Bildung, Wissen und Kompetenz - Rohstoff Nummer 1 der Hochtechnologie Kernenergie

Gastreferat von Prof. Horst-Michael Prasser anlässlich der 2. Generalversammlung des Nuklearforums Schweiz vom 28. Juni 2006 in Bern.

27. Juni 2006
Horst-Michael Prasser
Horst-Michael Prasser
Quelle: Nuklearforum / Michael Schorer

Kernenergie ist eine Hochtechnologie. Ein relativ preiswerter und kaum anderweitig genutzter Rohstoff wird in einer Kette von Veredelungsschritten in das Produkt Elektrizität umgewandelt. Die Kenenergie basiert wie kaum eine andere Technologie auf Know-how, das gleichermassen breit wie tief angelegt ist. Kernenergiesysteme erfordern umfangreiches Wissen, das interdisziplinär strukturiert ist und gleichzeitig weit ins Detail der einzelnen Disziplinen geht. Von der Geologie und praktischem bergbaulichem Know-how - an beiden Enden des Kernbrennstoffzyklus essentiell - über die Metallurgie, die Werkstoffkunde, die Chemie bis in die zentralen Bereiche der Kern-, Neutronen- und Reaktorphysik, der Thermofluiddynamik, der Reaktortechnologie bis hin zu Gebieten wie dem Strahlenschutz und der biologischen Strahlenwirkung erstreckt sich das Spektrum. Einen nicht unerheblichen Teil macht dabei die Sicherheit aus, ein Bereich, dem im Fall der Kerntechnik besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss.

Zunehmender Mangel an Nachwuchs

Bildung, Wissen und Kompetenz ist für eine solche Hochtechnologie der Rohstoff Nummer 1. In allen Bereichen der Kerntechnik wird in den nächsten Jahren ein Generationswechsel stattfinden. Durch die lang anhaltende Kontroverse um die Kerntechnik als Bestandteil eines zukünftigen Energiemix und einem generellen Mangel an Popularität technischer Fächer ist es beim Nachwuchs zu einer Versorgungslücke gekommen, die zunehmend zur Kenntnis genommen wird. Dies zieht sich durch bis an die Spitze der Bildungspyramide: In Deutschland gab und gibt es beispielsweise ein langes Ringen von drei Berufungskommissionen um die richtige Besetzung von kerntechnischen Professuren in Stuttgart, München und Dresden. Aber auch Industrieunternehmen wie Areva NP, vom Aufschwung der Kerntechnik erfasst, haben Probleme, ihre freien Stellen adäquat zu besetzen - von der Schwierigkeit, geeignete Mitarbeiter und Doktoranden für die Forschung zu finden, ganz zu schweigen. Die Probleme machen auch vor der Schweiz nicht halt und werden alle Bereiche, also nicht nur die bestehenden Kernkraftwerke, erfassen.
Es ist jedoch nicht nur der Generationswechsel beim Personal, den es zu bewältigen gilt, sondern auch der Generationswechsel bei den Kernkraftwerken selbst. Wenn die Kernenergie in der Schweiz auch in Zukunft eine der beiden tragenden Säulen der Stromversorgung bilden soll, muss in den nächsten Jahren ein Neubau vorbereitet und durchgezogen werden. Dafür sind so schnell wie möglich Hochschulabgänger erforderlich, die mit den neuesten Entwicklungen vertraut sind und die Zeit haben, sich vor der Übernahme grösserer Verantwortung ihre Sporen in Forschung, nuklearer Dienstleistung oder in der Industrie zu verdienen. In der Forschung geht es langfristig um die weitere Erhöhung des Sicherheitsniveaus, die Erhöhung der Effektivität, die Erweiterung des Kernbrennstoffzyklus zur Verwendung bisher nicht oder kaum genutzter Kernbrennstoffanteile und zur Abfall-minimierung. Weiterhin sind die Nutzung der Kernenergie über die Stromerzeugung hinaus zur Erzeugung synthetischer Brennstoffe und zur Prozesswärmebereitstellung sowie die Kernfusion die Ziele von Forschung und Entwicklung in Gegenwart und Zukunft. Hier leistet die Schweiz, eingebettet in europäische und weltweite Forschungsprogramme, einen originären Beitrag und auch hierfür wird Nachwuchs benötigt.

Breit abgestützte Aus- und Weiterbildung nötig

Es ist richtig, dass insbesondere für die Versorgung der Kraftwerke nicht immer ein kerntechnischer Abschluss erforderlich ist. Die Praxis zeigt, dass in vielen Fällen Ingenieure bzw. Fachleute mit Bachelor- und Masterabschlüssen aus anderen technischen Disziplinen speziell auf die Bedürfnisse des jeweiligen Fachbereichs zugeschnitten eingesetzt und für die speziellen Aufgaben im Kernkraftwerk weitergebildet werden können. Die Komplexität des Energieumwandlungsprozesses, insbesondere im Hinblick auf die Sicherheit, erfordert jedoch einen ausreichenden Anteil von Personal, speziell für Leitungsfunktionen, (aber nicht nur), die einen Hochschulabschluss aufweisen, welcher der Breite des in der Kerntechnik relevanten Wissens gerecht wird. Das ENEN, das European Nuclear Education Network, fordert beispielsweise für die Erlangung des «European Master of Science in Nuclear Engineering» eine profunde Abdeckung der folgenden Fachgebiete: Reaktortechnik, Reaktorphysik, nukleare Thermohydraulik, Sicherheit und Zuverlässigkeit von kerntechnischen Anlagen, Materialien der Reaktortechnik, Radiologie und Strahlenschutz, Kernbrennstoffzyklus und angewandte Radiochemie. Die Kernenergie hat einen sehr hohen Sicherheitsstandard. Dennoch hat es Störfälle gegeben, die schmerzliche Verluste zur Folge hatten und der Kernenergie weltweit grossen Schaden zugeführt haben. Sie weisen alle einen hohen Anteil «Faktor Mensch» auf und wären oft vermeidbar gewesen, wenn die beteiligten spezialisierten Fachkräfte und leitenden Mitarbeiter einen Gesamtüberblick der genannten, verzahnten Einzeldisziplinen abrufbar gehabt hätten. Hier erkennt man die Bedeutung von umfassender kerntechnischer Bildung besonders deutlich.
Die Entscheidung, die Hochschulausbildung auf dem Gebiet der Kerntechnik in der Schweiz anzukurbeln, ist somit notwendig und richtig. Sie fällt mitten in die Zeit der Umstellung von den bisherigen Diplomstudiengängen zum dualen System von Bachelor und Master, auch als Bologna-Prozess bekannt. Im Juni 1999 unterzeichneten die Bildungsminister von 29 europäischen Staaten die so genannte Bologna-Erklärung zur Schaffung eines europäischen Hochschulraumes bis zum Jahre 2010 und zur Stärkung der weltweiten Wettbewerbsfähigkeit Europas als Bildungsstandort. Die wichtigsten Elemente der Reform sind die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen anstelle des Diploms, die Schaffung einer Vergleichbarkeit der Studienabschlüsse durch Definition des European Crédit Transfer Systems (ECTS) sowie die Gewährleistung der nationalen und internationalen Anerkennung der Studienabschlüsse durch Evaluation und Akkreditierung. Der Bachelor soll ein erster berufsqualifizierender Abschluss sein, der es einer Absolventin oder einem Absolventen ermöglicht, in das Arbeitsleben einzutreten oder aber das Studium durch einen Master weiter zu vertiefen. Damit wird die Voraussetzung für eine nachfolgende Promotion als dritten Zyklus der Bologna-Architektur geschaffen. Im Hinblick auf die Akzeptanz des Abschlusses auf dem Arbeitsmarkt entspricht der Master weitgehend dem früheren Diplom.
Im Fall der Kerntechnik ist es sinnvoll, keinen eigenen universitären Bachelorstudiengang anzubieten. Gerade aufgrund des interdisziplinären Charakters ist vorgesehen, sich auf einen Master-Studiengang Kernenergiesysteme zu konzentrieren, der Dank der Modularität der Studienprogramme von Studierenden mit unterschiedlichem Bachelorabschluss belegt werden kann, also z.B. neben Absolventinnen und Absolventen des Bachelors Maschineningenieurwissenschaften auch von solchen aus Gebieten wie Physik, Chemieingenieurwissenschaften, Erdwissenschaften, Interdisziplinäre Naturwissenschaften und Mathematik. Der Master in Kerntechnik wird auf drei Semester ausgelegt. Er beginnt nach einem dreijährigen Bachelorstudium im 7. Semester und wird zwei Semester normalen Studienbetrieb umfassen. Das dritte Semester wird für ein wissenschaftliches Projekt reserviert sein, das in der Masterarbeit gipfelt.

Gemeinsamer Masterstudiengang in Kerntechnik: ein Novum für die Schweiz

Entscheidendes Novum ist das gemeinsame Agieren von ETHZ und EPFL Hierdurch wird das an beiden Hochschulen verfügbare Potenzial optimal verknüpft: An der EPFL ist traditionsgemäss die Reaktorphysik und die nukleare Materialkunde angesiedelt. Dort existieren mit dem Unterrichtsreaktor CROCUS exzellente Möglichkeiten für den Einbezug praktischer Elemente in die Ausbildung. Nicht zuletzt ergibt sich eine ideale Kopplung dieses Profils mit der Lehre und Forschung auf dem Gebiet der Kernfusion, die zusammen mit einem Kurs Beschleunigertechnik in den Masterkurs einbezogen wird. Demgegenüber sind es die reaktortechnischen, thermohydraulischen, sicherheitstechnischen Aspekte und die Entsorgung, die von der ETHZ eingebracht werden können. In beiden Fällen besteht eine Kopplung mit dem PSI, das mit seiner wissenschaftlichen Infrastruktur die Basis für die Durchführung des Masterprojekts im 9. Semester bildet, aber auch mit kompetenten Mitarbeitern über Lehrbeauftragungen direkten Anteil am Unterricht haben wird. Langfristig könnten auch Praktika und Kurse in Zusammenarbeit mit der Reaktorschule und der Strahlenschutzschule am PSI einbezogen werden, die dann entsprechend den Anforderungen der Akkreditierung ertüchtigt werden müssen.
Besondere Bedeutung haben Praktika, die es den Studierenden ermöglichen, den Umgang mit experimentellen Einrichtungen und Forschungsreaktoren hautnah zu erleben. Theoretischer Unterricht, auch unter Nutzung moderner Simulationsinstrumente wie Simulationssoftware am PC kann diesen direkten Kontakt nicht ersetzen. Ein Reaktorpraktikum schafft mehr als Wissensvermittlung: Es baut eine emotionelle Bindung zur Materie auf, trainiert den verantwortlichen Umgang mit Kerntechnik und schärft den Blick für Sicherheitskultur. In diesem Sinn kann das Praktikum an CROCUS nicht hoch genug bewertet werden.
Die gemeinsame Einrichtung eines Masterstudienganges an den Hochschulen in Lausanne und Zürich ist ein Novum. Dabei werden neue Organisationsformen zu finden sein, die die Studierenden in die Lage versetzen, das höhere Mass an Mobilität und Flexibilität, das damit einhergeht, aufbringen zu können. Hier ist Unterstützung von Nöten, die den Studierenden von vornherein das Gefühl der Geborgenheit in der Community des zukünftigen Arbeitsumfelds gibt. Es darf nicht vergessen werden, dass das neue Masterprogramm mit der Anzahl der Studienbewerber steht und fällt. Gerade mit dem Bologna-Prozess werden die Hochschulen zunehmend zum Dienstleister für den Kunden Student, der sich sein Studienprogramm weitgehend flexibel zusammenstellen kann. Hier darf die Aufteilung des Unterrichts auf zwei Orte nicht als zusätzliche Belastung empfunden werden. Es sollte vielmehr der Gewinn an Horizont und Flexibilität klar in den Vordergrund treten, indem den Studierenden Erleichterungen, wie Erstattung von Fahrt- und/oder Unterkunftskosten gewährt werden.

Einbindung weiterer Partner

Aber auch an anderer, wichtigerer Stelle ist der neue Master eine Herausforderung an die nukleare Community. Die Industrie, die Forschungseinrichtungen und nach Möglichkeit auch die Genehmigungsbehörde sind gefragt, wenn es um die Durchführung von Kursprojekten und dem bereits genannten Masterprojekt geht. Die Bearbeitung interessanter Themenstellungen unmittelbar in diesen Einrichtungen -selbstverständlich mit Betreuung durch einen Hochschullehrer - führt die Studierenden frühzeitig an praxisrelevante Probleme heran, schafft Bindungen zu eventuellen späteren Arbeitgebern und bietet letztlich auch den gastgebenden Einrichtungen Vorteile, auch wenn die Betreuung vor Ort zunächst einmal mit Mehraufwand verbunden ist. Auch bei der Durchführung attraktiver Besichtigungsprogramme, die sich in die Vorlesungszyklen einordnen, wäre Unterstützung wünschenswert. Ein wichtiger Punkt ist diesbezüglich die Kompatibilität des Masterprogramms mit dem «European Master of Science in Nuclear Engineering». Mit dem in drei Semestern erworbenen Abschluss des geplanten «Master in Nuclear Engineering» werden 90 Kreditpunkte des European Crédit Transfer Systems erworben. Masterstudenten kommen folglich zusammen mit den im Bachelorstudium erworbenen 180 Kreditpunkten auf 270 Punkte, während eine Zertifizierung durch ENEN 300 Punkte erfordert. Studierenden, die Wert auf diese Zertifizierung legen, sollten von vornherein Möglichkeiten angeboten werden, zusätzliche Kreditpunkte zu erwerben. Das können postgraduale Kurse, zusätzliche Forschungspraktika an ausländischen Universitäten, aber auch eine zweite wissenschaftliche Arbeit nach dem Masterprojekt sein, die sich mit industriellen Fragestellungen beschäftigt. Zeitweilige Studien im Ausland haben dabei einen hohen Stellenwert, da das ENEN ohnehin den Erwerb von mindestens 20 Kreditpunkten in einem anderen Land zur Bedingung macht.

Zeitplan des neuen Studiengangs

Es wird angestrebt, den gemeinsamen Studiengang «Master in Nuclear Engineering» von ETHZ und EPFL im Wintersemester 2007/08, spätestens jedoch im Wintersemester 2008/09 zu starten. Schon jetzt findet die detaillierte Planung und Koordinierung zwischen ETHZ, EPFL und PSI statt. Im Rahmen des laufenden Physikstudiums werden an der EPFL seit längerem die Grundzüge der Neutronenphysik und Reaktortechnik einschliesslich des Reaktorlabors CROCUS angeboten. An der ETHZ ist die Vorlesung Reaktorsicherheit Bestandteil des Masterstudiengangs Maschinenbau. Zusammen mit Postgradualkursen für Doktoranden zu Materialen in der Kerntechnik sowie zu Radioisotopen und nichtenergetischen Anwendungen - organisiert von der EPFL in Zusammenarbeit mit dem PSI -bilden solche Lehrangebote den Grundstock für entsprechende Vorlesungen im Masterstudiengang. Im Wintersemester 2006/07 wird an der ETHZ ein Zyklus Kernenergiesysteme hinzukommen, der zunächst in das Masterprogramm Maschinenbau eingeordnet ist. Darüber hinaus ist wegen der Vielfalt der nuklearspezifischen Fächer eine weitere Stärkung des Lehrkörpers erforderlich. Dies ist nicht zuletzt auch notwendig, um mit der Einrichtung des neuen Masterstudiengangs die langjährigen Bemühungen um eine nukleare Grundversorgung in den Studiengängen Physik und Maschineningenieurwesen nicht aus Mangel an Lehrkräften in Frage zu stellen. Elemente der Einführung in kerntechnische Fragestellungen in diesen Studiengängen tragen wesentlich zur Versorgung mit Absolventinnen und Absolventen und zu einem positiven Image der Kerntechnik in der Schweiz bei.
Der neue Studiengang ist auf ca. zehn Abschlüsse pro Jahr ausgerichtet. Ob diese Zahl erreicht werden kann, hängt jedoch nicht nur von der Qualität des angebotenen Programms ab, sondern wesentlich vom Image der Kerntechnik. Hier sind vielfältige Initiativen zu ergreifen, um Bachelor-Studierenden zu erreichen, sie von den Vorzügen und der Leistungsfähigkeit der Kernenergie zu überzeugen und ihr Interesse zu wecken. Dies geschieht beispielsweise durch die Übernahme von Lehrveranstaltungen durch den Bachelor-Studiengang Maschineningenieurwesen oder durch separate Vorträge und Teilnahme an Diskussionsforen, auch ausserhalb der Universität.

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