Brüssel denkt um: Kernenergie als Schlüssel im neuen Energiemix

Lange an den Rand gedrängt, rückt die Kernenergie in Europa wieder ins Zentrum der Debatte. Zwischen geopolitischer Unsicherheit, Netzausbau und Klimakrise wächst der Druck auf Politik und Industrie, neue Wege zu gehen. Ein Interview mit dem Industrieverband Nucleareurope.

29. Juli 2025
Laut neuer Umfrage des EU-Kommission bewerten 56% der Bevölkerung aus 35 europäischen Staaten die Wirkung auf die künftige Stromerzeugung positiv.
Laut neuer Umfrage des EU-Kommission bewerten 56% der Bevölkerung aus 35 europäischen Staaten die Wirkung auf die künftige Stromerzeugung positiv.
Quelle: Alexandre Lallemand via Unsplash

Die europäische Energiepolitik befindet sich mitten in einem tiefgreifenden Wandel. Angesichts steigender Energiepreise, wachsender geopolitischer Unsicherheiten und der drängenden Klimakrise wird die Rolle der Kernenergie zunehmend neu bewertet. In Brüssel mehren sich die Stimmen, die Kernenergie als verlässliche, CO₂-arme und heimische Energiequelle wieder stärker ins Zentrum der Diskussion rücken. Jessica Johnson, Director of Communications & Advocacy, und Andrei Goicea, Policy Director beim europäischen Industrieverband Nucleareurope, sprechen im Interview mit dem Nuklearforum Schweiz über die politische Stimmungslage, regulatorische Hürden, die Bedeutung technologischer Innovationen und die Notwendigkeit eines industriepolitischen Umdenkens.

Wie wird die Kernenergie derzeit allgemein in der europäischen Energiepolitik wahrgenommen?

Jessica Johnson: In der Vergangenheit wurde die europäische Energiepolitik von einer klaren Präferenz für erneuerbare Energien bestimmt – insbesondere Wind und Solar. Kernenergie wurde häufig ausgeklammert oder sogar explizit ausgeschlossen. Doch wir beobachten seit etwa zwei Jahren eine stetige, wenn auch langsame Verschiebung. Der kürzlich veröffentlichte «Clean Industrial Deal» der EU-Kommission steht exemplarisch für diesen Wandel: Er ist deutlich technologieoffener formuliert als frühere Strategiepapiere. Die politische Realität spiegelt sich darin wider, dass immer mehr Mitgliedstaaten, darunter Schweden, Rumänien und Griechenland, ihre Haltung zur Kernenergie überdenken oder bereits deutlich geändert haben. Selbst in Dänemark, welches traditionell sehr kritisch war, findet inzwischen eine offene Diskussion statt. Deutschland und Österreich bleiben isoliert in ihrer ablehnenden Haltung – das verändert das Kräfteverhältnis auf europäischer Ebene deutlich.

Welche Rolle spielt die Kernenergie im Rahmen des Ziels der EU, bis 2050 klimaneutral zu werden?

Andrei Goicea: Die EU hat sich mit dem Green Deal das Ziel gesetzt, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden. Dabei ist klar: Der Stromsektor muss als erstes vollständig dekarbonisiert werden. Das erfordert nicht nur einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien, sondern auch verlässliche, grundlastfähige Technologien. Kernenergie kann hier eine entscheidende Rolle spielen – nicht nur zur Stromerzeugung, sondern auch für die Produktion von Prozesswärme, Wasserstoff und Fernwärme. Gleichzeitig ermöglicht sie eine stabile Netzfrequenz und trägt zur Versorgungssicherheit bei. Angesichts stagnierender Fortschritte beim Ausbau der Erneuerbaren in einigen Ländern rückt die Kernenergie wieder stärker in den Fokus.

Jessica Johnson: Ein weiterer Aspekt, der zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die industrielle Wettbewerbsfähigkeit. Europa steht in einem globalen Konkurrenzkampf, insbesondere mit den USA und China. Energiepreise sind dabei ein Schlüsselfaktor. Wenn wir als Wirtschaftsstandort attraktiv bleiben wollen, müssen wir günstige, stabile und saubere Energiequellen anbieten – genau das kann Kernenergie leisten.

Gibt es spezifische EU-Förderprogramme, die Kernenergie aktiv unterstützen oder künftig fördern könnten?

Jessica Johnson: Leider sind die meisten bestehenden EU-Fonds – etwa der Just Transition Fund oder InvestEU – bislang so ausgestaltet, dass Kernenergie explizit ausgeschlossen ist. Diese Ausschlüsse basieren oft auf veralteten Annahmen und politischem Druck aus einigen Mitgliedstaaten. Doch hier tut sich etwas: Im Rahmen der neuen «Clean Industrial Deal»-Initiative und des geplanten Wettbewerbsfähigkeitsfonds sehen wir Spielräume für eine Neubewertung. Ein wichtiges Signal war zudem die Entscheidung der Europäischen Investitionsbank, ein erstes Nuklearprojekt – den Ausbau der Urananreicherungsanlage von Orano am Standort Tricastin in Frankreich – mit 400 Millionen Euro zu unterstützen. Das öffnet Türen für weitere Projekte. Und es zeigt: Es geht nicht nur um die Höhe der Förderung, sondern um das politische Signal, das davon ausgeht. Wenn die EU sagt: «Wir unterstützen das», steigen auch private Investoren ein.

Wie sehen Sie die aktuelle Argumentationslage in der politischen und gesellschaftlichen Debatte zur Kernenergie?

Jessica Johnson: Die traditionellen Kritikpunkte – Sicherheit und Endlagerung – verlieren an Gewicht. Es gibt heute robuste, wissenschaftlich fundierte Lösungen für beide Themen. Das wird auch in Brüssel wahrgenommen. Die verbleibenden Kritikpunkte drehen sich vor allem um die Kosten und Bauzeiten neuer Projekte. Ja, die letzten Grossprojekte in Europa und den USA waren teurer und langsamer als geplant. Doch wir müssen diese Debatte differenzieren: Viele dieser Projekte litten unter politischer Unsicherheit, unterbrochenen Lieferketten, fehlendem Know-how und regulatorischen Hürden. Wenn wir stabile Rahmenbedingungen schaffen, können wir auch diese Probleme in den Griff bekommen.

Andrei Goicea: Hinzu kommt: Die reine Betrachtung der Investitionskosten greift zu kurz. Ein Reaktor, der über 60 oder 80 Jahre hinweg zuverlässig Energie liefert, mit einem Kapazitätsfaktor von über 90%, ist wirtschaftlich sehr attraktiv – besonders im Vergleich zu erneuerbaren Energien, bei denen hohe Systemkosten und Speicherlösungen zusätzlich einkalkuliert werden müssen.

Jessica Johnson: Auch innerhalb der Branche der Erneuerbaren gibt es ein Umdenken. Während Teile der Solarindustrie Kernenergie weiterhin ablehnen, wächst in der Windenergiebranche das Verständnis dafür, dass beide Technologien sich ergänzen können – insbesondere mit Blick auf Energiesouveränität und Versorgungssicherheit.

Wie schätzen Sie die Perspektiven für neue Reaktortechnologien, insbesondere SMRs, in Europa ein?

Andrei Goicea: Die Entwicklung von Small Modular Reactors (SMRs) ist zweifellos eines der spannendsten Felder derzeit. Sie bieten viele Vorteile: standardisierte Fertigung, kürzere Genehmigungszeiten, geringere Kapitalkosten pro Einheit. Allerdings sind wir in Europa noch nicht so weit wie etwa Kanada oder die USA. Es gibt erste Auslegungen, Pilotprojekte und vielversprechende Start-ups. Entscheidend wird sein, dass die regulatorischen Behörden mit dem technologischen Fortschritt Schritt halten und Genehmigungsverfahren effizient gestalten.

Jessica Johnson: Gleichzeitig müssen wir die Erwartungen realistisch halten. Viele SMR-Projekte befinden sich noch in einer frühen Entwicklungsphase. Kostenschätzungen variieren stark. Erst wenn erste Anlagen gebaut und betrieben werden, können wir belastbare Aussagen treffen. Auch der Aufbau von Lieferketten und Fachpersonal ist eine Herausforderung, die nicht unterschätzt werden darf. Dennoch ist das Potenzial enorm – gerade für industrielle Anwendungen oder entlegene Standorte.

Viele sprechen von einer Renaissance der Kernenergie. Ist dieser Begriff aus Ihrer Sicht zutreffend?

Andrei Goicea: Wir sprechen lieber von einem Revival. Der Begriff Renaissance wurde bereits vor Fukushima verwendet, doch damals blieb es bei Ankündigungen. Heute sehen wir konkrete politische Weichenstellungen, beispielsweise durch nationale Energie- und Klimapläne, in denen Kernenergie wieder verankert wird. Aber es braucht mehr: ein aktives Bekenntnis zur Technologie, strategische Industriepolitik und Investitionen in Ausbildung und Infrastruktur.

Jessica Johnson: Das Revival wird nur dann nachhaltig sein, wenn Politik und Industrie gemeinsam an einem Strang ziehen. Die Industrie muss zeigen, dass sie Projekte effizient und wirtschaftlich realisieren kann. Gleichzeitig müssen Bildungssysteme junge Menschen wieder für technische Berufe begeistern, und die öffentliche Hand muss Planungssicherheit schaffen. Wenn das gelingt, hat die Kernenergie in Europa eine starke Zukunft.

Jessica Johnson ist seit 2017 Communications & Advocacy Director bei Nucleareurope. In dieser Funktion verantwortet sie die Kommunikations- und Lobbystrategien des Verbands, koordiniert das Stakeholder-Management auf EU-Ebene und betreut Themen im Bereich Nachhaltigkeit, darunter Sustainable Finance, Rohstoffe, Flächennutzung und Kreislaufwirtschaft. Zuvor war sie zehn Jahre lang Kommunikationsleiterin bei Cembureau, dem europäischen Zementverband. Sie hat einen Bachelor in Spanisch und Italienisch der University of Manchester sowie einen Master in Konferenzdolmetschen.

Andrei Goicea ist Policy Director bei Nucleareurope und verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung im Bereich Kernenergie. Er ist spezialisiert auf die Steuerung und Unterstützung nuklearer Projekte. Nach seinem Abschluss in Kerntechnik an der University Politehnica of Bukarest im Jahr 2002 erwarb er ein Jahr später einen Master in Strahlenschutz und nuklearer Sicherheit. Zu seinen beruflichen Stationen zählen unter anderem Positionen als Executive Manager bei Nucleareurope, stellvertretender Projektleiter bei Slovenské Elektrárne sowie über zehn Jahre bei SN Nuclearelectrica S.A.

Verfasser/in

S.D.

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