30 Jahre im Kommandoraum
Das Kernkraftwerk Leibstadt feiert 2014 sein 30-jähriges Betriebsjubiläum. Willi Rey war schon vor der Inbetriebnahme dabei. Im Interview blickt er auf die Bauphase und auf eine Karriere mit vielen Höhepunkten zurück. Wenige Wochen nach einem besonderen und persönlichen Jahrestag trat Willi Rey Ende März 2014 in den wohlverdienten Ruhestand ein.

Was hat Sie dazu bewegt, im Jahr 1979 eine Stelle in der Nuklearbranche zu suchen?
Bevor ich ins Kernkraftwerk Leibstadt (KKL) kam, war ich fünf Jahre im Aussendienst tätig, auf Montage im Ausland. Dann kam die Familie und ich musste mich entscheiden, ob ich weiterhin unterwegs sein oder eher etwas Geregelteres suchen wollte. Für mich musste der neue Job etwas Spezielles sein – schliesslich gab ich dafür das Reisen auf. Letztendlich fand ich dann auch eine spezielle Arbeitsstelle. Mein älterer Bruder arbeitete damals schon in der Nuklearbranche. Deshalb habe ich mich auch dafür interessiert. Zu dieser Zeit war das KKL in Bau. Davor hatte ich schon den Bau des Kernkraftwerks Gösgen interessiert mitverfolgt. Aber um mich dort zu bewerben war es mir zu früh. Als dann Leibstadt gebaut wurde, habe ich mir gesagt, diese Chance packst du jetzt und stellst dich da vor. In diesem Sinn kam der Bau von Leibstadt für mich genau zur richtigen Zeit.
Ich war damals schon verheiratet und wir erwarteten das erste Kind. Auf einer Montage-Reise in Brüssel las ich dann durch Zufall im «Tagesanzeiger» ein Inserat für Reaktoroperateure in Leibstadt. Als ich nach Hause kam, bewarb ich mich, durfte mich vorstellen und wurde angenommen. Das war mitten in der Bauphase. Vom Reaktorgebäude stand gerade mal das Fundament. Der Bau des Kühlturms war etwas weiter fortgeschritten.
Sie haben schon fünf Jahre vor der Inbetriebnahme für das KKL gearbeitet. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Diese Zeit bestand praktisch ausschliesslich aus Ausbildung. Wir waren damals insgesamt zwölf Kollegen in der ersten Gruppe von Reaktoroperateuren. Die ersten Schichtchefs waren schon vor uns da und wurden unter anderem in den USA ausgebildet. Wir Operateure gingen direkt zum Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung (EIR) – dem heutigen PSI –, wo wir insgesamt fast ein Jahr «in die Schule gingen». Wir verstanden uns von Anfang an sehr gut und sind auch heute noch befreundet. Bei uns gibt es kaum Fluktuationen. So sind heute noch acht von diesen zwölf Kollegen beim KKL angestellt und wir machen jedes Jahr eine Art Klassenzusammenkunft. Die gute Stimmung und der Zusammenhalt haben uns sicher auch geholfen, die Verzögerungen bei den Bauarbeiten zu überbrücken. Wegen verschiedener Nachrüstungen, unter anderem auch aufgrund von Erkenntnissen aus dem Unfall in Three Mile Island, verzögerte sich der Bau des KKL um etwa zwei Jahre. Wir haben diese Zeit genutzt, um uns noch besser auf die Inbetriebnahme vorzubereiten. Wir haben uns in die Dokumentation und Theorie vertieft, Checklisten geprüft und auch den Baufortschritt intensiv und aus nächster Nähe beobachtet. Diese Nähe war ein besonderer Vorteil, konnten wird doch praktisch jede Leitung abschreiten und waren an Orten, die man heute nicht mehr einfach so betreten kann. Dadurch kennen wir die Anlage sehr genau und diese Besichtigungen während der Bauphase haben uns später bei der Arbeit geholfen. Auch das Training am Simulator in Madrid war ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung. Dort haben wir das Rüstzeug zum Fahren des Reaktors geholt. Vor der ersten Kritikalität mussten wir natürlich eine Lizenzprüfung bestehen, um nachher auch im Kommandoraum arbeiten zu dürfen. Diese Prüfung fand ebenfalls in Madrid statt. Heute haben wir im KKL unseren eigenen Simulator und müssen unseren Nachwuchs nicht mehr in Spanien ausbilden lassen.
Und wie war das dann 1984, als das KKL in Betrieb ging?
Es war ein ganz besonderes, intensives und spannendes Jahr. Nach zehn Jahren Bauzeit war es endlich soweit. Nachdem die Betriebsbewilligung am 17. Februar 1984 erteilt worden war, wurde der Reaktor mit Brennstoff beladen, begleitet von vielen weiteren Tests. Ich hatte dann das Glück, den Reaktor als erster kritisch fahren zu dürfen. Das war insofern Glück, als dass die erste Kritikalität ursprünglich für die nächste Schicht vorgesehen war. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten wir alle Tests erfolgreich abgeschlossen. Während der Spätschicht am 9. März waren wir bereit. Und so kam es, dass ich der erste Reaktoroperateur war, der das KKL «kritisch» fuhr. Das ist natürlich ein besonderer Moment, an den ich noch heute mit Freude zurückdenke. Ich freue mich besonders, dass ich den dreissigsten Jahrestag der ersten Kritikalität vor meiner Pensionierung auch noch im KKL feiern konnte.
Und was geschah nach der ersten Kritikalität?
Danach folgte bis zur Aufnahme des Leistungsbetriebs eine äusserst spannende Zeit. Vor der ersten Stromabgabe ans Netz fanden umfangreiche Inbetriebsetzungstests statt. Es wurde alles Mögliche noch einmal auf Herz und Nieren überprüft. Im Nachhinein kann man sagen, dass wir von Beginn weg eine sehr gute und sehr sichere Anlage hatten.
Sie haben nun während 30 Jahren im Kommandoraum gearbeitet. Wie hat sich Ihre Arbeit in dieser langen Zeit verändert?
Es ist wohl schon eher ungewöhnlich, dass man so lange die gleiche Arbeit macht. Das liegt sicher auch daran, dass man durch die spezifische Ausbildung sehr spezialisiert ist. Aber meine Arbeit war auch immer sehr abwechslungsreich. Sie hat sich insbesondere dadurch verändert, dass ich um 1990 die Ausbildung zum Schichtchef absolvierte, anschliessend während zehn Jahren Schichtchef-Stellvertreter war und dann zum Schichtchef befördert wurde. Dadurch hatte ich immer mehr Verantwortung. Da hat mir auch die gute Ausbildung sehr geholfen. Überhaupt haben mich die stetigen Weiterbildungen und neuen Herausforderungen auch als Mensch geprägt. Das Bewusstsein, dass man als Schichtleiter zusammen mit der Mannschaft für die ganze Anlage verantwortlich ist, das ist schon etwas sehr Spezielles. Auch die Leistungssteigerungen und andere Um- und Neubauten im Werk selber machten den Job sehr interessant. Das waren jeweils besonders spannende Phasen. Zudem sind während meiner Zeit beim KKL auch viele Freundschaften entstanden. Mir werden die 35 Jahre und alles, was ich in dieser Zeit erlebt habe, immer in guter Erinnerung bleiben.
Was hat sich im Kommandoraum selbst verändert?
Am Kommandoraum selbst wurde eigentlich nur die Möblierung geändert und die Farbe sowie Beleuchtung hinsichtlich Arbeitsklima optimiert. Die Anordnung der Pulte ist geblieben. Natürlich haben auch die Computer einiges verändert. Doch die Technologie hat sich grundsätzlich sehr gut bewährt.
Waren 30 Jahre Schichtarbeit nicht sehr anstrengend?
Schichtarbeit ist etwas Besonderes. Aber wir haben sechs Schichtgruppen und einen Schichtplan, der immer wieder auch wissenschaftlich optimiert wurde. Dadurch hat man genug Freizeit und das macht es schon einmal angenehmer. Zudem haben wir hier im KKL ein angenehmes Arbeitsklima und sind sozial gut abgesichert. Die negativen Seiten des Schichtbetriebs werden kompensiert. Natürlich muss sich die Familie anpassen. Aber die Schichtarbeit hat auch Vorteile. Zum Beispiel muss man nicht immer nach Feierabend oder am Samstag einkaufen, wenn die Stadt überfüllt ist, oder man kann auch mal unter der Woche einen Tag auf der leeren Skipiste geniessen. Und als Vater kann man Zeit mit seinen Kindern verbringen, wenn andere am Arbeiten sind.
Wie erlebt man auf der Schicht grössere Umbauten und Modernisierungsprojekte? Was macht die Mannschaft des Kommandoraums während der Revision?
Das ist jeweils die strengste Zeit! Wir von der Schicht bereiten im Prinzip die ganze Anlage auf den Stillstand vor. Wir sorgen dafür, dass die Leute auf der Anlage arbeiten können. Wir fahren gestaffelt sämtliche Systeme herunter und sichern alles. Die Stillstandsicherheit spielt eine wichtige Rolle und wir müssen mit voller Konzentration dabei sein. Die Überwachung ist fast stärker als während des Betriebs. Der Stillstand ist deswegen eine strenge, aber auch sehr spannende Zeit. Ich habe das immer gemocht, auch wenn es als Schichtchef besonders fordernd war.
Wie fühlt man sich als Mitarbeitender eines Kernkraftwerks, wenn man die öffentliche Diskussion über die Kernenergie mitverfolgt? Wie fielen die Reaktionen aus Ihrem Umfeld aus?
Die Grundeinstellung im engeren privaten Umfeld war nie ein Problem, auch nicht in der näheren Umgebung um das KKL. Mit zunehmender Distanz nimmt jedoch die Ablehnung zu. Ich selbst bin in dieser Hinsicht wohl über die Jahre etwas ruhiger geworden. Im Vorfeld einer Abstimmung habe ich einmal einen Leserbrief geschrieben, der dann auch abgedruckt wurde. Heute suche ich im privaten Umfeld die Diskussion nicht mehr. Während den letzten Jahren in Leibstadt lautete meine Devise eher: «Gib dein Bestes beim Job, aber mach es ruhig und unspektakulär». Natürlich stehe ich auch heute noch hinter der Kernenergie, insbesondere hinter der Sicherheit der Schweizer Werke. Aber auch an mir selbst sind die Ereignisse in Harrisburg, Tschernobyl und insbesondere zuletzt in Fukushima nicht spurlos vorbeigegangen. Da wurde uns jedes Mal die eigene Verantwortung deutlich vor Augen geführt. Das Frustrierende dabei war vor allem die Berichterstattung in den Medien und die entsprechende Meinung der Leute. Nach Tschernobyl stand wenigstens die Politik noch hinter uns. Wenn dann aber – wie nach Fukushima – auch die Regierung sich abwendet, fühlt man sich schon ziemlich auf verlorenem Posten. Umso wichtiger ist es natürlich, die Motivation der Mitarbeitenden hoch zu halten. Aber ein Kernkraftwerk ist und bleibt meiner Meinung nach ein guter Arbeitsort. Als Angestellter fühlt man sich gut aufgehoben, ist sozial abgesichert und hat einen sauberen und sicheren Arbeitsplatz.

Quelle
M.R.