Warum die Kernenergie sinnvoll ist und nötig bleibt

Argumente für eine unideologische Energiewende von Eduard Kiener

Der ehemalige Direktor des Bundesamtes für Energie Eduard Kiener legt seine Sicht auf die Energiepolitik der Schweiz dar. Sein Lösungsvorschlag umfasst den verstärkten Ausbau der Erneuerbaren, die rasche Bereitstellung neuer Kernenergie, neue und insbesondere saisonale Speicher sowie einen Netzaus- und Umbau.

15. Juli 2022
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Die drei in der Schweiz in Betrieb stehenden Kernkraftwerke Leibstadt, Gösgen und Beznau (vlnr.) leisten einen wichtigen Beitrag zur Stromversorgung.

1. Bemerkungen zu den Energieperspektiven 2050+

Bis 2050 soll die Energieversorgung aus Sicht des Bundesrats bekanntlich voll aus erneuerbaren Quellen erfolgen und klimaneutral sein, mit Netto-Null veranschaulicht. Dazu schlägt er mit der hängigen Revision von Energie- und Stromversorgungsgesetz quantitative Ziele für die Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen und für den Energie- und Stromverbrauch vor. Diese sind den Energieperspektiven 2050+ vom November 2020 entnommen. Die Szenarien der Energieperspektiven 2050+ sollen «mögliche zukünftige Realitäten abbilden»[1] und können demnach als Referenzentwicklungen für die offizielle Energiepolitik herangezogen werden. Sie müssen die künftige Entwicklung der Energieversorgung unter Einbezug der Dekarbonisierung des Gebäudebereichs, der Mobilität und in der Wirtschaft aufzeigen. Dabei steht die Stromversorgung im Zentrum, denn die Energiezukunft ist weitgehend elektrisch. Im Folgenden wird das Szenario ZERO Basis berücksichtigt.
Man erhält aus der Lektüre der Szenarien den Eindruck, dass die Studienbeauftragten, welche die Energieperspektiven erarbeiteten, die technologische Entwicklung, ihre Restriktionen und die wirtschaftlichen Annahmen nach bestem Wissen und Gewissen unterstellt haben. Allerdings herrscht trotzdem da und dort Wunschdenken, etwa beim Ausbau der Erneuerbaren oder des gesamten Energiesystems. Die Erhöhung der saisonalen Speicherkapazität wird vernachlässigt, ebenso die graue Energie.
Entscheidender für die Versorgungssicherheit und ihre Beurteilung sind aber die zwei grundlegenden Ungereimtheiten der Energieperspektiven 2050+:

  • Es werden ausgeglichene Strom-Jahresbilanzen betrachtet. Sie waren bisher dank Sommerüberschüssen meist positiv, das Kalenderjahr 2021 brachte aber bereit einen beachtlichen Importüberschuss von 2,4 TWh. Die Jahresbilanzen werden zunehmend negativ, erst zur Jahrhundertmitte scheinen sie ausgeglichen zu werden. Eine ausgeglichene Strom-Jahresbilanz ist jedoch irrelevant, massgebend für uns bleibt dieWinterbilanz. Sie sieht zunehmend negativer aus. Im Winter 2021/22 betrug der Importüberschuss bereits 7,8 TWh. Auch weiterhin wird im Winter die Stromerzeugung geringer als im Sommer sein, der Verbrauch dagegen grösser. Die winterliche Stromversorgung wird immer auslandabhängiger. Im Szenario ZERO Basis beträgt im Jahr 2035 der ermittelte Winter-Importbedarf 15 TWh oder 38,5 % des Verbrauchs; 2050 sind es immer noch 9 TWh. Dies trotz massivem Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen, v.a. aus Fotovoltaik.
  • Die Studienbeauftragten gehen wie die Bundesbehörden von der Annahme aus, es könne stets ausreichend Strom eingeführt werden. Dies ist sehr fragwürdig, stehen doch auch alle Nachbarländer vor der Problematik, die fossilen Energien ersetzen zu müssen, Deutschland auch die Kernenergie, und Frankreich hat Mühe, den Nuklearpark zu erneuern.

Deshalb ist die bei der Veröffentlichung der Energieperspektiven 2050+ verkündete Frohbotschaft der Bundesbehörden: „Wichtigstes Ergebnis des Szenario ZERO Basis ist, dass sowohl das Netto-Null-Klimaziel als auch die Ziele der Energiestrategie mit den heute verfügbaren oder in Entwicklung stehenden Technologien erreicht werden können.“[2] unzulässig und irreführend. Heute tönt es anders, will doch der Bundesrat Notfallmassnahmen auf dem Dringlichkeitsweg einführen. Selbst wenn das Netto-Null-Ziel im Kalenderjahr 2050 erfüllt würde, wäre die Stromversorgung wegen dem auch dannzumal noch hohen Winter-Importbedarf nicht gesichert. Zudem ist zu vermuten, dass die in den Energieperspektiven 2050+ beschriebenen Szenarien zu optimistisch sind.
Im Grunde sind die ES 2050 und die EP 2050+ Stromimportstrategien. Wer sich demgegenüber für eine Stromerzeugung ausspricht, welche den Bedarf jederzeit decken kann, dem wird vorgehalten, Autarkie anzustreben. Darum geht es nicht, sondern um eine nicht vom Ausland abhängige Stromversorgung, die als starker Partner in das europäische Stromnetz integriert ist. Dazu muss sie auch im Winter die inländische Nachfrage selbst bei europäischen Mangellagen decken können.

[1] Medienmitteilung BFE vom 26.11.2020

[2] ebenda

Strom Jahresverlauf Schweiz
Saisonale Schwankungen der Stromproduktion: Im Winter muss die Schweiz jeweils Strom importieren, mehr als sie im Sommer exportieren kann.
Quelle: Nuklearforum Schweiz

2. Versorgungsoptionen: Rein erneuerbar oder mit Kernenergie?

Das langfristige Klimaschutzziel (Netto-Null) verlangt die Dekarbonisierung des gesamten Energiesystems bei stets gesicherter Versorgung - eine gewaltige Herausforderung. Als Ersatz für die fossilen Brenn- und Treibstoffe stehen nur die erneuerbaren Energien und die Kernenergie zur Verfügung. Unbestritten ist, dass die erneuerbaren Energien möglichst ausgebaut werden müssen. Die Frage ist, ob sie die Energiebedürfnisse allein decken können und sollen oder ob nicht die Strategie Erneuerbare und Kernenergie zielführender wäre.
Die Wasserkraft bleibt die wichtigste Säule der Stromversorgung, ihre zusätzlich mögliche Stromerzeugung ist aber bescheiden. Bei den neuen erneuerbaren Energien (nEE) dominiert das Potential der Fotovoltaik; die mögliche Stromerzeugung aus Wind, Biomasse und erstrecht Geothermie wird bescheiden bleiben. In der Jahrhundertmitte sollen die nEE gemäss den Energieperspektiven 2050+ etwa gleich viel Strom liefern wie heute die Wasserkraft, der Grossteil wird Fotovoltaik sein.
Die Zuwachsraten der nEE sind allerdings viel zu gering. Zwar wurden für 2021 Zubau-Höchstwerte und aktuell ein Solar-Boom vermeldet, die Zuwachsraten müssen aber dauerhaft mindestens verdoppelt werden, wenn die hochgesteckten Ziele erreicht werden sollen. Dazu wären wohl höhere, zeitlich unbegrenzte Subventionsmittel und auch raumplanerische Massnahmen für PV-Freiflächenanlagen nötig.
Die angestrebte erneuerbare Stromversorgung wird deshalb technisch immer schwieriger zu beherrschen. Mit dem steigenden Anteil fluktuierender, nicht steuerbarer Einspeisung werden zunehmend Strukturänderungen des Stromsystems nötig. Insbesondere sind neue Speicher- und Regelkapazitäten erforderlich. Batterien können hier tageweise helfen, der überwiegende Teil der Speicherung und der Regelung wird jedoch von der Wasserkraft zu übernehmen sein. Deren Saisonspeicher müssen dringend ausgebaut werden, dies ist für den künftigen Betrieb des Stromsystems und die Versorgungssicherheit essentiell. Die Möglichkeiten für Neubauten und Staumauererhöhungen sind aber sehr begrenzt, wie ETH-Studien gezeigt haben. Das maximale Ausbaupotential der Speichervergrösserung wird mit 2,8 TWh beziffert, realistisch sind m.E. höchstens 2 TWh. Damit können die künftig anfallenden Sommerüberschüsse aus der Fotovoltaik nur zum kleinen Teil gespeichert werden. Es ist trotzdem unerlässlich, dass die am Runden Tisch Wasserkraft Ende 2021 ausgewählten Projekte realisiert werden.

Kernkraftwerk Mühleberg
Mühleberg wurde Ende 2019 als erstes Kernkraftwerk der Schweiz stillgelegt.
Quelle: BKW

3. Mit Kernenergie!

3.1 Energiewirtschaftlicher Nutzen

Angesichts obiger Befunde ist unausweichlich, die Kernenergiefrage erneut zu diskutieren. Langsam verbreitet sich die Einsicht, dass es notwendig und richtig ist, die bestehenden KKW solange in Betrieb zu halten, als sie sicher sind. Überzeugte Gegner der Kernenergie werden allerdings unabhängig von Versorgungs- und Klimaargumenten weiterhin die möglichst rasche Abschaltung der KKW verlangen. Vieles spricht aber dafür, die Kernenergie auch längerfristig zu nutzen.
Wenn die Grundlast weiterhin zu einem grossen Teil durch Kernenergie gedeckt wird, verringert dies den Strukturänderungs- und Ausbaubedarf des Stromsystems markant. Der Ersatz der Bandenergie aus Kernkraftwerken durch volatile, nicht steuerbare Erzeugung ist deshalb energetisch und ökonomisch grundsätzlich verkehrt.

3.2 Vorteilhaft für das Klima

Jede Anlage zur Energiebereitstellung erfordert mehr oder weniger Materialinvestitionen und ist deshalb mit sogenannter grauer Energie belastet. Es gibt also grundsätzlich keine CO2-freie Energie. Umfassende Lebenszyklusanalysen u.a. des PSI haben nachgewiesen, dass bezüglich spezifischem Treibhausgasausstoss die Wasserkraft am besten abschneidet, es kommt mit kleinem Abstand die Kernenergie, dann folgen die nEE; die fossile Stromerzeugung ist um eine bis zwei Grössenordnungen schlechter.
Die Politik weigert sich beharrlich, diese wissenschaftlichen Resultate zur Kenntnis zu nehmen, weil sie etablierte Vorurteile in Frage stellen. Sie kommen auch in bundesrätlichen Botschaften kaum zur Sprache. Da wird lieber von klimafreundlichem Ökostrom geredet.
Die Kernenergie ist schon bei der Stromproduktion günstiger für das Klima als die nEE und sie benötigt auch keine ebenfalls CO2 verursachende Speicherung. Wenn eine voll erneuerbare Stromversorgung von einer Dunkelflaute betroffen wird und zwangsläufig fossile Erzeugung einspringen muss, steigt die Klimabelastung zusätzlich. Der Ausstieg aus der Kernenergie schadet dem Klima – diese Feststellung wird bis weit ins bürgerliche Lager nicht gerne gehört.

3.3 Kostengünstigere Energiewende

Die Kernenergie sei unwirtschaftlich und die Fotovoltaik längst kostengünstiger. Die Stromwirtschaft investiere deshalb nicht in neue Kernkraftwerke. Sie investiert aber auch wenig in inländische erneuerbare Stromerzeugung und zieht es vor, ihre in der Schweiz erzielten Gewinne für den Kauf von oftmals subventionierten ausländischen Wind- und Fotovoltaikanlagen einzusetzen. Diese nützen unserer Versorgung nichts.
Wie sieht der Vergleich der Stromproduktionskosten wirklich aus?

  • Die Kosten der Fotovoltaik haben sich in den letzten Jahrzehnten vor allem wegen den massiv sinkenden PV-Modulkosten stark reduziert. Fotovoltaik ist heute eine ausgereifte Technologie mit abnehmender Kostenreduktion, wie auch die aktuelle Marktbeobachtungsstudie[1] zeigt. Die dort ausgewiesenen spezifischen Investitionen machen aber auch deutlich, dass die Produktionskosten des Solarstroms längst nicht so tief sind, wie immer wieder behauptet. Dass die Fotovoltaik nicht wirklich wirtschaftlich ist und sich am Markt behaupten kann, wird dadurch manifestiert, dass letzthin die Investitionssubventionen auf bis zu 60 % angehoben wurden. Nicht umsonst verlangt die Sonnenenergie-Lobbyorganisation Swissolar mehr Subventionsmittel durch einen höheren Netzzuschlag. In einer korrekten Wirtschaftlichkeitsrechnung muss aber noch berücksichtigt werden, dass der Solarstrom zu etwa 70 % im Sommer anfällt, mit geringem oder gar negativem Marktwert.
  • Windstrom weist einen höheren Winteranteil auf, ist aber trotzdem teurer als Fotovoltaik, wie die bezahlten hohen KEV-Beiträge zeigen.
  • Die Stromerzeugung aus Biomasse und Geothermie haben ein bescheidenes Potential, sind teuer und fallen deshalb für Kostenvergleiche nicht in Betracht.

Für den Wirtschaftlichkeitsvergleich mit der Kernenergie ist bei den neuen Erneuerbaren die Fotovoltaik heranzuziehen:

  • Für ein neues 1 GW-KKW seien hier Investitionskosten von 8 Mia. Fr. angenommen, das ist spezifisch noch mehr als bei den aus dem Ruder gelaufenen französischen KKW-Projekten (koreanische Anlagen in den Vereinigten Arabischen Emiraten wurden, bzw. werden zu weniger als der Hälfte dieser spezifischen Kosten erstellt). Daraus ergeben sich der Gestehungskosten von 8 – 10 Rp./kWh.
  • Für die gleiche Jahreserzeugung ist eine PV-Leistung von 8 GW zu installieren, mit angenommenen durchschnittlichen Investitionskosten von 1500 Fr./kWp, bzw. insgesamt 12 Mia. Fr. Der Solarliteratur können die Gestehungskosten für die Anlagen der Leistung 10 – 30 kWp mit 12,9 Rp/kWh[2] entnommen werden; die durchschnittliche Anlagenleistung ist deutlich kleiner als 30 kWp, die Kosten sind also noch etwas höher.

Schon bezüglich der Jahreserzeugung ist die Kernenergie also kostengünstiger als die Fotovoltaik. Noch mehr trifft dies für den Winter zu, weil für die gleiche Stromproduktion noch ein Drittel mehr PV installiert werden muss. Bei der fluktuierenden Einspeisung von PV und Wind sind zudem die Kosten der Bedarfsanpassung durch Speicherung, durch die Verwertung temporärer Überschüsse (PtX) und der gegenüber Bandenergie höhere Regulieraufwand zu berücksichtigen.

Kernkraftwerk Leibstadt
Das jüngste und grösste Schweizer KKW in Leibstadt hat den Betrieb 1984 aufgenommen.
Quelle: Max Brugger

3.4 Kernenergie ist kein Auslaufmodell

Einige Länder wie Deutschland, Österreich, Italien und die Schweiz wollen auf die Kernenergie verzichten, andere sind aus dem Ausstieg ausgestiegen oder wollen sie ausbauen oder neu nutzen. Gebaut wird vor allem in Asien. In verschiedenen Staaten werden die zugelassenen Betriebsdauern auf 60 Jahre und mehr verlängert. Wer die Dekarbonisierung ernst nimmt, darf die Kernenergie nicht ausschliessen.
Mit der Generation III/IIIa stehen Kernkraftwerke zur Verfügung, die gegenüber den heute bei uns genutzten, immer wieder nachgerüsteten Anlagen der Generation II noch um Grössenordnungen sicherer sind. Der einzige europäische Anbieter, die französische Areva, kommt jedoch mit dem Bau ihrer EPR weder in Finnland noch im eigenen Land richtig voran, die Konsequenzen sind grosse Zeit- und Kostenüberschreitungen. Die europäische Nuklearindustrie muss ihre verlorene Fähigkeit zurückgewinnen, effizient sichere KKW zu bauen, damit die Kernenergie ihren notwendigen Beitrag zu einer ausreichenden und klimaschonenden Energieversorgung liefern kann. Asiatische Anbieter zeigen, wie dies geht.
In der politischen Diskussion um neue Stromerzeugung wird immer betont, neue KKW kämen zu spät. Nur: Was sind die Alternativen? Konkret geht es darum, ob die erforderliche Winterproduktion schneller durch Kernenergie oder durch Fotovoltaik bereitgestellt werden kann. Dies sei anhand eines neuen 1 GW-KKW und der entsprechenden PV diskutiert:

  • Es bestanden drei Projekte für neue KKW, die ohne Not aus politischen Gründen aufgegeben wurden. Vorerst könnte eines dieser Projekte wieder aufgenommen werden. Annahme: Projektschritte werden parallel vorangetrieben.  Zuerst müsste das Rahmenbewilligungsverbot durch Parlamentsbeschluss aufgehoben werden (2 Jahre). Rahmenbewilligung 4 Jahre nach Projektstart, Referendum 2 Jahre, Baubewilligung 2 Jahre, Baubeginn also 8 Jahre nach Projektstart, Baudauer 6 Jahre, Realisierungsdauer also 14 Jahre. Wichtigste Voraussetzung dazu wäre der politische Wille und die Investitionsbereitschaft der Elektrizitätswirtschaft.
  • Für die gleiche Winterenergie wie jene eines neuen Kernkraftwerks (4 TWh) muss, optimistisch gerechnet, Fotovoltaik mit einer Leistung von 13 GW installiert werden, d.h. 65 km2 PV-Fläche bzw. das 3,7-fache der seit Förderbeginn 2009 gebauten Fotovoltaik. Sollen die 13 GW innert gleicher Frist wie ein neuen KKW realisiert werden, sind jährlich 0,93 GW zuzubauen. Das ist noch die Hälfte mehr als der von Swissolar für 2021 angegebene Rekordzubau und es ist offen, ob die erforderliche deutlich höhere Zubaurate erreicht und dauerhaft erhalten werden kann. Wichtigste Voraussetzungen dafür wären die Investitionsbereitschaft vor allem der Liegenschaftsbesitzer, aber auch die Verfügbarkeit der nötigen Fachkräfte und des Materials. Die Förderung soll gemäss den Versprechen vor der Volksabstimmung zur Energiestrategie 2050 bekanntlich befristet sein, wurde aber bereits verlängert; an eine Erhöhung des Netzzuschlags und damit der verfügbaren Mittel hat sich die Politik noch nicht gewagt.
Kernkraftwerk Beznau
Die beiden Reaktoren des Kernkraftwerks Beznau heben einne Nettoleistung von je 365MW.
Quelle: Max Brugger

Der Zubau von neuer erneuerbarer Stromerzeugung und die Realisierung eines neuen Kernkraftwerks mit gleicher Winterproduktion erfordern also etwa gleich viel Zeit, beide mit terminlicher Unsicherheit behaftet. Nun ist aber zu beachten, dass das sich abzeichnende Wintermanko grösser als 4 TWh ist. Wie eingangs erwähnt, fehlen 2035 im Szenario ZERO Basis der Energieperspektiven 2050+ in den Wintermonaten 15 TWh Strom. Selbst bei einer Verlängerung der KKW-Betriebszeit muss zeitweise mit einem Defizit von 10 TWh gerechnet werden. Dieses könnte offensichtlich allein mit nEE nicht rechtzeitig gedeckt werden. Schon deshalb ist die Kernenergie weiterhin nötig.
Allerdings wird es trotz Ausbau der nEE und einem KKW-Neubau noch lange nicht gelingen, im Winter unabhängig von Stromimporten zu werden. Deshalb ist alles daran zu setzten, dass die bestehenden KKW länger als während der vom Bund bisher unterstellten Betriebsdauer von 50 Jahren sicher weiterproduzieren können.
Daneben muss die neue Speicherreserve zunehmend ausgereizt werden. Die vom Bundesrat ebenfalls vorgeschlagenen Gaskraftwerke sind dagegen bezüglich Klimaschutz und Versorgungssicherheit nicht sinnvoll. Auf Vorbehalte wegen der kritischen Lage der Gasversorgung folgt jeweils die Reaktion, die Kernenergie sei ebenfalls auslandabhängig. Da besteht aber ein gewichtiger Unterschied zu Öl und Gas, die überwiegend aus autoritären und menschenrechtsfeindlichen Staaten stammen. Uran, Anreicherung und Brennelemente können aus westlichen Ländern bezogen werden und Brennelemente lassen sich günstig jahrelang lagern. Übrigens ist auch die Fotovoltaik auslandabhängig, stammen doch die Zellen grösstenteils aus China.

3.5 Die politische Situation

Gegen neue Kernkraftwerke wird angeführt, das Stimmvolk habe 2017 mit der Annahme der Energiestrategie 2050 den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen; dies ist formell richtig. Entspricht es auch dem Volkwillen?
Im Jahr 2016, also nach dem Kernkraftwerkunfall in Fukushima, haben die schweizerischen Stimmenden eine Ausstiegsinitiative mit 54,2 % Nein-Stimmen deutlich abgelehnt. Dass neue KKW nicht von Vornherein chancenlos sind, zeigt auch eine Volksabstimmung im Kanton Bern, wo 2011 ein neues KKW in Mühleberg befürwortet wurde. Die Mehrheit betrachtete offensichtlich in beiden Abstimmungen die Kernenergie weiterhin als nötig. Und die Abstimmungsanalyse im Nachgang zum Energiestrategie-Votum 2017 hat ergeben, dass nur für eine Minderheit von 38 % der Stimmenden der Kernenergieausstieg Hauptgrund für ein Ja zur Energiestrategie war.
Bei der Energiestrategie 2050 ging es um viel mehr als nur um die Kernenergie, nämlich um eine verstärkte Energiepolitik mit der wohltönenden Floskel «Energiewende». In der Bevölkerung wurden hohe Erwartungen geweckt. Die Kernenergie könne durch die vorgeschlagenen Massnahmen bis 2050 ersetzt werden, notfalls würden vorübergehend einige wenige Gas-Kombikraftwerke gebraucht. Diese schönen Versprechungen wurden von 78 % der Stimmenden geglaubt und waren wohl die Motivation für viele Ja. Im Abstimmungskampf hörte man deshalb häufig das Motto, jetzt müsse endlich etwas gehen. Das Ja zur Energiestrategie 2050 war nicht primär eines gegen die Kernenergie, sondern eines für mehr Effizienz und für erneuerbare Energien.
Spätestens nachdem das zweite Massnahmenpaket, das Klima- und Energielenkungssystem (KELS) im Parlament sang- und klaglos versenkt war, wurde das Scheitern der Energiestrategie 2050 klar. Es ist nicht zu erkennen, wie ihre Ziele noch erreicht werden sollen; noch mehr gilt dies für die noch anspruchsvolleren Ziele von Netto-Null. Die Ablehnung des CO2-Gesetzes im Juni 2021 macht diesbezüglich auch nicht gerade Hoffnung.
In dieser wenig erbaulichen Situation und den trüben energiepolitischen Aussichten darf die Kernenergie nicht weiter tabuisiert werden. Leider besteht diesbezüglich selbst bei bürgerlichen Parteien und Wirtschaftsverbänden eine Denkhemmung. Es ist höchste Zeit, endlich den unergiebigen Gegensatz Erneuerbare oder Kernenergie durch ein konstruktives Zusammenwirken abzulösen.
Die Energiepolitik betont immer wieder, die Elektrizitätswirtschaft wolle gar nicht in neue Kernkraftwerke investieren. Dafür gibt es verschiedene Gründe: das Rahmenbewilligungsverbot im KEG, der bei dessen allfälliger Aufhebung überall zu erwartende Widerstand, die überlangen Bewilligungsverfahren (die ja auch bei den erneuerbaren Energien beklagt werden) und die Strommarktverzerrungen. Zudem müssten die EVU die neuen KKW selber finanzieren; da sind politisch motivierte Finanzierungsschwierigkeiten nicht auszuschliessen. Würde die Kernenergie wie die Erneuerbaren subventioniert, wäre die Investitionsbereitschaft der Stromwirtschaft wohl rasch da.
Heute ist niemand ausdrücklich für die Versorgungssicherheit zuständig, auch die grossen EVU fühlen sich im Gegensatz zu früher nicht verantwortlich. Versorgungssicherheit ist vielerorts in den Hintergrund getreten, Stromimporte sollen es richten. Die Elektrizitätswirtschaft investiert deshalb Gewinne, die sie mit schweizerischen Kunden und von diesen finanzierten Anlagen erwirtschaftet hat, lieber in subventionierte ausländische Solar- und Windanlagen als in schweizerische Kern- und Wasserkraftwerke. Die CKW haben allerdings kürzlich die Absicht kommuniziert, massiv in inländische erneuerbare Stromerzeugung zu investieren; hoffentlich markiert dies ein Umdenken in der Stromwirtschaft.

Stromproduktion KKW
Die Stromproduktion der Schweizer Kernkraftwerke in den Jahren 2020 und 2021
Quelle: swissnuclear

3.6 Sicherheit

Die schweizerischen Kernkraftwerke sind dank vielen Nachrüstungen sicherheitstechnisch auf einem Stand, der den Weiterbetrieb noch einige Zeit zulässt. Wie bereits erwähnt, sind neue Reaktoren der Generation III/IIIa noch wesentlich sicherer. Es wäre deshalb sinnvoll, die bestehenden KKW rasch durch neue Anlagen zu ersetzen. Auf Dauer wäre dies auch wirtschaftlich günstiger.
Der Ukrainekrieg rückt die Gefahr terroristischer oder gar kriegerischer Angriffe wieder ins Blickfeld. Russland hat ukrainische Kernanlagen angegriffen, was gegen internationale Vereinbarungen verstösst. Eigentlich ist es unsinnig, dass ein Aggressor, der ein Land einnehmen will, dieses ohne Not und Nutzen nuklear kontaminiert. Aber eben – der Kriegsverbrecher Putin ist offensichtlich in einem Masse skrupellos und irrational, wie sich dies kaum jemand vorgestellt hat.
Kernkraftwerke verfügen durch ihre massive Bauweise über einen hohen Schutz gegen Unfälle und Angriffe; die schweizerischen KKW wurden mit gebunkerten Notstandssystemen nachgerüstet. Einem kriegerischen Angriff mit betonbrechenden Hohlladungsgeschossen könnten sie aber nicht standhalten. Bei neuen Reaktoren kann dem Kriegsrisiko bautechnisch und betrieblich besser als bei den bestehenden Anlagen Rechnung getragen werden; dies müsste man aufgrund der neusten Erfahrungen tun. Man könnte sie beispielsweise unterirdisch bauen.
Kernkraftwerke sind nicht die einzigen kriegsgefährdeten energietechnischen Anlagen. Auch Staumauern, Brenn- und Treibstofflager, Unterstationen und viele andere Einrichtungen weisen ein hohes Gefahrenpotential für Bevölkerung und Wirtschaft auf und könnten militärische Ziele sein. Auch auf sie kann auf absehbare Zeit nicht verzichtet werden. Dezentrale nEE-Anlagen können leichter beschädigt werden, weisen aber kein wesentliches Gefahrenpotential auf.

3.7 Entsorgung

Politik und Öffentlichkeit sehen oft die fehlende Entsorgung der radioaktiven Abfälle als (vermeintliches) Killerargument gegen die Kernenergie. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, die Entsorgung sei erst sichergestellt, wenn ein Endlager in Betrieb ist. Dies ist in der Schweiz (noch) nicht der Fall, die bestehenden KKW dürfen trotzdem weiterbetrieben werden. Die aktuelle Situation der Entsorgung spricht auch nicht gegen neue KKW. Die Machbarkeit der Endlagerung ist längst nachgewiesen und die Standortauswahl wird von der Nagra und vom Bund zielstrebig vorangetrieben. Die Entsorgungstechniken sind etabliert und die Finanzierung der Stilllegung der KKW und der Entsorgung der radioaktiven Abfälle ist geregelt.
Wegen ihrer hohen Energiedichte verursacht die Kernenergie spezifisch wenig graue Energie und Abfälle. Aufgrund der geringen Volumina ist die nukleare Entsorgung ein qualitatives und nicht ein quantitatives Problem. Die Radioaktivität der Abfälle ist erheblich, nimmt aber je nach Nuklid mehr oder weniger rasch ab.
Über das Recycling und die Entsorgung der Anlagen zur Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen und deren Finanzierung macht sich heute noch kaum jemand ernsthaft Gedanken. Die politische Situation ist die Gleiche wie beim Erlass des Atomgesetzes 1959; damals wurde auf Entsorgungsvorschriften verzichtet, um den Aufbau der Kernenergie nicht zu behindern. Es werden wegen den geringen Energiedichten der nEE grosse zu rezyklierende Materialmengen anfallen, darunter hat es auch seltene und toxische Stoffe. Wenn Strom aus Tiefengeothermie gewonnen würde, könnte auch radioaktiver Sand anfallen. Die Risiken dürften jedoch insgesamt überschaubar sein.

[1] Photovoltaikmarkt-Beobachtungsstudie 2019, BFE, Juni 2020

[2] Die Energiewende im Wartesaal, Rudolf Rechsteiner, 2021

Kernkraftwerk Gösgen
Das Kernkraftwerk Gösgen produziert acht Milliarden Kilowattstunden Strom pro Jahr und deckt damit etwa 15% des schweizerischen Stromverbrauchs.
Quelle: Nuklearforum Schweiz

4. Fazit

Die hochgesteckten energiepolitischen Ziele – erneuerbare Energieversorgung und Klimaneutralität bis Jahrhundertmitte – sind trotz Effizienzverbesserungen und Ausbau der erneuerbaren Energien realistischerweise nicht zu erreichen und die Auslandabhängigkeit bleibt hoch. Angesichts der sich weiter verschlechternden Strom-Versorgungssicherheit ist der politisch akzeptierte Weiterbetrieb der bestehenden Kernkraftwerke deshalb nötig und sinnvoll. Dringend ist aber auch der Bau von neuen Anlagen.
Die Lösung kann folglich nur lauten: Verstärkter Ausbau der Erneuerbaren und rasche Bereitstellung neuer Kernenergie. Gleichzeitig muss das gesamte Stromsystem fortentwickelt werden; es braucht neue Speicher, vor allem saisonale, und einen Netzaus- und Umbau. Es ist aber absehbar, dass all diese Vorkehren die Importabhängigkeit und damit deren Risiken erst längerfristig beseitigen können. Bis dahin bleibt die neue Speicherreserve die einzige vorbeugende Massnahme zur Versorgungssicherheit.

Eduard Kiener
Eduard Kiener, geb. 1938, ist Maschineningenieur und Nationalökonom, mit Abschluss als Dr. rer.pol.. Er war von 1977 bis 2001 Direktor des Bundesamtes für Energie und ist heute ein kritischer Beobachter der Schweizer Energiepolitik und -Branche.
Quelle: Nuklearforum Schweiz

Verfasser/in

Eduard Kiener, ehem. BFE-Direktor

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