Wirbel um radioaktives Cäsium im Bielersee

Geologen haben in Sedimenten im Bielersee erhöhte Cäsiumkonzentrationen festgestellt. Der Fund führte zu einer hitzigen Debatte um Gefährdung, Verantwortung und Kontrolle. Für Kernenergiegegner und Teile der Presse war von vornherein klar: Das Cäsium-137 stammt aus dem Kernkraftwerk Mühleberg.

12. Aug. 2013
Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) zur Meldung, im Bielersee sei «überraschend» das Cäsium-137-Isotop gefunden worden: «Dieser Fund ist weder überraschend noch gefährlich. Es hat keine ‹unbemerkten Abgaben› von Cäsium in die Aare gegeben.» Das Ensi stellt weiter klar: «Radioaktive Isotope wie das Cäsium-137 können im Sediment aller Seen der Schweiz nachgewiesen werden. Die Quellen dafür sind vielfältig.»
Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) zur Meldung, im Bielersee sei «überraschend» das Cäsium-137-Isotop gefunden worden: «Dieser Fund ist weder überraschend noch gefährlich. Es hat keine ‹unbemerkten Abgaben› von Cäsium in die Aare gegeben.» Das Ensi stellt weiter klar: «Radioaktive Isotope wie das Cäsium-137 können im Sediment aller Seen der Schweiz nachgewiesen werden. Die Quellen dafür sind vielfältig.»
Quelle: Michael Schorer

Schon alleine der Titel der vermeintlichen Skandalenthüllung auf der ersten Seite der «Sonntagszeitung» vom 14. Juli 2013 verdeutlichte eine tief verwurzelte Problematik bei der Kommunikation über radioaktive Stoffe und Strahlenschutz: «Radioaktivität im Bielersee entdeckt». Diese Aussage an sich dürfte eine Mehrheit der Leserschaft aufgeschreckt haben – insbesondere in der Stadt Biel, da diese fast 70% ihres Trinkwassers aus dem See bezieht. Bei Leuten, die sich schon vertiefter mit dem Thema befasst hatten, sollte der Titel eigentlich sofort die Frage «Ja, wie viel denn?» auslösen. Denn Radioaktivität ist in geringem Ausmass ein ebenso ständiger Begleiter im Alltag wie Sonnenlicht, Wind und Regen – ein natürliches Phänomen, das jedoch sowohl bei der Durchschnittsbürgerin und beim Durchschnittsbürger als auch in manchen Redaktionen kaum bekannt zu sein scheint. Dieses fehlende Wissen kam auch bei Sandra Gurtner-Oesch zum Ausdruck, der Generalsekretärin der Grünliberalen Schweiz. Eine gute Woche nach Erscheinen des erwähnten Artikels forderte sie im «Politblog» von Newsnet «garantiert radioaktivitätsfreies Trinkwasser» – immerhin unter dem Titel «Ja, ich schwimme im Bielersee».

Werte tiefer als Radioaktivität im Erdboden

Doch zurück zur «Sonntagszeitung» und damit zum Ursprung des medialen Wirbels. Schon 2010 hatten Forschende aus Genf zufällig im Bielersee Cäsiumablagerungen aus dem Jahr 2000 entdeckt, als sie anhand von Sedimentschichten die Aare-Hochwasser der letzten Jahrzehnte erforschen wollten. Was das Blatt zusammen mit «Le Matin Dimanche» Mitte Juli 2013 «publik» machte, war für den Fraktionsvorsteher der Grünen Antonio Hodgers schon im März des gleichen Jahres Anlass für eine Frage an den Bundesrat gewesen. Dieser Umstand blieb auch in der «Sonntagszeitung» nicht unerwähnt. Die Zeitung betonte jedoch, dass sie im kantonalen Labor von Basel-Stadt «einen zweiten Sedimentkern untersuchen» liess, in dem die erhöhte Cäsiumkonzentration ebenfalls festgestellt wurde. Diese zweite Überprüfung muss man dem Blatt ebenso zugutehalten wie die Tatsache, dass im Artikel «angefragte Fachleute» zu Wort kamen und Entwarnung gaben. «Ich würde dieses Wasser, ohne zu zögern trinken», wurde François Bochud, Direktor des Instituts für Radiophysik am Universitätsspital Lausanne, zitiert. «Trotzdem sei klar», zitierte die «Sonntagszeitung» weiter, «dass jede zusätzliche Menge im Körper das Krebsrisiko ein bisschen erhöht und deshalb zu vermeiden sei.» Womit dieser Fachmann doch wieder gewisse Skepsis weckte. Der Infografik zum Artikel konnte man nämlich entnehmen, dass in besagter Bohrung Cäsium mit einer Aktivität von 41 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) festgestellt wurde, das sich im Jahr 2000 abgelagert hatte. Und zumindest grafisch wird der «Mühleberg-Peak» in Relation zu weit grösseren Ausschlägen gesetzt, wie beispielsweise aufgrund oberirdischer Atombombentests in den frühen 1960er-Jahren (136,4 Bq/kg) oder wegen des Tschernobyl-Unfalls (197,9 Bq/kg). Aber wenn schon die (natürliche) Hintergrundstrahlung keinen Platz in den Medien zu haben scheint, kann man auch nicht voraussetzen, dass die Debatte um den Sinn und die Grenzen des «Linear No-threshold Model» [1] es aus den Fachkreisen in die Schweizer Presse schafft.

Trotzdem würden wir uns eine gewisse Relativierung der Daten wünschen etwa als Anhaltspunkt, dass ein Kilogramm Erde gemäss Bundesamt für Gesundheit (BAG) «im Mittel eine Aktivität von einigen hundert Bq» aufweist – also ein Mehrfaches der Cäsiumaktivität im Bohrkern aus dem Bielersee. Oder dass, auch gemäss BAG-Jahresberichten und Publikationen etwa des National Council on Radiation Protection, ein menschlicher Körper [2] an die 5000 Bq Kalium-40, 3000 Bq Kohlenstoff-14 sowie weitere radioaktive Isotope enthält und somit ebenfalls stärker radioaktiv ist als das Cäsium in der besagten Sedimentprobe.

[1] Lineare Dosis-Wirkungs-Beziehung ohne Schwellenwert: Es gibt keine Dosis ohne Wirkung und eine Verdopplung der Dosis verdoppelt auch das Risiko – eine in der Strahlenschutzpraxis übliche vereinfachende Grundannahme.

[2] Berechnet für einen 70kg schweren Mann: 130 Bq/kg oder mehr. Bei Frauen sind es etwas weniger.

Kurzer, aber heftiger Sturm im Blätterwald

Wie meistens bei solchen Enthüllungsgeschichten der Sonntagspresse sprangen auch in diesem Fall am Montag darauf die Schweizer Tageszeitungen auf das Thema auf. Unser Pressespiegel jenes Tages zählte rund 150 Print- und Online-Artikel zum Stichwort «Cäsium». Die Überschriften reichten von «Cäsium im Bielersee» («Bieler Tagblatt») über «Erhöhte Radioaktivität im Bielersee gemessen» («Freiburger Nachrichten») und «Rätselraten um Cäsium im Bielersee» («Berner Zeitung») bis hin zu «Radioaktives Cäsium aus AKW Mühleberg?» («20 Minuten») und «Radioaktive Spuren aus Mühleberg im Bielersee» («Der Bund»). Nicht ganz genau hingeschaut hatte anscheinend die «Neue Luzerner Zeitung», wie zumindest ihr Titel «Radioaktives Wasser im Bielersee» vermuten liess. Gleichentags lasen wir auch Überschriften wie zum Beispiel «BAG: Radioaktive Werte im Bielersee ‹nicht alarmierend›» in «Die Südostschweiz» oder tags darauf «Fund ‹weder überraschend noch gefährlich›» im «Bündner Tagblatt» und «Radioaktivität im See lässt sich erklären» in der «NZZ». Wie diese Titel vermuten lassen, wurden die Stellungnahmen und Erklärungen der Mühleberg-Betreiberin, der BKW Energie AG, des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi), des BAG und weiterer öffentlicher Stellen weitgehend von den Medien aufgenommen – wenn auch teilweise mit kritischem Unterton. Auch zahlenmässig schien sich die Sache am Dienstag mit noch rund 65 Artikeln schon wieder zu beruhigen. Ab dem dritten Tag nach Erschienen des Artikels der «Sonntagszeitung» tauchten in unserem Monitoring nur noch vereinzelte Treffer zu diesem Thema auf, wobei es sich grösstenteils um Einträge bei Facebook und Twitter handelte.

Unterschiedliche Forderungen

In der betroffenen Region hielt sich die Angelegenheit etwas hartnäckiger. Das «Bieler Tagblatt» veröffentlichte am 17. Juli unter dem Titel «Ein Bild des Versagens» das Resultat einer Umfrage unter den örtlichen Parteien. Die Forderungen, die vor allem grüne und linke Exponenten darin äusserten, waren auch auf kantonaler Ebene zu hören. Dass die Herkunft des Cäsiums genau identifiziert werden müsse, war dabei wohl die moderateste Interpellation. Laut «Bieler Tagblatt» wollte zumindest das Wasserforschungsinstitut Eawag dieser Forderung rasch nachkommen und bereits in der Woche nach Erscheinen des Sontagszeitungs-Artikels neue Sedimentproben entnehmen. Damit sollen einerseits die bereits festgestellten Cäsiumwerte bestätigt werden, andererseits auch die Herkunftsfrage geklärt werden. Dazu Jürg Beer von der Eawag: «Wenn tatsächlich das Kernkraftwerk Mühleberg für die erhöhte Menge Cäsium-137 im Bielersee verantwortlich ist, müssten weitere Spaltprodukte, die bei der Kernspaltung entstehen, vermehrt im Sediment aus dem Jahr 2000 auftreten». «Falls nicht», so die Zeitung, «muss nach einer anderen Quelle gesucht werden». Andere, so zum Beispiel die Bieler Grünen, verlangten nach Kontrollen des Trinkwassers auf Radionuklide oder der Erstellung eines «Notfallkonzeptes zum Schutz vor radioaktiv verseuchtem Trinkwasser». Wenig überraschend gab es auch Stimmen, die zur sofortigen Abschaltung des Kernkraftwerks Mühleberg aufriefen. So schrieb die Greenpeace Schweiz in ihrer Medienmitteilung, «der Bielersee ist keine Atommüll-Deponie» und forderte eine Untersuchung durch die Berner Staatsanwaltschaft.

Alte Leier von der Transparenz

Auch der altbekannte Vorwurf der Intransparenz und Heimlichtuerei an die Adressen des Ensi und der BKW erhielt vielerorts neuen Schwung. In dieses Horn stiess besonders Aline Trede, die seit März 2013 für die Grünen im Nationalrat sitzt. «Das Ensi weiss nichts und doch was – also eigentlich alles», lautete der Titel ihrer Kolumne in der «Schweiz am Sonntag» vom 21. Juli. Darin verglich sie Ensi und BKW mit gedopten Radrennfahrern und fragte sich, warum das Ensi nicht schon im Jahr 2000 über die mögliche Ursache der Cäsiumablagerungen informiert hatte. Trede übersah dabei den Titel «Abgaben sind dokumentiert und publiziert» und die Ausführungen darunter, inklusive Links zu entsprechenden Jahresberichten, zwei Abschnitte oberhalb einer von ihr zitierten Passage auf der Ensi-Website grosszügig. Dort schrieb das Ensi am 15. Juli, dass es wie seinerzeit gemeldet 1998 und 1999 im Kernkraftwerk Mühleberg zu erhöhten Cäsiumabgaben gekommen war. «Die Ursache für die erhöhten Abgaben sind nicht auf Zwischenfälle zurückzuführen», so das Ensi weiter, «sondern auf die endlagerfähige Konditionierung von Altharzen aus dem Zwischenlager mit der im Jahr 1995 in Betrieb genommenen Verfestigungsanlage CVRS. Der Betrieb dieser Anlage wurde in den Folgejahren weiter optimiert und damit die Cäsiumabgabe wieder verringert. Trotz dieses naheliegenden Zusammenhangs zum Kernkraftwerk Mühleberg können nicht alle gemessenen Cäsiumspuren eindeutig und ausschliesslich Kernkraftwerken zugeordnet werden. Ähnliche und teils höhere Werte finden sich auch in den Sedimenten anderer Schweizer Seen, die nicht am Unterlauf eines Kernkraftwerks liegen». Auch diese Relativierung und der Hinweis auf andere Seen überhörten Trede und so manch andere, die sich öffentlich äusserten, geflissentlich.

Quelle

M.Re. nach verschiedenen Medienberichten

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