Unfall von Tschernobyl - Bilanz der Folgen für Gesundheit, Umwelt und Sozioökonomie

Gesamthaft könnten bis zu 4000 Menschen an den Folgen der Bestrahlung sterben, der sie vor zwei Jahrzehnten wegen des im Kernkraftwerk Tschernobyl eingetretenen Unfalls ausgesetzt waren. Dies ist die Schlussfolgerung einer internationalen Gruppe von über hundert Wissenschaftern.

4 sept. 2005

Bis Mitte 2005 wurden indessen weniger als 50 Todesfälle direkt der Strahlung aus dieser Katastrophe zugeschrieben. Praktisch alle gehörten zu den Rettungskräften, die sehr stark bestrahlt worden waren. Viele starben in den ersten Monaten nach dem Unfall, aber andere haben bis ins Jahr 2004 überlebt.
Die neuen Zahlen stehen in einem Kurzbericht, den das Forum Tschernobyl als Markstein unter dem Titel «Chernobyl's Legacy: Health, Environmental and Socio-economic Impacts» (Das Erbe von Tschernobyl: Folgen für Gesundheit, Umwelt sowie Gesellschaft und Wirtschaft) Anfang September 2005 veröffentlicht hat. Auf der Grundlage eines 600-seitigen Berichts in drei Bänden, welche die Arbeiten Hunderter Naturwissenschafter, Ökonomen und Gesundheitsspezialisten zusammenfassen, bewertet der Kurzbericht die Auswirkungen in den zwei Jahrzehnten seit dem schwersten Kernenergieunfall der Geschichte. Das Forum besteht aus mehreren Fachorganisationen der Vereinten Nationen sowie der Weltbank und den Regierungen Weissrusslands, der Russischen Föderation und der Ukraine. Die Organisationen der Vereinten Nationen sind die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO), die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Entwicklungsprogramm der Vereinten Organisationen (UNDP), die Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO), das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP), das Büro der Vereinten Nationen zur Koordination humanitärer Hilfe (UN-OCHA) und der wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen über die Wirkung ionisierender Strahlung (UNSCEAR).

Hauptempfehlungen des Berichts

Der umfangreiche Bericht umfasst dutzende
wichtige Schlussfolgerungen:

  • - Ungefähr tausend Personen unter den Reaktorangestellten am Standort und unter den Rettungskräften erhielten am ersten Unfalltag sehr hohe Strahlendosen durch die starke Strahlung. Unter den über200'000 Rettungs-, Bergungs- und Sanierungskräften, die 1986 bis 1987 eingesetzt und bestrahlt wurden, können gemäss Abschätzungen 2200 an den Folgen der Bestrahlung vorzeitig sterben.
  • - Die Zahl der Einwohner in den Gebieten Weissrusslands, Russlands und der Ukraine, die infolge des Unfalls durch radioaktive Stoffe kontaminiert sind, wird gegenwärtig auf 5 Millionen geschätzt. Davon leben rund 100'000 in Zonen, welche die Regierungsbehörden als «strikt kontrolliert» klassiert haben. Die heute geltende Klassierung ist im Lichte der neuen Erkenntnisse zu überprüfen, und die Zonen sind herabzustufen.
  • - Etwa 4000 Schilddrüsenkrebsfälle - hauptsächlich bei Personen, die zum Zeitpunkt des Unfalls Kinder oder Jugendliche waren - sind auf die Kontamination nach dem Unfall zurückzuführen. Mindestens neun Kinder sind daran gestorben. Doch gemäss den Erfahrungen Weissrusslands erreicht die Überlebensrate der an dieser Krebsart erkrankten Personen fast 99%.
  • - Die meisten Rettungskräfte und Einwohner der kontaminierten Gebiete erhielten eine im Vergleich zur Bestrahlung aus natürlichen Quellen verhältnismässig schwache Ganzkörperdosis. Daher waren weder Anzeichen noch eine Wahrscheinlichkeit für eine verminderte Fruchtbarkeit in den betroffenen Bevölkerungsgruppen festzustellen. Auch konnten keine Anzeichen einer erhöhten Zahl angeborener Missbildungen gefunden werden, die auf Bestrahlung zurückzuführen sind.
  • - Armut, Krankheiten aufgrund des «Lebensstils», der sich in der ehemaligen Sowjetunion ausbreitet und Geisteskrankheiten stellen für die lokalen Gemeinschaften eine viel grössere Bedrohung dar als die Bestrahlung.
  • - Die Umsiedlung von rund 350'000 Personen aus den betroffenen Zonen hinaus stellte sich als ein «seelisch tief verletzendes Erlebnis» heraus. Obschon 116'000 unter ihnen unmittelbar nach dem Unfall aus der am meisten betroffenen Zone evakuiert wurden, trugen spätere Umsiedlungen wenig zur Verminderung der Strahlenbelastung bei.
  • - Die fortbestehenden Erfindungen und Missvorstellungen über das Strahlenrisiko haben bei den Einwohnern der betroffenen Gebiete zu einem «lähmenden Fatalismus» geführt.


  • - Die ehrgeizigen Sanierungs- und Sozialhilfeprogramme, welche die damalige Sowjetunion begann und Weissrussland, die Russische Föderation sowie die Ukraine fortführen, sind zu überdenken, denn die Bestrahlungslage hat geändert, die Programme verfehlen ihr Ziele und die Fördermittel sind ungenügend.
  • - Die Strukturelemente des Sarkophags zur Abdeckung des beschädigten Reaktors verfallen. Es besteht das Risiko eines Einsturzes mit Freisetzung von radioaktivem Staub.
  • - Die Aufgabe bleibt, einen Rahmenplan zur Beseitigung von Tonnen hoch radioaktiver Abfälle am Standort und in der Umgebung des Kernkraftwerks Tschernobyl auszuarbeiten, welcher die geltenden Sicherheitsnormen erfüllt.

«Zwei Jahrzehnte nach dem Unfall von Tschernobyl verfügen die Einwohner der betroffenen Gebiete immer noch nicht über die nötigen Informationen, um ein durchaus mögliches gesundes und ertragreiches Leben zu führen», erklärt Louisa Vinton, Tschernobyl-Koordinatorin beim UNDP. «Wir raten den betroffenen Regierungen, genaue Informationen nicht nur darüber, wie in den schwach kontaminierten Gebieten ein risikofreies Leben zu führen ist, sondern auch über eine gesunde Lebensweise und die Schaffung eines neuen Auskommens zu liefern.» Denn - wie Michael Repacholi, Programmverantwortlicher für Strahlung bei der WHO erklärt - «die Botschaft des Forums Tschernobyl ist über das Ganze gesehen beruhigend».
Er erklärt, dass unter den 4000 Schilddrüsen-Krebskranken - im Wesentlichen Kinder - mit Ausnahme von neun, die verstarben, alle genesen sind. «Im Übrigen stellte die Gruppe internationaler Fachleute bei den betroffenen Einwohnern keine Anzeichen für irgendeine Erhöhung der Leukämie- oder Krebshäufigkeit durch den Unfall von Tschernobyl fest.»
«Die Gesundheitsfolgen des Unfalls waren potenziell katastrophal, doch wenn sie auf Grund wissenschaftlich ausreichend überprüfter Schlussfolgerungen zusammengezählt werden, sind die Folgen für die Volksgesundheit nicht annähernd so beträchtlich, wie anfangs befürchtet wurde», schliesst Michael Repacholi.
Bezüglich der Auswirkungen auf die Umwelt kommen die Berichte auch zu beruhigenden Ergebnissen, denn die wissenschaftlichen Abklärungen zeigen, dass - mit Ausnahme der noch immer geschlossenen, stark kontaminierten 30-Kilometer-Zone um den Reaktor, bestimmter abflussloser Seen und von Wäldern, zu denen der Zutritt eingeschränkt ist - die Strahlenpegel in den meisten Fällen auf annehmbare Werte zurückgegangen sind. «In den meisten Gebieten sind die Probleme wirtschaftlicher und psychologischer, nicht gesundheitlicher oder ökologischer Art», berichtet Michail Balonow, wissenschaftlicher Sekretär des Forums Tschernobyl, der seit der Katastrophe an den Sanierungsarbeiten beteiligt ist.

Source

M.A./P.B. nach IAEO, Pressemitteilung, 5. September 2005

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