortes Deutschland.

Fragwürdige Alternativen

«Je schneller der Ausstieg kommt, desto geringer wird die Bedeutung der Erneuerbaren beim Ersatz der Kernkraft», gab Güldner zu bedenken. Die unregelmässig anfallende Windkraft und Photovoltaik bedingen einen umfangreichen Zubau bei der Infrastruktur und der Stromspeicherung. Die Zeit dafür hätte laut Güldner mit der Laufzeitverlängerung gewonnen werden können. «Fehlt die notwendige Zeit für die Systemintegration, müssen neue Kohle- und Gaskraftwerke die Lücke in der Stromproduktion füllen», so Güldner weiter, was wiederum zu massiv höheren CO2-Emissionen führen würde. Laut seinen Ausführungen würde der Ausstoss um mindestens 60 Mio. t pro Jahr steigen, wodurch wiederum das Erreichen der Klimaziele in Gefahr geriete. Den Strom aus deutschen Kernkraftwerken mit Importen aus fossiler oder nuklearer Erzeugung zu ersetzen bezeichnete Güldner als unglaubwürdig. Damit würden die CO2-Erzeugung oder das öffentlich angeprangerte Restrisiko lediglich ins Ausland abgeschoben. Im Sinne der «Generationengerechtigkeit» forderte Güldner ausserdem, dass bei einem beschleunigten Ausstieg auch die Endlagerfrage schneller geklärt werden müsste. Ein rascher Verzicht auf Kernenergie in Deutschland, Europas grösstem Stromverbraucher, würde auch die Versorgungssicherheit ausserhalb des Landes gefährden, denn Deutschland ist mit Güldners Worten «keine einsame Insel, sondern eine zentrale Säule des europäischen Stromverbundes». Da Europa auch beim Stromhandel stark vernetzt ist, würde der Strompreis nicht nur in Deutschland steigen, und auch das CO2, das Deutschland zusätzlich ausstossen würde, müsste zum Erreichen der europäischen Klimaziele anderswo eingespart werden.

Ralf Güldner, DAtF-Präsident: «Augenmass und Vernunft bedeuten eine rationale Abwägung von Nutzen, Kosten und Risiken. Das muss auch wieder in der Energiepolitik gelten.»
Ralf Güldner, DAtF-Präsident: «Augenmass und Vernunft bedeuten eine rationale Abwägung von Nutzen, Kosten und Risiken. Das muss auch wieder in der Energiepolitik gelten.»
Quelle: DAtF

Andere Länder halten an Kernenergie fest

Im Weiteren betonte Güldner, dass Deutschland mit seinen Ausstiegsplänen und der extrem kernenergiekritischen Haltung in Europa und darüber hinaus praktisch alleine bleibe. Andere Länder würden zwar nach Fukushima Sicherheitsprüfungen durchführen, doch stehe dort ein möglicher Lerneffekt im Mittelpunkt. Güldner zeigte sich überzeugt, dass der Energiemix weiter auf nationaler Ebene geregelt werde und alle Arten der Kernenergiepolitik in der EU nebeneinander bestehen bleiben würden. Grossbritannien halte an seinem Neubauprogramm fest, wobei die politische Unterstützung und öffentliche Akzeptanz auf unverändert hohem Niveau seien. Auch Deutschlands Nachbarländer Polen und die Niederlande planten weiter Neubauten, ebenso Tschechien, Frankreich und Finnland. Sicherheitsprüfungen fänden auch ausserhalb der EU statt. Güldner verwies an dieser Stelle auf Russland, die USA, China, Taiwan und Südkorea: «Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf mögliche Lehren für Notfallsysteme, Prozeduren und den Katastrophenschutz, die aus den Ereignissen von Fukushima gezogen werden könnten. Ein Verzicht auf Kernenergie ist aber in keinem dieser Länder beabsichtigt.» Diese Länder seien allesamt wichtige internationale Wettbewerber. In keinem davon herrsche die in Deutschland allgegenwärtige Skepsis und das Streben nach dem schnellstmöglichen Ausstieg finde nirgends Nachahmer. In Deutschland hingegen scheint es laut Güldner, «dass über verständliche Sorgen und Zweifel hinaus in Deutschland in Teilen der Öffentlichkeit und der politischen Diskussion eine Aufgeregtheit in Bezug auf die Kernenergie Platz gegriffen hat, die eine nüchterne Debatte über unsere Energiezukunft sehr schwer macht». Diese sei jedoch nötig, denn «ein leichtfertiger schneller Verzicht wäre mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten, mit der Verletzung unserer klimapolitischen Verpflichtungen, mit einer erhöhten Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, mit einer verringerten Versorgungssicherheit beim Strom und nicht zuletzt mit zusätzlichen Auseinandersetzungen in der Europäischen Union verbunden.»

Auch nach dem Ausstieg kein Konsens

Güldner bezeichnete es als Illusion, «dass mit einem Ende der Kernenergie in Deutschland ein allseits akzeptierter Konsens über die Energiepolitik hergestellt werden könnte». Die Neuausrichtung eines Energiesystems bringe immer Konflikte mit sich, die mit politischen Entscheidungen gelöst werden müssen. Hierzu zitierte er Matthias Platzeck, den Ministerpräsidenten von Brandenburg: «Der Konsens ist immer schnell gefunden: Atomkraft Nein Danke, Kohle nicht, Windkraft haben wir genug, Biogas bitte im Nachbardorf und Stromtrassen wollen wir nicht. Wie soll das gehen?». Bestehende Differenzen verlangen laut Güldner Mut seitens der Politik und einen fairen und transparenten Interessensausgleich wo immer möglich. Dabei müssten die Versorgungssicherheit, die Umweltfreundlichkeit und die Preiswürdigkeit als «Leitplanken zukünftiger Entscheidungen» dienen. Auch die Interessen der europäischen Partner müssen bei der Entscheidung berücksichtigt werden, da man auch in der Energiepolitik «die Zukunft nur gemeinsam meistern» könne.

Zum Schluss seiner Eröffnungsrede gedachte Güldner seiner Kollegen in den Kernkraftwerken, die täglich ihren Beitrag zur Lebensqualität und zum Wohlstand des Landes leisten und sich dabei mit ganzer Kraft für die Sicherheit der Werke einsetzen würden. Die letzten Sätze seiner Ansprache bildeten einen klaren Appell: «Es ist verletzend, wenn diese Leistungen in der öffentlichen Diskussion diskreditiert werden und unsere Kolleginnen und Kollegen diffamiert werden. Es ist unerträglich, wenn Beschäftigte der Kerntechnik beschimpft werden, weil sie verantwortungsbewusst ihre Arbeit leisten. Bei allem Respekt für politischen Streit und öffentliche Auseinandersetzung dürfen solche Verhältnisse nicht hingenommen werden. Auch das muss in der politischen Diskussion in den kommenden Wochen beachtet werden. Wir werden alles dafür tun, damit unsere Kraftwerke sicher, mit technischem Sachverstand und verantwortungsbewusstem Engagement für die Energieversorgung der Menschen in unserem Land betrieben werden».

Quelle

M.Re. nach Rolf Güldner, Eröffnungsansprache an der Jahrestagung Kerntechnik 2011

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