140 Teilnehmer an der SVA-Informationstagung "Die Kernenergie im offenen Strommarkt"
An der SVA-Informationstagung vom 12./13. November 2001 in Zürich-Glattbrugg befassten sich rund 140 Teilnehmer und Referenten mit dem Thema "Die Kernenergie im offenen Strommarkt". Die in einem Tagungsband publizierten Referate geben im Hinblick auf die energiepolitischen Diskussionen den aktuellen Stand in entscheidenden Bereichen wieder. Tagungspräsident war SVA-Präsident Dr. Bruno Pellaud. In der Folge drucken wir eine Kurz-Zusammenfassung der Referate ab.
Konkurrenzfähigkeit der Kernenergie
Hans-Rudolf Gubser, Leiter der Geschäftsbereiche Kernenergie und Netze der Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK), eröffnete die Tagung mit einem Referat über Kernkraftwerke im amerikanischen Strommarkt. Eine markante Produktionssteigerung der Werke in den vergangenen Jahren, unter anderem durch eine massive Erhöhung der Arbeitsausnutzung, führte nach Gubsers Ausführungen zu einem Preisvorteil gegenüber anderen Energien: Momentan kostet eine Kilowattstunde Strom aus den amerikanischen Kernkraftwerken im Durchschnitt zwischen 2 und 2,5 Cents. Zudem fördert die Tatsache, dass viele Werke eine neue Betriebsbewilligung für 60 statt 40 Jahre Laufzeit beantragt oder bereits bewilligt erhalten haben, den Trend zu günstigen Produktionskosten der bestehenden Werke.
Die Situation auf dem europäischen Strommarkt nahm Hans-Jürgen Beuerle, Werkleiter des Kernkraftwerks Isar der E.ON Kernkraft GmbH, unter die Lupe. "Wichtig ist hier zunächst die Feststellung, dass die Zukunft der Kernenergie im Zeichen liberalisierter Strommärkte nicht nur von politischen, sondern zunehmend von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt wird", führte er aus. Am Beispiel Deutschland zeigte er, dass die Erzeugungskosten der bestehenden, weitgehend abgeschriebenen Kernkraftwerke mehrheitlich unter den Kosten vergleichbarer Kohleblöcke liege. Mit Blick der CO2-freien Kernenergie auf die Klimaschutzfrage zitierte er den deutschen Wirtschaftsminister Müller: "Es ist gut möglich, dass die ökologische Bewegung zu einer grundsätzlichen Neubewertung der Energiepolitik gelangt und in einiger Zeit den Einsatz der Kernenergie fordern wird."
Nukleare Sicherheit und Wirtschaftlichkeit
Aus der Sicht der nuklearen Aufsichtsbehörde betrachtete Dr. Albert Frischknecht, Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK), die Strommarktliberalisierung. Für die bestehenden Produktionsanlagen beschränken sich nach seinen Ausführungen die Freiheitsgrade im neuen Umfeld, in dem es um Kosteneinsparung geht, allenfalls auf die Optimierung des Produkts über die Angebotsgestaltung (Verfügbarkeit), aber vor allem auf Preissenkungen. Er wies auf die Gefahren hin, die beim Sparen im Bereich Personal und Organisation auftauchen können und postulierte, für die Sicherheitskultur seien Organisationsänderungen eine grosse Herausforderung. Im Gegenzug legte er auch dar, dass Veränderungen nicht notwendigerweise zu einer Abnahme der Sicherheitskultur führen müssen.
Sicherheit und Wirtschaftlichkeit der Kernenergie werden oft als Gegensatzpaare gesehen, obwohl sie als Ergebnis rationellen Handelns überwiegend miteinander gehen. Dies belegte Dr. Hans Fuchs, Aare-Tessin AG für Elektrizität, anhand von ausländischen Beispielen. Einzig bei älteren Reaktoren könne das Halten oder Verbessern des Sicherheitszustandes wirtschaftlich prohibitiv werden, wenn zu viele Systeme/Komponenten gleichzeitig ersetzt oder nachgerüstet werden müssen. Die wirtschaftlich geforderte Langlebigkeit und möglichst universelle Einsetzbarkeit von neuen Reaktoren bedingen ebenfalls ein hohes Sicherheitsniveau.
Weltweit existieren zwei grundlegende internationale Nuklearhaftpflicht-Konventionen: Das Übereinkommen über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie ("Pariser Übereinkommen" vom 29. Juli 1960) und das Übereinkommen über die Haftung für Nuklearschäden ("Wiener Übereinkommen" vom 21. Mai 1963). Beide Übereinkommen sollen der Bevölkerung einen angemessenen Schutz gegen allfällige Nuklearrisiken bieten, gleichzeitig der Atomindustrie nicht untragbar Haftpflichtbelastungen aufbürden. Wie Dr. Sebastiaan Reitsma von der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft ausführte, wird dies durch eine exklusive und kausale Haftung des Betreibers erreicht, die jedoch zeitlich wie auch finanziell limitiert ist.
Kostenfaktor Brennstoff und radioaktive Abfälle
Durch die Deregulierung des Strommarktes - zunächst in Amerika und England sowie durch die Erwartung der Deregulierung im übrigen Europa - ist im Betrieb der Kraftwerke (inklusive der Kernkraftwerke) ein neues Element aufgetreten: Der Kostendruck, der auch die Randbedingungen für den Betrieb der Schweizer Kernkraftwerke verändert hat. Unter diesem Kostendruck wurden verschiedene Entwicklungen eingeleitet, so beispielsweise eine spürbare Konsolidierung des Brennstoffmarktes mit dem Ergebnis, dass heute die Anzahl der Marktteilnehmer wesentlich kleiner ist als noch vor zehn Jahren. Dies führte Herbert Bay von den Nordostschweizerischen Kraftwerken NOK in seinem Referat aus. Mit dem Ende des kalten Krieges und der einsetzenden Abrüstung sind zudem neue Quellen für die Versorgung mit Uran und den Dienstleistungen des Brennstoffkreislaufs verfügbar geworden, die bei andauernder politischer Stabilität zwischen ehemals verfeindeten Blöcken die Kernkraftwerke über längere Zeit und zu günstigen Bedingungen versorgen helfen. Bay ging in seinem Referat auch auf das Umfeld der schweizerischen Kernenergiepolitik ein, die noch immer unter den Paradigmen der letzten Jahrzehnte zusätzliche Hürden für den Betrieb der bestehenden KKW und für deren Brennstoffbewirtschaftung errichtet.
Bei der Stromproduktion aus Kernenergie bilden die Entsorgungskosten einen signifikanten Teil der Stromgestehungskosten. Dies führte Hans Issler von der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) aus. Die erwarteten Kosten für die Endlagerung wiederum bilden einen wichtigen Teil der Entsorgungskosten. Gemäss aktuellen Kostenschätzungen vom August dieses Jahres werden sich die Kosten für Bau und Betrieb eines Lagers für die gesamten hochradioaktiven Abfälle aus den Schweizer Kernkraftwerken (bei einer Betriebsdauer von je 40 Jahren) dereinst auf CHF 4,4 Milliarden belaufen. Weil die Entsorgungskosten aber bereits bei der Stromproduktion berücksichtigt werden, sollte das Endlager dereinst ohne zusätzliche Abgaben realisiert werden können.
Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit
Die Umweltauswirkungen, Risiken und externen Kosten verschiedener Stromerzeugungssysteme zeigte Prof. Dr. Wolfgang Kröger, Paul Scherrer Institut (PSI), auf. So weisen Kohle und Öl gemäss zahlreichen Studien die höchsten externen Umweltkosten auf. Unter den fossilen Energien hat Erdgas die tiefsten Kosten der Umweltauswirkungen. Deutlich besser als die Fossilen schneidet die Kernenergie ab. Ihre externen Kosten sind vergleichbar mit denjenigen der erneuerbaren Energien. Bei Einbezug der sozio-ökonomischen Kriterien in die Bewertung von Energiesystemen schneidet die Kernenergie aber weniger gut ab. Erst unter der Vorgabe, dass die zukünftige Entwicklung der Kernenergie zu einer tieferen Risikoaversion in der Bevölkerung und zur Reduktion der für den radioaktiven Abfall nötigen Einschlusszeiten auf einen historischen Zeitrahmen führt, fällt die Bewertung besser als bei den anderen Energiesystemen aus.
"Kernenergie und feste Brennstoffe sind als Energieträger in Ungnade gefallen, obwohl sie einen entscheidenden - fast ausschliesslich auf die Stromerzeugung beschränkten - Anteil an der Weltenergiebilanz haben. Hat die Kernenergie ausgedient?" Dieser Frage ging Dr. Rolf Hartl, Erdöl-Vereinigung, nach. Unsicherheiten bestehen bei der Kernenergie in den Bereichen Entsorgung und Endlagerung radioaktiver Abfälle, Wirtschaftlichkeit der neuen Kraftwerksgenerationen, Reaktorsicherheit in Osteuropa und Proliferation in der Ex-Sowjetunion. Eine Renaissance der Kernenergie könnte seiner Meinung nach stattfinden, falls bei der Entsorgung eine Lösung gefunden wird.
Aus der Sicht der Ethik nahm Dr. Max G. Hillerbrand, Siemens Power Generation, die Zukunft der Kernenergie unter die Lupe. Der Referent beleuchtete dabei speziell die bisher nicht bis in die Grundlagen geklärten ethischen Probleme. Er erwähnte den Gegensatz zwischen dem Nachweis der technischen Lösbarkeit der Sicherheitsfragen bzw. der Unwahrscheinlichkeit eines möglichen Schadenfalles und dem dann immer noch vorhandenen Restrisiko. Ein Lösungsweg scheine aber erkennbar: Eine gute Kommunikation unter Berücksichtigung der Kriterien Sachbezogenheit und Redlichkeit sowie Lernoffenheit und Korrekturbereitschaft, und zwar auf allen Seiten!
Perspektiven der Schweizer Kernenergie
Die Kriterien, unter denen entschieden wird, ob die Kernenergie für den liberalisierten Markt bereit ist, müssen von den Bedürfnissen der Kunden (Preis, Umweltfreundlichkeit und Einfluss auf die Ökobilanzverbesserung) abgeleitet werden. Die Nachfrage nach Kernenergie sei bei jenem Kundensegment am grössten, das auf den Preis schaut. Dies betonte Mario Schönenberger, Betriebsleiter des Kernkraftwerks Leibstadt, in seinem Referat. Die Konkurrenzfähigkeit der Kernkraftwerke im Markt hänge zudem wesentlich von den Faktoren Sicherheit und Wirtschaftlichkeit ab. Auch bei Einbezug der Vollkosten sei das typische Schweizer Kernkraftwerk heute und - falls der Trend der Marktpreise nach oben anhält - vermehrt in der Zukunft mit relativ konjunkturresistenten variablen Kosten sehr gut auf den liberalisierten Markt vorbereitet.
Auf die zukünftigen gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Kernenergie ging die Aargauer CVP-Nationalrätin Doris Leuthard ein, die ein Ja zur Option Kernenergie unter anderem mit Hinweis auf Artikel 89 der Bundesverfassung begründete: Dort wird eine Energiepolitik stipuliert, die eine ausreichende, breit gefächerte, sichere, wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung verfolgt. Dem Schweizer Strommix mit rund 40% Kernenergie und 60% Wasserkraft habe auch der Bundesrat Rechnung getragen, indem er in seiner Botschaft zum neuen Kernenergiegesetz die weitere Nutzung der Kernenergie grundsätzlich bejaht.
Der Schweizer Nuklearindustrie steht der erste Generationswechsel bevor beziehungsweise findet längst statt. Dieser Meinung waren Alexandra Homann (Colenco Power Engeneering) und Dr. Uwe Kasemeyer (Paul Scherrer Institut) als Vertreter der Gruppe Young Generation der Schweizerischen Gesellschaft der Kernfachleute. Sie warfen die Frage auf, ob man heute noch jungen Leuten raten kann, in der Kerntechnik zu arbeiten - eine Frage, die sie für die Mehrzahl der Fälle bejahten. Das Problem der Ausbildung in der Kernenergie liege teilweise an der fehlenden Zukunftsperspektive und der dadurch fehlenden Motivation. Die Kernenergie brauche deshalb dringend eine (politisch abgesicherte) Vision. Falls in der Schweiz in den nächsten Jahrzehnten neue Werke gebaut werden und sich die technische Entwicklung als positiv erweist, gebe das jungen Berufsleuten einen neuen Antrieb, sich für die Arbeit in der Kernenergiebranche zu entscheiden.
Quelle
D.S./H.R.