Umstieg von Kohle auf Kernenergie
Einige Länder wollen aus Klimaschutzgründen ihre Kohlekraftwerke schliessen und stattdessen dort Kernkraftwerke bauen. Sie versprechen sich davon Synergien. Eine Studie von Forschenden der University of Michigan bewertete die Machbarkeit der Umnutzung von 245 in Betrieb befindlichen Kohlekraftwerken in den USA durch fortgeschrittene Kernkraftwerkseinheiten und liefert damit wertvolle Erkenntnisse für politische Entscheidungsträger und Versorgungsunternehmen.

Das amerikanische Department of Energy (DOE) betrachtet die Umstellung von Kohlekraftwerken auf Kernkraftwerke («Coal-to-Nuclear») als vielversprechende Option, um emissionsarme Energiekapazitäten zu schaffen und gleichzeitig die wirtschaftliche Stabilität und Arbeitsplatzsicherheit in Gemeinden zu erhalten, die bisher auf Kohle angewiesen waren. Die Kernkraft biete eine zuverlässige Grundlastversorgung ähnlich wie Kohlekraftwerke, jedoch ohne die CO₂-Emissionen. Daher sieht das DOE in dieser Umnutzung eine Möglichkeit, sowohl die Klimaziele zu erreichen als auch bestehende Infrastrukturen weiterzuverwenden und Arbeitsplätze zu erhalten.
Eine Studie des DOE aus dem Jahr 2022 ergab, dass Hunderte von Kohlekraftwerksstandorte für die Kernenergie umgenutzt werden könnten, um sauberen Strom zu erzeugen und die lokale Wirtschaft zu beleben. Ein aktuellerer Bericht des DOE von September 2024 schätzt, dass bis 2035 an den Standorten stillgelegter Kohlekraftwerke 128–174 GW an neuer Kernkraftkapazität errichtet werden könnten.
Die im Juni 2024 im Journal Energy Reports veröffentlichte Studie «Investigation of potential sites for coal-to-nuclear energy transitions in the United States» analysierte systematisch das Potenzial für den Umstieg von Kohle zu Kernenergie in den USA. Dabei wurden sozioökonomische, sicherheits- und standortbezogene Faktoren berücksichtigt, um geeignete Standorte für neue Reaktoren zu identifizieren. Die 245 untersuchten Kohlekraftwerke wurden in zwei Leistungsklassen eingeteilt. Die zwei am besten geeigneten Standorte sind das Kohlekraftwerk R. M. Schahfer in Indiana für die Klasse unter 1000 MWe und AES Petersburg in Indiana für die Klasse von über 1000 MWe.
Warum sollte von Kohle auf Kernkraft umgestellt werden?
Der Übergang von Kohle auf Kernkraft bietet laut Studie erhebliche wirtschaftliche und ökologische Vorteile.
Wirtschaftliche Vorteile: Durch die Umstellung bestehender Kohlekraftwerksstandorte auf Kernenergie können Kosten von 15–35% im Vergleich zu Neubauten eingespart werden, da Übertragungsleitungen, Büros und andere Infrastrukturen weiter genutzt werden. Die Autoren schätzen, dass solche Umstellungen für grössere Standorte etwa 650 Arbeitsplätze und einen wirtschaftlichen Mehrwert von rund USD 275 Mio. generieren können, was in vielen Fällen etwa 25% höhere Gehälter bedeutet als in anderen Energiebranchen.
Positiver Einfluss auf die Klimastrategie: Die Autoren weisen darauf hin, dass Kernenergie eine kohlenstofffreie Alternative zur Kohle darstellt und dabei eine stabile Grundlastenergie liefert. Mit dem schrittweisen Rückzug von Kohlekraftwerken innerhalb der nächsten 15 Jahre in den USA könnte die Umstellung auf Kernkraft wesentlich zur Erreichung der Klimaziele beitragen, ohne die Netzstabilität zu gefährden.
Regionale Einflüsse und zukünftige Planungen: Die Studie unterstreicht, dass eine «Coal-to-Nuclear»-Umstellung von der Unterstützung durch Regierung, Bundesstaaten und Gemeinden abhängig sei. Faktoren wie regionale Arbeitsmarktbedingungen und politische Rahmenbedingungen können die Machbarkeit stark beeinflussen. Langfristig könnte diese Umstellung ein wichtiger Baustein für die Dekarbonisierungsziele und die wirtschaftliche Stabilität der betroffenen Regionen sein.
«Die Studie bietet einen Top-Down-Ansatz zur Bewertung des Potenzials für den Übergang von Kohle zu Kernkraft an verschiedenen Kohlestandorten. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass weitere geologische Untersuchungen vor Ort, Umweltverträglichkeitsprüfungen und der Einbezug der Bevölkerung notwendig sind, bevor endgültige Entscheide über die Genehmigung von Reaktoren getroffen werden», betonen die Autoren.
<strong>Umstellung von Kohle auf Kernenergie: die Herausforderungen</strong><strong></strong>
Das DOE weist darauf hin, dass die Umwandlung von Kohlestandorten mit erheblichen Herausforderungen verbunden ist, da nur einige von ihnen die regulatorischen, geografischen und technischen Anforderungen erfüllen könnten.
Da es keinen Präzedenzfall für die Umstellung von Kohle- auf Kernkraftwerke gibt, könnten sich das behördliche Verfahren und die Genehmigung durch die Nuclear Regulatory Commission (NRC) als langwierig erweisen, was die finanzielle Belastung für Versorgungsunternehmen und Gemeinden erhöht. Um dem entgegenzuwirken, verabschiedete der Kongress im Juli 2024 das sogenannte Advance-Gesetz, das von der NRC verlangt, die Genehmigungsgebühren zu senken und das Personal aufzustocken, um die Prüfung neuer Kernreaktoren zu beschleunigen.
Die Verwendung bestehender Infrastruktur stelle ebenfalls eine Herausforderung dar. Während Übertragungsleitungen und Kühlsysteme wiederverwendet werden könnten, würden andere Komponenten möglicherweise nicht den nuklearen Standards entsprechen. Jacopa Buongiorno, Professor für Nuklearwissenschaft und -technik am Massachusetts Institute of Technology (MIT), erläutert, dass Kühltürme, Wasserpumpen, Schaltanlagen und Zufahrtsstrassen weiterverwendet werden könnten. Allerdings sei dies beispielsweise bei internen Systemkomponenten nicht der Fall, da die Wartung in Kohlekraftwerken weniger streng sei.
Der Übergang von Kohle zu Kernkraft bietet die Möglichkeit, Kohlekraftwerksmitarbeiter umzuschulen, damit ihre Fähigkeiten den Anforderungen des Betriebs eines Kernkraftwerks entsprechen. Dennoch werde umfangreiche Schulung erforderlich sein. TerraPraxis – eine NGO für Energieinnovationen – hebt hervor, dass Berufsfelder wie Elektriker in beiden Sektoren zwar ähnlich seien, aber etwa ein Viertel der Arbeiter eine umfassende Umschulung benötigen würden. «Stellen in dieser Kategorie erfordern häufig Zulassungen, bestimmte Diplomabschlüsse oder eine bestimmte Anzahl an Ausbildungsjahren», erklärte Jon-Michael Murray, Direktor des Repower-Programms bei TerraPraxis.

Auch die Finanzierung von Projekten zur Umwandlung von Kohle zu Kernkraft stellt laut DOE eine Herausforderung dar. In den USA bietet der Inflation Reduction Act zwar erhebliche finanzielle Anreize – darunter Steuergutschriften und Zuschüsse – aber der Zugang zu diesen Mitteln erfordere Fachwissen und Koordination. Die DOE-Initiative Gateway for Accelerated Innovation in Nuclear (Gain), eine öffentlich-private Partnerschaft, unterstützt die Gemeinden ebenfalls mit technischer Hilfe und Forschung, aber vielen lokalen Regierungen fehlen die Ressourcen, um diese Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Die wirksame Nutzung dieser Anreize wird für den Erfolg des Übergangs von Kohle auf Kernenergie entscheidend sein, so die Studie.
Das DOE hat die Herausforderungen erkannt und 2024 einen Leitfaden veröffentlicht, der den Beteiligten helfen soll, technische, wirtschaftliche und soziale Hindernisse bei der Umstellung von Kohle auf Kernenergie zu überwinden.
Der Übergang von Kohle zu Kernkraft bietet einen vielversprechenden, jedoch komplexen Ansatz, um eine nachhaltige Energiezukunft zu erreichen. Er erfordert starke Unterstützung seitens der politischen Entscheidungsträger, innovative Strategien der Versorgungsunternehmen und die Akzeptanz der Bevölkerung. Mit koordinierten Anstrengungen könnten diese Umrüstungen zu einem Eckpfeiler der globalen Dekarbonisierungsbemühungen werden.
Über die USA hinaus
Neben den USA erkunden weitere Länder die Umstellung von Kohle zu Kernkraft.
China ist der grösste Kohleverbraucher und grösste Produzent von Treibhausgasen. Das Land will bis zum Jahr 2060 klimaneutral sein und setzt dabei stark auf die Kernkraft. Laut der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) betreibt China 57 Kernenergieeinheiten und 28 sind in Bau. Zudem wurden weitere Bauprojekte genehmigt. Die Umnutzung von Kohlekraftwerksstandorte für die Kernkraft könnte das Erreichen dieses Ziels beschleunigen.
In Europa ist Polen führend bei Plänen zum Ersatz von Kohle mit Kernenergie. Das stark kohleabhängige Land plant den Bau von mindestens zwei grossen Kernkraftwerken mit staatlicher finanzieller Unterstützung: eines am Standort Lubiatowo-Kopalino nahe der Ostseeküste in Pommern und eines an einem der Standorte Bełchatów, Konin, Kozienice oder Połaniec. Bełchatów ist der grösste Kohlekraftwerkskomplex des Landes, aber auch an den anderen in Frage kommenden Standorten für das zweite Kernkraftwerk Polens gibt es stillzulegende Kohlekraftwerke.
Die Slowakei und die Tschechische Republik prüfen ebenfalls solche Möglichkeiten, um die Klimaziele der EU zu erreichen.
Verfasser/in
M.A. nach Studie «Investigation of potential sites for coal-to-nuclear energy transitions in the United States». In: Energy Reports, Volume 11, June 2024, p. 5383–5399 [DOI: 10.1016/j.egyr.2024.05.020] und NucNet, 23. Oktober 2024