Schwierige Zukunft ohne Kernenergie

VSE-Studie zur «Energiezukunft 2050» aus nuklearer Sicht

«Die Ergebnisse zeigen, dass das Erreichen der Energie- und Klimaziele mitnichten ein Selbstläufer werde, sondern grösste Anstrengungen dafür notwendig sein werden». Die Warnung des Verbands Schweizerischer Elektrizitätswerke (VSE) war deutlich bei der Vorlage seiner Studie ««Energiezukunft 2050» am 13. Dezember 2022, die in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) erstellt worden ist.

16. Dez. 2022
Strommast
Eine umfangreiche Studie des VSE zeigt einen Weg für die Energie- und Stromversorgung in der Schweiz bis 2050 auf – ohne Kernenergie.
Quelle: Pexels

Die Studie will einen Weg aufzeigen, wie eine sichere und klimaneutrale Energie- und Stromversorgung in der Schweiz bis 2050 aussehen könnte. Aufgrund des geltenden Neubauverbots spielt die Kernenergie in der Studie nachvollziehbarerweise fast keine, aber immerhin eine theoretische Rolle.

Ein nuklearer Blick auf einige Aspekte der Studie lohnt sich dennoch und nicht nur, weil die Studie belegt, dass Kernenergie zusammen mit Wasserkraft die niedrigsten Gestehungskosten für die Stromproduktion aufweist (ca. CHF 80/MWh) und damit das gängige Vorurteil, Kernkraft sei (zu) teuer, widerlegt. Die Studie zeigt vor allem auch, dass das bewusst herbeigeführte Ende der Kernenergie in der Schweiz eine riesige Stromlücke hinterlassen wird, aber auch ein hausgemachtes Problem ist.

VSE-Studie
Zusammen mit der Wasserkraft ist die Kernenergie die günstigste Form der Stromproduktion.
Quelle: VSE

Atomausstieg sorgt für riesige Stromlücke

Insgesamt bestätigt die Studie andere Prognosen, dass der Stromverbrauch der Schweiz bis 2050 massiv zunehmen wird. Der VSE geht von einem stark steigenden Elektrizitätsbedarf von heute 62 TWh auf 80 bis 90 TWh im Jahr 2050 aus. Je nach Szenario entspricht das einem Anstieg von 25-40%. Aufgrund des steigenden Strombedarfs und der sukzessiven Stilllegung der schweizerischen Kernkraftwerke bis 2044 entsteht eine gewaltige Produktionslücke von 37-47 TWh. Die vier noch in Betrieb stehenden Kernkraftwerke der Schweiz liefern derzeit jährlich etwa 20 TWh Strom. Die Studie geht von einer Laufzeit von 60 Jahren aus, so dass das KKW Leibstadt im Jahr 2044 als letztes vom Netz gehen würde. «Die Produktionslücke von 37 bis 47 Terawattstunden ist erschreckend gross im Vergleich zur heutigen Nachfrage», schreibt Finanz und Wirtschaft.

Wie soll diese Lücke gefüllt werden? Grundsätzlich mit einem massiven und deutlich schnelleren Zubau von erneuerbaren Energien, vor allem Photovoltaik (auch im Alpenraum), aber auch Windkraftanlagen. Um mit dieser wetterabhängigen Stromproduktion die Versorgungssicherheit aufrecht erhalten zu können, sind Backup-Kraftwerke (zunächst fossiles Gas, ab 2040 Wasserstoff) und Speichervorhaltungen nötig. Die Kosten dafür betragen rund CHF 1 Mrd. pro Jahr, so die Studie.

«Die Schweiz bleibt Stromimporteurin», schreibt der VSE. Im Winter muss weiterhin Strom importiert werden. Die Stromimportabhängigkeit im Winter steigt ja nach Szenario (vor allem abhängig vom Grad der Integration in den europäischen Strommarkt) von heute 3 TWh auf 7 TWh bis zu 9 TWh. Die Importproblematik wird sich um das Jahr 2040 zwischenzeitlich verschärfen, weil dann die Schweizer Kernkraftwerke bereits zum Grossteil vom Netz sein werden, und der Strombedarf durch die fortschreitende Elektrifizierung ansteigt.

Stromimporte steigen und dürfen auch aus ausländischen KKW kommen

Hinsicht der benötigten Stromimporte stellt sich die Frage, ob die Nachbarländer der Schweiz künftig grundsätzlich willens und in der Lage sein werden, den im Winter benötigten Strom zur Verfügung zu stellen. Das Nuklearforum Schweiz hat dazu bereits im letzten Jahr im White Paper «Kernenergie, Klima & Versorgungssicherheit» entsprechende Berechnungen angestellt. Das Ergebnis: alle Nachbarländer der Schweiz beabsichtigen ebenfalls, ihre Volkswirtschaften zu dekarbonisieren und damit zu elektrifizieren, d.h. auch dort wird der Strombedarf massiv ansteigen und könnte zur Folge haben, dass in den Jahren nach 2035 zu wenig Strom im europäischen Netz sein könnte. Bei Ländern, die vor allem auf erneuerbare Energien setzen, um die Klimaziele zu erreichen, käme der Strom ausserdem zu einem Grossteil aus volatilen, nicht grundlastfähigen Erzeugungsquellen. Erwartet werden darf daher, dass der im Winter importierte Strom – wenn vorhanden – zu einem guten Teil aus ausländischen Kernkraftwerken stammen wird, etwa wie bisher aus Frankreich, das ja die Zahl seiner Kernkraftwerke erhöhen will. Zur europäischen Winterstromversorgung mit Kernenergie könnten künftig aber auch Polen, die Niederlande oder Tschechien beitragen – einige von mehreren Ländern, die den Auf- oder Ausbau ihrer Nuklearkapazitäten konkret planen bzw. angekündigt haben. Sicher scheint, dass die Schweiz, die künftig selbst keinen Atomstrom mehr produzieren möchte, diesen aus dem Ausland einsetzen und bezahlen müssen wird, um die Winterstromlücke zu füllen.

VSE-Studie
In allen Szenarien wird die Schweiz zukünftig mehr Strom importieren müssen als heute. Ein Teil davon wird auch auch ausländischen Kernkraftwerken stammen.
Quelle: VSE

«Grüner Wasserstoff» wird in grossem Umfang benötigt.

Mit «grünem Wasserstoff» betritt in der VSE-Studie eine Energiequelle etwas überraschend die Bühne, die bislang in den Planungen, etwa denen des Bundes, keine grosse Rolle gespielt hat. Wasserstoff soll neben Wasserkraft und Erneuerbaren zur dritten Säule der Energieversorgung der Schweiz werden. Dieser soll jedoch fast vollständig importiert werden, je nach Szenario zwischen 12 und 24 TWh pro Jahr. Eine eigene Wasserstoffproduktion in der Schweiz ist in der Studie nicht vorgesehen: «Die Elektrolyse ist grundsätzlich unwirtschaftlich, weil überschüssiger erneuerbarer Strom nur während kurzer Zeit im Sommerhalbjahr verfügbar ist, und deshalb unverhältnismässig grosse Elektrolysekapazitäten für eher geringe Wasserstoffmengen (d.h. tiefe Volllaststunden und folglich teure Produktionskosten) gebaut werden müssten.» Voraussetzung für die Importmöglichkeit ist jedoch der vollständige Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur in Europa ab 2040, die u.a. von der Initiative «European Hydrogen Backbone (EHB)» angetrieben wird.

Die Studie geht hier sicher davon aus, dass ab 2040 in Europa ausreichend Wasserstoff zur Verfügung steht (und die Schweiz daran partizipieren kann). Die Antwort auf die Frage, was passiert, wenn das nicht der Fall ist, bleibt aber unbeantwortet. (Die Unternehmensberatung Bloomberg NEF hat hier zu den Schwierigkeiten des Transportes von Wasserstoff einen Bericht veröffentlicht.) Eine eigene Wasserstoffproduktion in der Schweiz ist demnach nicht lukrativ, weil dafür nur die Stromüberschüsse vor allem aus Photovoltaik im Sommer eingesetzt werden könnten. Dass es auch anders gehen könnte, nämlich, dass Energiewende mit Kernenergie besser funktioniert als ohne, zeigt das Beispiel von Shell, das für die Herstellung von Wasserstoff den Einsatz von Small Modular Reactors (SMR) in Betracht zieht.

VSE-Studie
Der Einsatz von Small Modular Reactors (SMR – in rot) würde den Strom-Importbedarf reduzieren.
Quelle: VSE

SMR laut Studie «nicht wirtschaftlich»

Stichwort SMR: Diesen Kernreaktor-Typ bezieht die Studie nur am Rande mit ein – als «Sensitivitätsanalyse». Ein möglicher Zubau von SMR der neusten Generation wurde ab 2040 berücksichtigt. Als flexible Kraftwerke wären sie gemäss Studie vergleichsweise teuer, da sie nicht unter Volllast (d.h. 8000 Stunden im Jahr) laufen würden. Als Grundlastkraftwerke würden sie zwar den Importbedarf reduzieren, aber den «Kapazitätsbedarf der Wasserstoffkraftwerke nicht wesentlich, weil ein ähnlicher Kapazitätsbedarf für den Ausgleich der PV- und Winderzeugung weiterhin notwendig ist.» Diese Einschätzung für die SMR gilt «unter der Bedingung einer stark ausgebauten Wasserstoff-Infrastruktur». Insgesamt zeigt auch diese Studie auf, dass eine sichere und klimafreundliche Energieversorgung bis 2050 eine enorme Herausforderung mit zahlreichen Unsicherheiten ist. Unter der Prämisse des schrittweisen Atomausstiegs spielen auch in den VSE-Prognosen Stromimporte eine wachsende Rolle. Dass die Schweiz offenbar auch beim Hoffnungsträger Wasserstoff auf ausländische Handelspartner angewiesen sein wird, ist keine gute Nachricht für die Versorgungssicherheit. Das Neubauverbot verhindert, sich mit der Option Kernenergie überhaupt konstruktiv auseinanderzusetzen und diese in mögliche Szenarien einzubeziehen. Alles deutet darauf hin, dass der Weg dahin schwierig werden wird und vieles deutet darauf hin, dass es ohne Kernenergie noch viel schwieriger wird.

Verfasser/in

Stefan Diepenbrock, Leiter Kommunikation Nuklearforum Schweiz

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