Kriegspropaganda rund um AKW

Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Kommunikations-Krieg. Dabei gelten andere Regeln, als wir sie in unserer Alltags-Kommunikation gewöhnt sind. Wir basieren unser Kommunikationsverhalten normalerweise auf Vertrauen. Ich gehe davon aus, das mein Kollege, mein Chef oder meine Frau mir die Wahrheit sagen und hinterfrage nicht jede Aussage nach allfälligen Motiven.

22. Juli 2022
Saporischschja
Das Kernkraftwerk Saporischschja in der Südukraine das leistungsstärkste Kernkraftwerk Europas
Quelle: Руслан Селезнёв

Vertrauen ist deshalb der Goldstandard in der Kommunikation. Denn in einem vertrauensvollen Kommunikationsumfeld ist die Chance gross, dass der Empfänger genauso auf die Botschaft reagiert, wie es der Sender beabsichtigt hat.

Das streben auch Kriegsparteien an. Sie senden Propaganda, zugespitzte, halbwahre und verfälschte News, um uns zu einem für sie nützlichen Verhalten zu bewegen. Dazu brauchen sie aber unser Vertrauen. Denn vertrauen wir jemandem nicht, glauben wir ihm auch nichts. Die Kriegspropaganda Putins ist ein gutes Beispiel dafür. Unsere Sympathien sind beim Kleinen, beim Angegriffenen, der sich wehren muss.

Wir tendieren also dazu, ukrainischen Meldungen eher zu glauben. Das ist menschlich, aber wir liegen damit manchmal auch falsch. Die Ukrainer wollen diesen Krieg überstehen, und dafür brauchen sie Unterstützung. Wir müssen also davon ausgehen, dass auch die Ukraine Kriegspropaganda betreibt, die ihren Interessen dient.

Oft können Aussenstehende, auch erfahrene Kriegsreporter, nur schwer durchschauen, wer bei einem bestimmten Vorfall die Wahrheit gesagt hat und wer nicht. So sehen die Kriegstexte und Videos auf «Twitter» zum Beispiel ganz anders aus als auf «Telegram», und westliche Medien erzählen eine ganze andere Geschichte als die Sputnik-Medien in Russland.

Die Schreckensmeldungen rund um ukrainische AKW sind ein gutes Beispiel für die schwierige Suche nach der Wahrheit. Es hatte damit begonnen, dass russische Truppen das Gebiet von Tschernobyl besetzten. Durch die Medien geisterten sofort Schreckensszenarien einer weiträumigen Verstrahlung Europas, eine Arbeitskollegin fragte mich schockiert, ob wir jetzt Vorkehrungen treffen müssten, und in Apotheken wurden Jodtabletten nachgefragt. Tatsächlich befinden sich unter den Trümmern von Tschernobyl noch ungefähr 150 Tonnen Kernschmelze. Allerdings unter einem ersten Sarkopharg aus 7000 Tonnen Stahl und 410'000 Kubikmeter Beton. Und seit 2019 spannt sich ein weiterer «Schirm» mit einem Gewicht von 25'000 Tonnen darüber. Wie also hätte so eine weiträumige Verstrahlung provoziert werden können? Und wer hätte ein Interesse daran gehabt?

Tschernobyl Sarkophag
Das Kernkraftwerk in Tschernobyl in der Ukraine mit der 2016 fertig gestellten Schutzhülle
Quelle: lukaspawek/Pixabay

Beim späteren Abzug der Russen aus Tschernobyl meldeten westliche Medien erneut «höhere Strahlenwerte» und es gab die Erzählung von sieben russischen Soldaten, die mit Anzeichen von Strahlenkrankheit weggebracht worden seien, nachdem sie in der Gegend von Tschernobyl den Boden im Wald umgegraben hätten. Strahlenkrankheit? Dazu müssten sie eigentlich direktem Kontakt mit stark strahlender Materie ausgesetzt gewesen sein, ähnlich den Aufräumarbeitern, die bei der Katastrophe von Tschernobyl 1986 mit blossen Handschuhen die herumliegenden Graphittrümmer weggeräumt hatten. Im «Red Forest», der am stärksten belasteten Zone ausserhalb des Reaktorgebäudes, ist die Dosis aber maximal doppelt so hoch wie bei einem Flug nach New York.

Was nun? Wahrheit oder Fake?
Ich erkundigte mich bei einem Kollegen, der 2019 eine Forschungsreise ins Gebiet um Tschernobyl gemacht hatte. Er wiederum fragte nach bei einem Bekannten im Spital von Gomel in Weissrussland, unweit der ukrainischen Grenze, wohin die «Soldaten mit Strahlenkrankheit» gebracht worden seien. Die Auskunft: man behandle in Gomel zwar verletzte russische Soldaten, aber solche mit Strahlenschäden seien keine darunter. «Natürlich», sagt mein ortskundiger Kollege, «kann auch diese Aussage Kriegspropaganda sein. Aber meine Quelle ist an sich vertrauenswürdig, und es gibt auch keinen schlüssigen Grund für eine massive Verstrahlung von Soldaten.» Der Peak der AKW-Kriegspropaganda war schliesslich im März die russische Besetzung des Nuklear-Komplexes Saporischschja in der Südukraine. Die Anlage besteht aus sechs Reaktoren der Grössenordnung Gösgen. Ein Nebengebäude geriet in Brand, die Reaktoren wurden bis auf einen kurzzeitig heruntergefahren, gingen später wieder ans Netz. Sehr viel war also vor Ort eigentlich nicht passiert.

Schlagzeile Tagesanzeiger
Schlagzeile im Tagesanzeiger nach der russischen Besetzung des Kernkraftwerkes Saporischschja
Quelle: Screenshot Tagesanzeiger.ch

Dafür brannte es in den westlichen Medien sofort lichterloh. Von einem möglichen Super-GAU war die Rede, der alles bisher Dagewesene übertreffen würde. Die Unterstellung, die Russen könnten diesen Super-GAU bewusst herbeiführen, überlebte allerdings nicht sehr lange. Denn mit einer gewaltigen Freisetzung von Radioaktivität hätte die russische Armee bei Westwind die eigene Bevölkerung jenseits der nahen Landesgrenze in Gefahr gebracht.

Schliesslich konzentrierten sich die Medien darauf, ein verirrtes Geschoss könnte die Anlage treffen und so – ohne dass es jemand wollte – den Super-GAU auslösen. Auch hier folgte postwendend die Entwarnung durch die Experten. Ein AKW ist von seiner Konstruktion her durch redundante Schutzbarrieren so gesichert, dass eine verirrte Rakete allein nicht zu einem maximalen Schaden führen kann. Es brauchte also einen vorsätzlichen, gezielten Beschuss, um einen massiven Austritt von Radioaktivität herbeizuführen. Womit wir wieder bei der Frage wären, wer das wollen und wem das nützen könnte.

Annalisa Manera, Professorin für Nuklearenergie an der ETH Zürich, wies damals in der NZZ auf den tatsächlich wunden Punkt hin: das Stromnetz. Eine – ob vorsätzliche oder zufällige – Beschädigung der Stromzufuhr würde die Kühlung der Reaktoren gefährden. Diese muss auch in abgeschaltetem Zustand gewährleistet sein. Zwar sind die AKW bei einem Stromausfall mit zusätzlichen Diesel-Aggregaten ausgerüstet, welche den Strom für die Kühlpumpen liefern. Aber auch diese Diesel könnten – bei zusätzlichen Ereignissen - ausfallen. Wie es in Fukushima passiert ist.

Dass AKW ein Sicherheitsrisiko im Krieg sind, ist offensichtlich. Allerdings sind das auch Chemieanlagen, Raffinerien oder Staudämme. Und während die «verirrte Rakete» tatsächlich eine Chemiefabrik oder einen Damm sprengen könnte, braucht es dazu bei einem AKW einen klaren Vorsatz.

Trotzdem warnte am 26. April die staatliche ukrainische Energoatom erneut vor einer nuklearen Katastrophe, als russische Marschflugkörper Saporischschja in geringer Höhe überfolgen. Über den Messenger-Dienst «Telegram» liess Energoatom verlauten: «Schliesslich könnten Raketen eine oder mehrere Nuklearanlagen treffen, wodurch eine Strahlungskatastrophe auf der ganzen Welt droht.» Dabei wissen auch die Experten von Energoatom, dass es mehr als eine Rakete braucht, um die Katastrophe zu verursachen. Und dass die Russen kaum ihre eigenen, in Schaporischschja stationierten Truppen vorsätzlich auslöschen würden.

Ist es im Sinn der ukrainischen Kriegspropaganda die Situation um Nuklearanlagen in der Ukraine bewusst zu dramatisieren? Soll damit der Westen motiviert werden, sich möglichst stark auf der Seite der Ukraine im Krieg zu engagieren?

Es bleibt uns nur, die verschiedensten Quellen auszuwerten, die Meldungen auf ihre Plausibilität zu prüfen und immer nach dem «cui bono?» zu fragen. Wer profitiert davon, wer hat ein Interesse daran, dass ich glaube, was ich da höre und lese?

Mittlerweile gibt es übrigens auch bei uns politische Forderungen, die Schweizer AKW müssten «kriegssicher» gemacht werden, damit feindliche Invasoren sie nicht zerstören könnten. Notabene kommt diese Forderung aus denselben Kreisen, die nach wie vor meinen, die Schweizer Armee sei abzuschaffen. Weil – so der Zuger Ex-Nationalrat Jo Lang kürzlich in einem Interview in der Sonntagzeitung – die «Wahrscheinlichkeit, dass die Russen an den Bodensee vorrücken, noch nie so klein» gewesen sei wie heute.

Auch das passiert bei Propaganda: Man kann mit einer Botschaft die andere abschiessen.

Rainer Meier

Verfasser/in

Rainer Meier, Senior Advisor für Reputation Management

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