Vertiefungskurs 2013: Herausforderungen am Betriebsende von Kernkraftwerken

Der Vertiefungskurs 2013 des Nuklearforums Schweiz war der Frage gewidmet, welche Herausforderungen Stilllegung und Rückbau eines Kernkraftwerkes mit sich bringen. In vier Blöcken wurden Konzepte für die Ausserbetriebnahme, Besonderheiten wie organisatorische oder psychologische Aspekte, juristische sowie praktische Fragen behandelt.

23. Dez. 2013
Abwechslungsreiches Programm am Vertiefungskurs 2013
Abwechslungsreiches Programm am Vertiefungskurs 2013
Quelle: Nuklearforum

Am 2. und 3. Dezember 2013 fand in Olten der jährliche Vertiefungskurs des Nuklearforums statt. Rund 140 Personen waren der Einladung der Kommission für Ausbildungsfragen unter dem Vorsitz von Urs Weidmann, Leiter des Kernkraftwerks Beznau, gefolgt.

Auch die Schweiz hat schon Erfahrungen beim Rückbau

Den Anfang machte Roger Lundmark von swissnuclear mit einem Referat über verschiedene Vorgehensweisen bei der Stilllegung. Er zeigte auf, dass aufgrund der Altersverteilung heute im Betrieb stehender Kernanlagen die Zahl stillzulegender Anlagen in den kommenden Jahren rasch zunehmen wird. Um die damit verbundenen Herausforderungen zu meistern, müsse der Stilllegungsmarkt wachsen. Lundmark lieferte anhand der internationalen Perspektive und der Schweizer Gesetzgebung einen Vergleich verschiedener Stilllegungsstrategien. Grundsätzlich stehen demnach drei Varianten zur Verfügung: «sofortiger Rückbau», «Rückbau nach gesichertem Einschluss» und «sicherer Einschluss ohne Rückbau», wobei letzterer im Schweizer Gesetz nicht vorgesehen ist. Die Gegenüberstellung der ersten zwei Varianten ergibt für beide Vor- und Nachteile. Beim sofortigen Rückbau steht das Personal mit all seinen Kenntnissen der Anlage aus dem Betrieb zur Verfügung und das Gelände kann früher wieder anderweitig genutzt werden. Dafür sind die Abbauarbeiten aufgrund der höheren Strahlenbelastung komplizierter als nach einem gesicherten Einschluss. So ist denn auch der Rückbau nach Einschluss die weniger aufwendige und entsprechend kostengünstigere Option. Dagegen sprechen vor allem der Umstand, dass qualifiziertes Personal nach der Einschlusszeit erst gefunden werden muss, sowie die grösseren Unsicherheiten bezüglich Rechtslage und finanzieller wie auch politischer Situation. Die Schweizer KKW planen den sofortigen Rückbau, können aber unter Umständen auf den Rückbau nach gesichertem Einschluss zurückkommen. Schliesslich ging Lundmark auf einzelne Schritte der Stilllegung ein und zeigte eine mögliche Aufteilung in Arbeitspakete auf.

Im Referat von Hannes Hänggi, Projektleiter Stilllegung beim Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi), wurde klar, dass die Schweiz durchaus Erfahrung mit der Stilllegung und dem Rückbau von Kernanlagen hat. Mit einem Forschungsreaktor an der Universität Genf und dem verunfallten Versuchsatomkraftwerk Lucens sind zwei Schweizer Anlagen schon aus der Kernenergie-Gesetzgebung entlassen worden. Für die Forschungsreaktoren Saphir und Diorit am Paul Scherrer Institut (PSI) liegen die Stilllegungsverfügungen vor. Daneben arbeitet das PSI an der Stilllegung des Proteus-Reaktors und der Versuchsverbrennungsanlage. Hänggi gab einen Überblick über den Stand dieser sechs Projekte und zeigte die jeweiligen Erkenntnisse des Ensi auf, mit einer ausführlicheren Betrachtung des Spezialfalls von Lucens. Da all diese Erfahrungen nur bedingt auf die Stilllegung von Leistungsreaktoren übertragbar sind, ist das Ensi auf den Austausch mit ausländischen Behörden angewiesen. So wirkt es bei der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) und der Nuclear Energy Agency (NEA) der OECD in rund 50 Komitees und Arbeitsgruppen mit. Vor diesem Hintergrund berichtete Hänggi zum Schluss seines Referats über weltweite Erfahrungen und Trends beim Rückbau und Erfolgsfaktoren eines Stilllegungsprojektes.

Planung beginnt schon sehr früh

Der Vortrag von Johannis Nöggerath, Kernkraftwerk Leibstadt, über das Betriebsdauermanagement am Beispiel von Leibstadt begann mit einem geschichtlichen Exkurs. So erfuhren die Teilnehmer, dass schon in den 1980er-Jahren umfangreiche Alterungsmanagementprogramme entwickelt wurden und das Nuklearforum noch unter seinem alten Namen 1991 einen Kurs zum Thema «Wie alt werden Kernkraftwerke?» und 1994 einen zum «Alterungsmanagement bei Kernkraftwerken» durchgeführt hatte. Zu jener Zeit intensivierte sich auch in der Schweiz die Diskussion um Lebensdauer und Betriebsdauermanagement aufgrund des 10-jährigen Kernkraftwerksneubau-Moratoriums sowie der ersten Betriebsdauerverlängerung in den USA. Darauf hatte die Schweiz 1992 als eines der ersten Länder die Alterungsüberwachung ihrer Kernkraftwerke eingeführt. Nöggerath erklärte die Aufteilung des KKL-Betriebsdauermanagements in drei Phasen. Am Anfang stand die Beseitigung von «Kinderkrankheiten» und die Instandhaltung im Zentrum. Verschiedene Beispiele wie die umfassende Modernisierung des Kommandoraums nur wenige Jahre nach Inbetriebnahme zeigen, dass den Betreibern die Bedeutung des Betriebsdauermanagements rechtzeitig bewusst war. In der mittleren Phase werden einerseits umfassendere Ersatz- und Modernisierungsmassnahmen notwendig, andererseits sind zu diesem Zeitpunkt dank der reichen Betriebserfahrung auch grössere Leistungssteigerungen möglich. Ein vorausschauendes Betriebsdauermanagement sorgt dafür, dass gegen Ende der Betriebszeit die Instandhaltungsaktivitäten nicht wesentlich erhöht werden müssen. Unabhängig vom Alter der Anlage ist das Betriebsdauermanagement externen Faktoren wie Unfällen in anderen Anlagen unterworfen. Nöggerath führte aus, dass die Ereignisse in Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima in den Schweizer Kernkraftwerken zu verschiedenen Nachrüstungen führten, da diese Unfälle jeweils einen neuen Stand der Wissenschaft brachten.

Anschliessend zeigte Roland Schmidiger von der Axpo auf, wie sich die Betreiber des Kernkraftwerks Beznau schon heute mit konkreten Fragestellungen der Ausserbetriebnahme und der Stilllegung auseinandersetzen. Schmidiger erklärte verschiedene Phasen und Vorgehensvarianten. Moralische und gesetzliche Verpflichtungen spielen ebenso eine Rolle wie strategische und finanzielle Faktoren. Das Phasenmodell der Axpo sieht für die Stilllegung und den Rückbau von der Planung bis zur grünen Wiese eine Dauer von 16 bis 19 Jahren vor. Der Zeitpunkt und damit auch die Vorbereitungszeit der Stilllegung hängt davon, ob die Anlage aufgrund sicherheitstechnischer und wirtschaftlichen Überlegungen der Betreiber, wegen technischer Probleme oder auf politische Anweisungen ausser Betrieb genommen wird. Je nach Szenario variieren die Möglichkeiten der Planung und die Beeinflussbarkeit der Kosten.

Im letzten Vortrag vor der Mittagspause erfuhr das Publikum, wie Rückbauten im zivilen Nuklearsektor Grossbritanniens vor sich gegangen sind und heute ablaufen. Andrew Munro von der britischen Firma Amec gab einen Überblick über die grosse Erfahrung Grossbritanniens mit der Stilllegung von Nuklearanlagen. Es sei entscheidend, dass die internationale Nuklearindustrie ihren sicheren, verantwortungsbewussten und kosteneffizienten Umgang mit stillgelegten Kernkraftwerken und radioaktiven Abfällen beweisen könne. Grossbritannien werde seine Erfahrungen für die Stilllegung der europäischen und weltweiten Kernanlagen mit der nuklearen Gemeinschaft teilen. In diesem Zusammenhang spielt laut Munro auch Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Rolle. Im Fall Grossbritanniens gilt es, mit verantwortungsvollen Rückbau- und Entsorgungsarbeiten das Vertrauen der Bevölkerung in zukünftige (Neubau-)Projekte zu bewahren.

Besonderheiten und Herausforderungen der letzten Betriebsphase

Der Nachmittag des ersten Kurstages begann mit praktischen Erfahrungen beim Übergang vom Leistungs- zum Nachbetrieb. Der technische Leiter des deutschen Kernkraftwerks Unterweser, Gerd Reinstrom, berichtete aus seinem Werk – eine jener Anlagen, die als Reaktion auf den Fukushima-Unfall frühzeitig ausser Betrieb genommen wurden. Vom Betreiber erforderte die frühzeitige Stilllegungsanordnung Flexibilität und schnelle Reaktionen in den Aktionsfeldern Technik, Organisation und Ressourcen. In Sachen Technik geht es dabei primär um die Minimierung der Betriebskosten und die optimale Vorbereitung auf den Rückbau. Für die organisatorische Überführung in den Stilllegungsbetrieb wurde eine Projektorganisation mit den drei Hauptfeldern Instandhaltung, Überführung in den Nachbetrieb sowie Rückbauplanung und -vorbereitung aufgestellt. Punkto Ressourcen bezeichnete Schmidiger die Sicherstellung des erforderlichen Humankapitals zur Überführung in den Nachbetrieb als eine der wichtigsten und anspruchsvollsten Aufgaben aus Managementsicht. In diesem Zusammenhang musste insbesondere gewährleistet werden, dass die Mitarbeiter die Herausforderungen eines solchen Übergangs annahmen und mittragen. Als direkte und konkrete Empfehlung gab Reinstrom den Teilnehmer mit, dass die vorlaufende Planung in den erwähnten Aktionsfeldern spätestens drei Jahre vor der Abschaltung beginnen sollte.

Die Schweiz blickt mit besonderem Interesse nach Deutschland. Nicht nur wegen des Tempos bei der deutschen Energiewende, sondern auch, weil dort unabhängig davon schon kommerzielle Kernkraftwerke zurückgebaut wurden oder bald zurückgebaut werden. Von den praktischen Herausforderungen der deutschen Nuklearindustrie beim Rückbau handelte denn auch das nächste Referat von Anke Traichel, Nukem Technologies GmbH. In Deutschland wurden schon drei kleinere Kernkraftwerke vollständig zurückgebaut. Seit Inkrafttreten der Atomgesetz-Novelle von 2011 sind rund 20 Kernanlagen ausser Betrieb oder in verschiedenen Stadien der Stilllegung. Da nach den Plänen der Bundesregierung bis 2022 sämtliche deutschen Kernkraftwerke ausser Betrieb gehen sollen, kommen neue grosse Herausforderungen auf die Nuklearindustrie des Landes zu. Eine wichtige Erkenntnis in diesem Zusammenhang ist laut Traichel, dass zwar sehr wohl einzelne Schritte des Rückbaus standardisiert werden können, aber letztendlich der Rückbauprozess für jede Anlage ein individuelles Projekt bleibt. Der jeweilige Projektablauf, die Finanzierung, das Stilllegungskonzept und andere Faktoren sind nicht nur abhängig vom Anlagentyp, sondern auch von der Strategie der Betreiber. Es gibt für jedes der einzelnen Tätigkeitsfelder Optionen und Bausteine, aus denen das Rückbauprojekt zusammengesetzt wird. Aus Traichels Sicht besteht bei Stilllegung und Rückbau ein «eher geringer» Bedarf an Grundlagenforschung. Der Erfahrungsaustausch bleibt dagegen unerlässlich, damit einzelne Verfahren optimiert und weiterentwickelt werden können.

Phasen, Organisationsformen und Motivation

Im folgenden Referat von Michael Kruse von der Beratungsgesellschaft Arthur D. Little und Anton von Gunten, Mitglied der Kraftwerksleitung von Mühleberg, wurde erneut die Wichtigkeit einer frühzeitigen Stilllegungsplanung ersichtlich. Überlegungen und Planungen bezüglich dieser letzten Lebensphase einer Kernanlage sind bereits Jahre vor der eigentlichen Stilllegung nötig. Kruse unterschied drei Entwicklungsstadien der Stilllegung: die «Stilllegungsstrategieentwicklung», die «Stilllegungsplanung» und die eigentliche «Stilllegung», welche Nachbetrieb und Rückbau umfasst. Er stellte die spezifischen Anforderungen an die Organisationsentwicklung der einzelnen Entwicklungsstadien und die damit verbundenen Unsicherheiten vor und zeigte die daraus resultierenden möglichen Organisationsformen auf. Von Gunten erläuterte anschliessend anhand des Beispiels Mühleberg eine mögliche Organisationsform für die Stilllegung im Schweizer Umfeld und deren Erarbeitung. Das Fazit ist klar: Für die erfolgreiche Planung einer Stilllegung muss das Projekt möglichst früh und in der Hierarchie möglichst weit oben in Angriff genommen werden und alle am Projekt Beteiligten müssen ihre Verantwortungen kennen und wahrnehmen.

Den Abschluss des ersten Tages bildete die psychologische Sicht auf die Herausforderungen beim Betriebsende eines Kernkraftwerks, insbesondere im Hinblick auf die Motivation der Mitarbeitenden und das sicherheitsbezogene Wissensmanagement bis zum Ende des Rückbaus. Frank Ritz, Dozent an der Hochschule für Angewandte Psychologie der Fachhochschule Nordwestschweiz, zeigte auf, dass beim Wechsel von der Betriebsphase auf Nachbetrieb und Rückbau auf die Mitarbeitenden enorme strategische, organisationale und motivationale Anstrengungen zukommen. Klassisches Change-Management greift dabei zu kurz, da bei einem Rückbau der eigene Arbeitsort und damit quasi die eigene Existenz beseitigt wird. Das Betonen der Pionierrolle in einer Vision und Strategie kann einen wichtigen Bezugspunkt im Wertesystem der Mitarbeitenden bilden. In diesem Zusammenhang kann Kompetenz im Rückbau auch bei anderen Unternehmen oder gar in anderen Ländern vermarktet werden. Abschliessend zeigte sich auch aus Sicht der Psychologie, dass frühzeitige Planung für einen Rückbau unerlässlich ist.

Voller Kurs-Saal in Olten.
Voller Kurs-Saal in Olten.
Quelle: Nuklearforum

Rechtliche Vorgaben noch nicht vollends klar

Zu Beginn des zweiten Kurstags wurden die schwierigen Fragen des rechtlichen Umfelds von Stilllegungsprojekten erörtert. Dazu nahm zuerst Peter Koch, Leiter der Sektion Kernenergie- und Rohrleitungsrecht beim Bundesamt für Energie (BFE) Stellung. Er nahm vorweg, dass aus juristischer Sicht noch nicht alle Fragen zur Stilllegung von Kernkraftwerken geklärt sind. So schreibt beispielsweise das Kernenergiegesetz (KEG) nicht vor, ob ein Rückbau sofort oder nach gesichertem Einschluss zu erfolgen hat. Die Betreiber sind jedoch verpflichtet, ihre Stilllegungspläne laufend nachzuführen. Koch betonte, dass die Betreiber für alle Stilllegungsschritte verantwortlich sind. Die Nachbetriebsphase ist als Begriff jedoch nicht in der Gesetzgebung verankert. Das BFE versteht sie als Teil der Stilllegung, der von der Ausserbetriebnahme bis zur Rechtskraft der Stilllegungsverfügung dauert. Bis zum Erlangen der Stilllegungsverfügung dürften wegen der doppelten Beschwerdemöglichkeit ans Bundesverwaltungsgericht und dann ans Bundesgericht vier bis fünf Jahre vergehen. Die Betreiber sind gemäss Kochs Fazit gut beraten, das Stilllegungsprojekt Jahre vor der Ausserbetriebnahme einzureichen. Im Idealfall liegt dann die Stilllegungsverfügung zum Zeitpunkt der Ausserbetriebnahme vor.

Auch die Sichtweise des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi) machte klar, dass bei der Stilllegung der Schweizer Kernkraftwerke noch nicht alle Regelwerkdifferenzen bereinigt sind. Der Leiter der Sektion Stilllegung des Ensi, Thorsten Krietsch, umriss den Entwurf der Richtlinie ENSI-G17, die dereinst die Anforderungen für die Stilllegungsverfügung festlegt. Sie ist seit Mai 2013 in der externen Vernehmlassung. Für das Ensi stehen die sicherheitstechnischen sowie die menschlichen und organisatorischen Fragen im Zentrum. Die Stilllegungspläne der Betreiber müssen Varianten enthalten, wobei der Detaillierungsgrad dieser Pläne noch offen ist. Die Phasenunterteilung sollte dem jeweiligen radiologischen Gefährdungspotenzial entsprechen. Der Trend geht dabei zu nur zwei Phasen: mit Kernbrennstoff vor Ort, und kernbrennstofffrei. Die Auflagen der Betriebsbewilligung laufen nach der Ausserbetriebnahme vorerst vollumfänglich weiter, dies allein schon aus Sicherheitsgründen. Über die Richtlinie G-17 wird festgelegt, wie schrittweise einzelne Anlagenteile oder Systeme deklassiert werden können. Rechtliche Risiken bestehen dann, wenn wesentliche Abweichungen von den bewilligten Prozeduren verlangt werden. Eine gewisse Flexibilität ist laut Krietsch bei der Vorbereitung der jeweils übernächsten oder noch späteren Phasen denkbar.

Im folgenden Referat wurden den Vorstellungen der Behörden die «Anforderungen an eine sichere und wirtschaftliche Stilllegung aus Sicht eines Betreibers» gegenübergestellt. Anton von Gunten, Kernkraftwerk Mühleberg, betonte, dass sich die Betreiber ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft auch nach der Ausserbetriebnahme ihrer Werke vollends bewusst sind und dass für sie die Sicherheit auch dann noch oberstes Gebot ist. Die BKW AG ist auch an der Vernehmlassung der Ensi-Richtlinie G17 beteiligt. Es gebe in diesem Bereich noch einigen Klärungsbedarf. Über die zentrale Frage der Sicherheit gibt es indes keine wesentliche Differenz zu den Vorstellungen der Behörden. Unter anderem ist jedoch noch nicht gänzlich geklärt, zu welchen Zeitpunkt der Stilllegung die Betriebsbewilligung erlischt. Nach Auffassung der BKW bleibt sie bis zum Inkrafttreten der Stilllegungsverfügung in Kraft, auch wenn ihre Bestimmungen nach und nach gegenstandslos werden. Eine wichtige Frage ist laut von Gunten auch, was nach der Ausserbetriebnahme als wesentliche Änderung gilt. Für die BKW ist beispielsweise das Ausbauen ohnehin ersetzbarer Einbauten im Reaktordruckbehälter keine wesentliche Änderung. In der Richtlinie G-17 sollte stehen, wie welche Arbeiten vorgezogen werden können, also welche Arbeiten vor der Inkraftsetzung der Stilllegungsverfügung ausgeführt werden dürfen. Zurzeit haben laut von Gunten die Perspektiven für das Personal in Mühleberg die höchste Priorität.

Urs Weidmann führte durch den Kurs.
Urs Weidmann führte durch den Kurs.
Quelle: Nuklearforum

Konkrete Aspekte des Rückbaus

Mit dem Vortrag von Ben Volmert von der Nationalen Genossenschaft zur Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) begann der letzte Block des Kurses zu konkreten Aspekten des Rückbaus. Volmert bot einen «Überblick über die Nagra-Methodik zur Bestimmung der Aktivierungsverteilung in einem KKW im Hinblick auf die Stilllegungsplanung und die Berechnung der Entsorgungskosten». Die jüngste Abschätzung des Aktivierungsinventars geht auf die Kostenstudie von 2011 zurück. Ziel dieser Arbeiten sind laut Volmert materialspezifische Aktivierungskarten der einzelnen Kernanlagen. Diese unterscheiden sich deutlich nicht nur durch den Reaktortyp, sondern variieren insbesondere auch je nach den Betriebszyklen. Im Hinblick auf die Kostenstudie 2016 werden die Modellierungen verfeinert. Allerdings sind dabei die Rechenzeiten enorm und man stösst an die Grenzen der bisherigen Modelle, die mit der sogenannten Monte-Carlo-Methode erstellt wurden. Versuche haben jedoch gezeigt, dass diese Methode die richtige ist und zudem effizienter gerechnet werden kann. Die Aktivierungskarten dienen als Basis für die Wahl der Verpackungsart und damit für die Berechnung der Kosten. Zur Validierung der Berechnungen werden in Gösgen und in Mühleberg Kampagnen mit Bestrahlungsfolien an den kritischen Stellen, zum Beispiel in den Spalten zwischen Reaktordruckbehälter und Bioschild, durchgeführt. Es bleiben deutliche Unschärfen, aber die Methode reicht laut Volmert aus, um konservative Kostenschätzungen zu machen.

Auch der nächste Gast aus Deutschland, Hans Genthner von der Geschäftsleitung der Kraftanlagen Heidelberg GmbH, hob die Herausforderungen hervor, die mit der Stilllegung aller deutschen Kernkraftwerke bis 2022 auf die Nuklearbranche des Landes zukommen. In Deutschland sind drei Kernkraftwerke bereits vollständig zurückgebaut. Zudem befinden sich 16 Kernanlagen in unterschiedlichen Stadien des Rückbaus. In einigen sind Teile wie Kerneinbauten oder Reaktortanks schon ausgebaut. Wie in der Schweiz ist auch in Deutschland nicht vorgeschrieben, ob der Rückbau direkt oder nach sicherem Einschluss zu erfolgen hat. Von den Betreibern der abgeschalteten und der laufenden Anlagen hat sich jedoch bisher keiner für den Rückbau nach Einschluss entschieden. Nach dieser Zusammenfassung der Situation in Deutschland ging Genthner, dessen Unternehmen auch Dienstleistungen im Rückbaubereich anbietet, auf verschiedene strategische und technische Überlegungen aus Sicht von Betreibern wie auch Dienstleistern ein. Danach beschrieb er drei Beispiele von Rückbauten. In Piqua, Ohio, steht ein kleiner Reaktor aus den 1960er-Jahren seit 50 Jahren im Einschluss. In einer Zeitkapsel ist in der Anlage selbst die technische Dokumentation für 120 Jahre eingegossen. Bei der Demontage des Reaktordruckbehälters und des biologischen Schilds des Mehrzweck-Forschungsreaktors in Karlsruhe wurden fernbediente Systeme eingesetzt. Beim Rückbau der Kompakten Natriumgekühlten Kernreaktoranlage (KNK II), ebenfalls in Karlsruhe, mussten wegen des Natriums besondere Massnahmen getroffen werden. Die beiden letzteren Beispiele sind laut Genthner aus technischer Sicht interessant, weil die Strahlenbelastungen deutlich höher waren als bei einem kommerziellen Kernkraftwerk.

Karl Wasinger von der Areva GmbH begann seinen Vortrag mit einem Karl-Valentin-Zitat: «Es ist schon alles gesagt, aber noch nicht von allen.» Trotz dieser Einleitung beinhaltete sein Beitrag wertvolle Einsichten in die Erfahrungen der Areva mit dem Rückbau von Kernanlagen. Wasinger plädierte für den sofortigen Rückbau, insbesondere in einem Kernenergie-Ausstiegsland wie Deutschland. Die Erfahrungen der Areva aus verschiedenen Rückbauprojekten führten zur Definition von sechs Bereichen, die besonders kritisch sind und die Kosten in die Höhe treiben können. Diese Lehren müssen bei der Planung unbedingt berücksichtigt werden. Der direkte Rückbau von innen nach aussen ist zwar laut Wasinger anspruchsvoller als das umgekehrte Vorgehen, dafür sind die meisten nötigen Einrichtungen auf der Anlage noch vorhanden und die Rückbauzeit wird kürzer. Die Areva hat ihre praktischen Erfahrungen aus 40 Jahren Rückbau von Nuklearanlagen aller Art in Prozessoptimierungen zur Elimination von Geldverlustquellen formalisiert. In der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague wurden so bei einem Rückbau die Kosten um 16% reduziert. Auch beim Rückbau eines MOX-Werks in Cadarache konnte sie wesentliche Produktivitätssteigerungen erreichen. Die Wahl der richtigen Strategie – das Richtige zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu tun – ist laut Wasinger wichtiger als die eingesetzte Technik.

Forschung am Zwilag und in Karlsruhe

Uwe Kasemeyer von der Zwischenlager Würenlingen AG (Zwilag) zeigte Dekontaminationstechniken auf, welche bei ihr zum Einsatz kommen. Bisher hat die Zwilag von rund 500 Tonnen angeliefertem Material etwa 300 Tonnen dekontaminiert und für die Rückführung in den normalen Stoffkreislauf frei gemessen. Damit trägt die Zwilag zur Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben gemäss KEG bei. Das KEG fordert nämlich, dass «mit radioaktiven Stoffen so umzugehen ist, dass möglichst wenig radioaktive Abfälle entstehen». Bei der Zwilag kommen sowohl trockene als auch nasse Dekontaminationsverfahren zur Anwendung. Der Vorteil der trockenen Verfahren wie Bürsten, Schleifen oder Fräsen ist, dass dabei vergleichsweise kleine Mengen sekundärer radioaktiver Abfälle entstehen. Diese Abfälle können zudem in der Plasmaanlage konditioniert werden. Da diese Methoden nur auf glatten, ebenen Flächen anwendbar sind, nutzt die Zwilag auch nasse Techniken wie Wasserstrahlen, Ultraschall oder elektrochemische Dekontamination. Hierbei spielt die Form des zu dekontaminierenden Werkstücks fast keine Rolle, jedoch wird die Kontamination ins Abwasser verschoben. Dieses Abwasser muss man wieder aufarbeiten, um letztlich zu konditionierbaren Feststoffen zu kommen. Da diese Verfahren relativ aufwendig sind, werden in anderen Ländern wie zum Beispiel Finnland derartig schwach radioaktive Stoffe, deren Aktivität in 300 Jahren ohnehin auf den Wert des umgebenden Granits abgeklungen ist, gar nicht konditioniert, sondern direkt eingelagert. Zusammenfassend wies Kasemeyer darauf hin, dass Werkstücke freimessbar und Sekundärabfälle konditionierbar sein müssen. Bei der Zwilag wisse man, wie das zu bewerkstelligen sei, und arbeite an der konkreten Umsetzung.

Das letzte Referat des Vertiefungskurses 2013 war ein Exkurs in die Forschung im Bereich des Rückbaus von Nuklearanlagen. Sascha Gentes, Leiter der Abteilung Technologie und Management des Rückbaus kerntechnischer Anlagen (TMRK) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), stellte verschiedene Forschungsthemen und Versuche vor. Alle TMRK-Projekte werden in Zusammenarbeit mit Industriepartnern ausgeführt, um ihre Praxistauglichkeit sicherzustellen. Die beteiligten Studierenden finden denn auch in der Regel direkt eine Anstellung in der Industrie. Am TMRK wurden neue Trennverfahren für aktivierte Stahl- und Betonstrukturen entwickelt, oder – in Zusammenarbeit mit einer Tunnelbaufirma – die Zerkleinerung von massigen, mit Stahl bewehrten Betonstrukturen. Weitere Themen sind die Verbesserung von Abschleifwerkzeugen, die auch bei Asbestsanierungen zum Einsatz kommen können, Freimessgeräten, Dekontaminationstechnologien für Rohrleitungen der Erdölindustrie wie auch die Übertragung von Baumanagementmethoden auf Rückbauprojekte. Abschliessend hielt Gentes fest, dass der Rückbau von Nuklearanlagen heute aus technischer Sicht sicher durchführbar ist. Trotzdem gebe es noch Optimierungs- und Forschungsbedarf. Die Projekte seiner Abteilung am KIT führen laut Gentes zu einer höheren Leistung beim Rückbau, zur Verringerung von Sekundärabfall und zu einer Arbeitserleichterung für das eingesetzte Personal.

Mit einer kurzen Zusammenfassung der beiden Kurstage schloss Urs Weidmann die Veranstaltung ab und verabschiedete das Publikum mit der Ankündigung des nächsten Vertiefungskurses. Dieser wird voraussichtlich im November 2014 in Olten stattfinden und ist dem Thema «Sicherheitsmargen in Kernkraftwerken» gewidmet.

Quelle

M.Re.

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