Stromnetze: Forschung und Zukunftsvisionen

Das erste Schweizer Energietechnikforum vom 21. August 2007 in Bern, organisiert von Electrosuisse, befasste sich mit folgenden Fragen: 1. Wie können in der Schweiz Lehrstühle für elektrische Energietechnik langfristig gesichert und ausgebaut werden? Welche Anforderungen stellen Industrie und Hochschulen an Forschung und Lehre? 2. Welche Forschungsschwerpunkte setzt der Bund und welche Fördermittel stehen zur Verfügung? 3. Wie sieht die Energiezukunft der Schweiz im Jahr 2035 aus?

21. Okt. 2007
Maurice Jacot, Präsident der Electrosuisse: «Die Elektrobranche muss grosse Herausforderungen bewältigen.»
Maurice Jacot, Präsident der Electrosuisse: «Die Elektrobranche muss grosse Herausforderungen bewältigen.»
Quelle: Electrosuisse

1. Herausforderung: die Hochschulen und der Ingenieurnachwuchs

Die Referenten aus Hochschulkreisen und aus der Industrie waren sich einig: Wollen wir unseren Lebensstandard halten und verbessern, benötigen wir genügend umweltfreundliche Energie zu angemessenen, stabilen Kosten und zu vertretbaren Risiken. Der Nachwuchs an Fachleuten wird eine wichtige Voraussetzung sein, um dieses Ziel zu erreichen. Die Lage ist beunruhigend, denn in der Schweiz und in Europa herrscht Mangel an Ingenieuren. Es werden grosse Anstrengungen nötig sein, um Studierende für die Studiengänge im Energiebereich zu gewinnen und Ingenieure auszubilden.

Hubert Sauvain (Professor der Fachhochschule Freiburg) schlägt vor, steuerliche Anreize für Unternehmen zu schaffen, die Forschungs- und Lehrprojekte an den Hochschulen finanzieren.

Klaus Fröhlich (Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich - ETHZ) weist auf die neuen Bedürfnisse in Forschung und Lehre im Zusammenhang mit der jüngsten Entwicklung bei den Stromsystemen hin, nämlich der Öffnung der Märkte und der massiven und stochastischen Einspeisung von Windstrom: Sicherstellung der Netzstabilität, Entwicklung von noch leistungsfähigeren Formen der Stromübertragung über grosse Distanzen und von Stromspeicherverfahren sowie Bewältigung der akuten Nachwuchsprobleme.

Für Alfred Rüfer (Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne - ETHL) sollten die ETH und die Fachhochschulen eine Energie-Grundausbildung auf Bachelor-Stufe sowie eine Fachausbildung auf Master-Stufe in Zusammenarbeit mit der ETHL, der ETHZ, dem Paul Scherrer Institut (PSI) und den Universitäten anbieten. Ein Schlüsselelement wird die Kooperation innerhalb des Dreiecks Hochschulen - Industrie - Stromunternehmen sein.

Gabrielle Gabrielli (ABB Schweiz) und Tony Kaiser (Alstom Schweiz und Präsident der Eidgenössischen Energieforschungskommission CORE) läuten die Alarmglocke: In der Energieindustrie herrscht bereits ein akuter Ingenieurmangel. (J.D.)

2. Herausforderung: die Energieforschung

Für Tony Kaiser sind die grossen Probleme bekannt: Erschöpfung der Reserven, Luftverschmutzung, CO2 und Klimaveränderung, Geopolitik der Ressourcen und schwankende Preise. Sie werden alle von den fossilen Energieträgern verursacht. In diesem Zusammenhang hat die CORE ein Road-Map-Projekt ausgearbeitet, das sowohl eine Reduktion des Gesamtenergieverbrauchs als auch eine Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energieformen anstrebt. Die CORE empfiehlt für den Zeitraum 2008-2011 eine Erhöhung der Forschungsbudgets um 10 bis 25% im Bereich der Energieeffizienz und eine Reduktion dieses Budgets um 2 bis 4% im Bereich der Kernspaltung und Kernfusion.

Thilo Krause vom Bundesamt für Energie (BFE) präsentiert «Netze», eines der zahlreichen Forschungsprojekte der CORE. Hauptthemen: stochastische Einspeisung von Wind- und Solarstrom in grossen Mengen, Engpässe in Verbindung mit der Zunahme der Energieflüsse in Europa, Alterung der Infrastruktur und erhöhte Sensibilisierung von Stakeholdern für ökologische, ökonomische und soziale Aspekte.

3. Herausforderung: die Versorgungssicherheit

Walter Steinmann, Direktor des BFE, präsentiert die Energieperspektiven des Bundes: Alle Szenarien gehen von einem Energiemangel aus - selbst bei Verwirklichung der 2000-Watt-Gesellschaft. Die politische Debatte rund um den Strommangel, der sich durch die steigende Nachfrage und die Abschaltung der heutigen Kernkraftwerke aus Altersgründen ergeben wird, verschärft sich. Eine Arbeitsgruppe «Leitungen und Versorgungssicherheit» wird beauftragt werden, sich mit den Engpässen und der Verfügbarkeit der Energie zu befassen.

Niklaus Zepf von Axpo analysiert die vier grundlegenden Optionen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten: Energieeffizienz, erneuerbare Energien, fossile Energie (Gas) und Kernenergie. Das theoretische Potenzial und das realistische Potenzial jeder Option wird anhand neuerer Studien, insbesondere des PSI und der ETH, systematisch beurteilt. Sein Fazit: Alle Optionen sind nützlich und auch notwendig. Energieeffizienz und erneuerbare Energien allein können die Versorgungssicherheit nicht gewährleisten. Weitere Erkenntnisse: Der Stromverbrauch steigt trotz verbesserter Energieeffizienz, bereits im Jahr 2012 könnte Strom fehlen; die wachsenden Kapazitätsengpässe des europäischen Übertragungsnetzes machen Importe immer riskanter; das Potenzial der neuen erneuerbaren Energieformen ist im massgeblichen Zeithorizont von 30-40 Jahren beschränkt und ihre Kosten werden trotz möglicher Verbesserungen hoch bleiben; die Kernenergie weist im Vergleich zu Gas einen grossen Kosten- und CO2-Vorteil auf. In Bezug auf die Wasserkraft hat das Potenzial die Obergrenze weitgehend erreicht: Eine Erhöhung der Spitzenleistung durch den Ausbau der Pumpspeicherwerke ist möglich und vielleicht interessant, erfordert aber Energie, die noch nicht gefunden ist.

Maurice Jacot (Präsident der Electrosuisse) erinnert daran, dass der Anteil von Windenergie und Photovoltaik erst 0,014 bzw. 0,033 % des schweizerischen Energieverbrauchs beträgt. Er fasst die verschiedenen Herausforderungen zusammen, die auf die Elektrizitätsunternehmen zukommen, und geht davon aus, dass der Bürger als Kunde hier eine Schlüsselposition einnimmt. Er sollte von der Elektrizitätsbranche als Partner behandelt und in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen gestellt werden. Der sozialdemokratische Nationalrat

Rudolf Rechsteiner präsentiert den Standpunkt eines überzeugten Atomkraftgegners. Seine Argumentation ruht auf zwei Standbeinen: den Nachteilen der Kernenergie und dem bei weitem ausreichenden Potenzial des Tandems Energieeffizienz - erneuerbare Energien. Nachteile der Kernenergie: die Sicherheit (Tschernobyl, Attentate vom 11. September 2001), das «unlösbare» Abfallproblem, die durch die Strahlung verursachten Krebserkrankungen, die beschränkten Uranreserven, die hohen Kosten (neue Kernkraftwerke teurer als Wind!). Das Potenzial des Tandems Effizienz - erneuerbare Energien: Es sind erhebliche Verbrauchsreduktionen möglich; das Wachstum der installierten Leistung aus Windenergie ist zum Beispiel in Deutschland hoch und die Kosten sinken schnell. Das einzige Problem, das Rudolf Rechsteiner gelten lässt: Der Wind bläst nicht immer und nicht überall. Seine Lösung: massiv Gleichstrom-Übertragungsleitungen für 1 bis 5 GW Leistung quer durch Europa bauen, um die Windschwankungen auszugleichen.

Stefan Rechsteiner (Anwaltsbüro Fischer) analysiert die vorgesehenen Bestimmungen im Stromversorgungsgesetz (StromVG), das die Versorgungssicherheit gewährleisten soll. Die hohe Sicherheit in der Vergangenheit war auf die Investitionssicherheit zurückzuführen, die das Monopol bewirkt hatte. Nun ist es aber nicht so einfach, eine vom System gegebene Sicherheit durch gesetzliche Bestimmungen zu ersetzen. Eine der von Stefan Rechsteiner aufgezeigten Schwierigkeiten: Die Aufteilung von Transport und Produktion auf voneinander unabhängige Gesellschaften (Unbundling) kann die Investitionen gefährden. In vielen Fällen ist es nämlich technisch möglich, nach Wahl in den Transport oder in die Verteilung zu investieren. Problem: Weder der Markt noch der Staat sagt, welches der richtige Weg ist, und die Investoren der Bereiche Produktion und Transport decken sich nicht. Ergebnis: Diese Ungewissheit kann den Anreiz zu Investitionen bremsen. Das neue Gesetz wird jedoch den Vorteil haben, eine Gesetzeslücke zu schliessen, die durch die vom Bundesgericht durchgesetzte Öffnung des Marktes entstanden ist. (J.D.)

Diskussion

Die erste Herausforderung - Nachwuchs und Lehre - führte zu keinen grossen Diskussionen. Alle Referenten waren sich weitgehend einig: Die Nachwuchsförderung im Energiebereich ist unerlässlich und wird noch grössere Anstrengungen bei den Investitionen in Lehre und Forschung an den Hochschulen erfordern.

Die zweite Herausforderung - Prioritäten in der Energieforschung - gab keinen Anlass zu Kontroversen. Die Stellungnahme des Bundesrats vom 21. Februar 2007 hat eine positive Wirkung: Alle Energieoptionen einschliesslich Kernenergie stehen zur Debatte. Man kann sich allerdings Fragen stellen zum allgemeinen Konsens der CORE, die Budgets für die Bereiche Effizienz und erneuerbare Energien zu erhöhen und jene der Kernenergiebereiche Spaltung und Fusion zu reduzieren. Die dem Bund nahe stehende CORE will sich offenbar politisch korrekt verhalten und an die Haltung unseres Energieministers Moritz Leuenberger anlehnen, der nicht viel dafür tut, dass die Option Kernkraft alle Leistungen erbringen kann, zu denen sie in der Lage ist. Die Kernenergie weist in Sachen technischer Fortschritt und CO2-Reduktion ein bedeutendes Potenzial zu geringsten Kosten auf. Sie verdient keine Budgetreduktion.

Am grössten ist die Kontroverse bei der dritten Herausforderung: der Versorgungssicherheit. Hier sind diametral entgegengesetzte Standpunkte zu verzeichnen, wie dies die Referate von Niklaus Zepf und Rudolf Rechsteiner zeigen. Auf der einen Seite die von Niklaus Zepf verwendeten Zahlen, die auf anerkannten Studien des PSI und anderer renommierter internationaler Forschungszentren beruhen. Auf der anderen Seite aus der Luft gegriffene Zahlen oder nicht auf Zahlen fussende qualitative Werturteile, mit denen sich die meisten Fachleute nicht identifizieren können. Und viele Halbwahrheiten und Unterschlagungen von Tatsachen. Unterschiede auch im Stil und Ton. Niklaus Zepf zeigte anhand von Fakten differenziert das Für und Wider aller Optionen auf. Rudolf Rechsteiner bediente sich eines sehr aggressiven Tons, um die Kernenergie und die Elektrizitätsunternehmen zu verteufeln.

In dieser Hinsicht war die nachfolgende Diskussion aufschlussreich. Unter der Leitung eines Journalisten begann sie mit mehreren Beiträgen der zahlreich anwesenden Spezialisten für Stromnetze, darunter Professor Klaus Fröhlich von der ETHZ, der darauf hinwies, Rudolf Rechsteiner würde zu Unrecht die sehr realen Schwierigkeiten des Netzmanagements herunterspielen, die sich in Deutschland durch die massive stochastische Einspeisung von Windstrom ergeben. Die Spezialisten untermauerten ihre Standpunkte mit fundierten Kenntnissen. Lautstarke Reaktion des moderierenden Journalisten, der «diese Herren Wissenschaftler» aufforderte, mit ihren technischen Argumenten zurückzustecken, denn diese seien seiner Ansicht nach nicht brauchbar gegenüber einem Politiker, der mit Ideen kommt …

Es bleibt zu sagen, dass die Meinungen zwar frei, die Fakten aber heilig sind. Wer die Fakten nicht prüft, riskiert, dass die Vorurteile mehr Gewicht erhalten als die Realität. (J.D.)

Quelle

Alle Vorträge können von www.electrosuisse.ch/etg heruntergeladen werden.

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