Akademien der Wissenschaften Schweiz: Option Kernenergie offenhalten

Die Schweiz soll die Option Kernenergie für die zukünftige Stromerzeugung nicht ausschliessen. Dieser Auffassung sind die Akademien der Wissenschaften Schweiz. Ein umfangreicher Umbau des Elektrizitätssektors sei grundsätzlich nötig, jedoch mache ein Verzicht auf die Kernenergie diesen Umbau noch schwieriger. Die Akademien der Wissenschaften unterstützen eine nachhaltige Restrukturierung der Energieversorgung. Auf eine Unterstützung des von Bundesrat und Parlament angestrebten Atomausstiegs konnten sich die Akademien nicht einigen.

13. Aug. 2012
Irene Aegerter, SATW: «Stromausfälle kosten viel mehr als der Netzausbau.»
Irene Aegerter, SATW: «Stromausfälle kosten viel mehr als der Netzausbau.»
Quelle: SATW

An einer Medienkonferenz im Bundesmedienzentrum in Bern erläuterten die Akademien der Wissenschaften Schweiz am 9. August 2012 ihre Sicht der von Bundesrat und Parlament geplanten Energiewende. Die Akademien begrüssen, dass «der Bund einen klaren Rahmen für die künftige Energiepolitik schaffen will» und unterstützen die Bemühungen zur Effizienzsteigerung und zum Ausbau der erneuerbaren Energien. Auf eine einheitliche Haltung zur Kernenergie konnten sich die Wissenschafterinnen und Wissenschafter nicht einigen. Der Verzicht auf Kernkraftwerke werde in den Akademien «kontrovers beurteilt». Deswegen könnten sie sich nicht dahinter stellen.

Alle Optionen offenhalten

Die Akademien gehen unabhängig vom Atomausstieg davon aus, dass «die schweizerische Stromversorgung in den kommenden Jahren vor einem grundlegenden Umbruch steht». Der grosse Erneuerungs- und Ausbaubedarf bei der Produktion und Übertragung sei eine riesige Herausforderung für die Gesellschaft. «Die Beschlüsse des Bundesrats und der Eidgenössischen Räte, schrittweise aus der Kernkraft auszusteigen und die neue Energiestrategie 2050 umzusetzen, verschärfen das Problem zusätzlich», so der Schlussbericht der Akademien. Nicht nur solle bei der nuklearen Sicherheit und Entsorgung weiter Forschung betrieben werden, man solle sich auch bei der Nutzung der Kernenergie «alle Optionen offenhalten».

Eduard Kiener, ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Energie (BFE) und Leiter des Studienprojekts «Zukunft Stromversorgung Schweiz», machte deutlich, dass es für die Energiewende unerlässlich sei, den Stromverbrauch trotz zusätzlicher Anwendungen zu stabilisieren. «Wenn dies nicht glückt, wird die voll erneuerbare Stromversorgung nur zu unverhältnismässigen volkswirtschaftlichen Kosten zu realisieren sein», so Kiener vor den Medien. Jedenfalls sei «ein breiter gesellschaftlicher Diskurs erforderlich», damit der Umbau des Energiesystems vom Volk getragen werde. Denn das Volk trage die Kosten und müsse seinen unmittelbaren Beitrag zur Energiewende durch Verhaltensänderungen leisten.

Eduard Kiener (links), ehemaliger BFE-Direktor: «Die Energiewende ist eine gewaltige Herausforderung.»
Eduard Kiener (links), ehemaliger BFE-Direktor: «Die Energiewende ist eine gewaltige Herausforderung.»
Quelle: SATW

Stromverbrauch: Entkoppelung vom Wirtschaftswachstum möglich

Punkto Stromkonsums sind die Akademien mit dem Bund einig, «dass mit grundsätzlich vertretbaren Massnahmen die Stromnachfrage knapp unter dem heutigen Niveau stabilisiert werden kann». Ohne jegliche Steuerungsmassnahmen rechnen die Akademien mit einer Zunahme der Stromnachfrage bis 2050 um 14% und sind damit deutlich optimistischer als der Bund. Marco Berg von der Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW) unterschied ökonomische, technische sowie gesellschaftliche beziehungsweise psychologische Einflüsse auf die Nachfrage. Ohne zusätzliche Lenkungsabgaben oder Subventionen rechnen die Akademien bis 2050 mit einem doppelt so hohen Strompreis. Bei den Einkommen erwarten sie die gleiche Entwicklung, was den Einfluss des Preises auf die Stromnachfrage etwas schmälern würde. Aus technischer Sicht stünden sich Effizienzsteigerungen und zusätzliche Stromanwendungen gegenüber. In der ungünstigsten Schätzung der Akademien könnten sich diese Faktoren beinahe gegenseitig aufheben. Nur schwer zu beziffern seien laut Berg die psychologischen und gesellschaftlichen Faktoren, «die teilweise ebenfalls gegenläufige Tendenzen aufweisen». Die Bevölkerung müsse über das soziale Umfeld zum Sparen gebracht werden, denn, so Berg: «Im Rahmen einer freiheitlich-liberalen Ordnung darf die Verbreitung von Normen klarerweise nicht von aussen erzwungen werden, sondern muss sich aus gesellschaftlichen Prozessen ergeben.» Der Bevölkerungszunahme und der Änderungen in der Bevölkerungsstruktur schreiben die Akademien einen Anstieg der Stromnachfrage von rund 17% zu. Auf den Einwand, Wirtschaftswachstum und Stromverbrauch seien bisher immer gekoppelt gewesen und parallel angestiegen, entgegnete Berg, eine Entkoppelung sei noch nie wirklich versucht worden. Sie sei zwar eine grosse Herausforderung, aber möglich, wenn alle mitziehen würden.

Stromproduktion: Kostenwahrheit entscheidend

Christoph Ritz von der Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT) betonte, dass der heutige Schweizer Stromproduktionsmix praktisch CO2-frei sei. Der Bundesrat wolle bis 2050 die gesamten CO2-Emmissionen um die Hälfte reduzieren. Dazu müssen gemäss Ritz «knapp 50% des Schweizer Energiesystems umgestellt werden». Nach Ansicht der Akademien haben alle Stromproduktionsarten Vor- und Nachteile und Auswirkungen auf das ganze Stromsystem. Für die Wahl der zukünftigen Produktion fordern sie Kostenwahrheit und -transparenz. Das gelte für die Haftung bei der Kernenergie ebenso wie für die Kosten der Stromspeicherung, die beim Ausbau von Wind- und Solarenergie anfallen. Bei diesen beiden Erzeugungsarten stelle sich das Problem der starken wetterbedingten Schwankungen. Die Photovoltaik sei zudem heute die teuerste Produktionsart. Gaskraftwerke seien zwar günstig, aber selbst mit CO2-Abscheidung die emissionsintensivste Variante. Im Bereich der Wasserkraft sehen die Akademien eher Potenzial beim Ausbau bestehender Grossanlagen wie der Grimsel als beim Neubau von Kleinkraftwerken. Die Geothermie müsse sich erst noch bewähren.

Netze und Speicher: Ausbau günstiger als Stromausfälle

Die Physikerin Irene Aegerter von der SATW forderte nachdrücklich den Ausbau der Schweizer Stromnetze und der Speicher- und Pumpkraftwerke: «Ohne Ausbau keine Energiewende!» Beide seien Voraussetzungen für die vorgesehene hohe Produktion aus erneuerbaren Quellen. Es bestehe ausserdem ein hoher Erneuerungsbedarf bei den über 50-jährigen Leitungen. Es sei fraglich, ob bei einem umfangreichen Ausbau der Photovoltaik die Schweizer Pumpspeicherkraftwerke noch für den Aussenhandel genutzt werden könnten oder vollkommen für die Sicherstellung der inländischen Versorgung gebraucht würden. Als Alternativen bei der Speicherung kämen Druckluftspeicher, Wasserstoffgewinnung durch Elektrolyse oder Batterien, wie sie etwa in Elektroautos genutzt werden, zwar technisch in Frage, seien jedoch allesamt sehr teuer. Auch den allseits gepriesenen Smart Grids begegnete Aegerter mit Skepsis: Die ersten Versuche hätten kleinere Verbrauchseinsparungen an den Tag gebracht als erwartet und vielerorts habe das heutige Netz schon «smarte Komponenten». In diesem Bereich bestehe grosser Forschungsbedarf. Beim Netzausbau dürften keine Kosten gescheut werden, denn, so Aegerter: «Stromausfälle kosten noch mehr.» Swissgrid beziffere die Folgekosten eines Blackouts auf CHF 8–30 Mio. pro Minute.

Kaum plastische Vorstellungen

Der Philosoph und Historiker Paul Burger der Akademie der Geisteswissenschaften (SAGW) stellte abschliessend die Frage, was Nachhaltigkeit konkret bedeutet. «Ein Kernthema der Nachhaltigkeit ist die Entkoppelung der gesellschaftlichen Entwicklung vom Ressourcen- und Energieverbrauch», führte Burger aus. Das gelte auch für die zukünftige Stromversorgung der Schweiz. Zur Erreichung eines nachhaltigen Elektrizitätssystems fordern die Akademien eine Ausrichtung an sieben Zielen: menschliches Wohlergehen, Versorgungssicherheit, ökologische Verträglichkeit, ökonomische Effizienz, Vermeidung systemgefährdender Risiken, Flexibilität und Diversität.

Heinz Gutscher, Präsident der Akademien, erklärte zum Schluss der Veranstaltung, betreffend Energiewende habe er bisher «sehr viele Wünsche, aber kaum plastische Vorstellungen zu deren Realisierung» erlebt. Alle Wege seien offen zu lassen, auch bei der Kernenergie.

Die Akademien der Wissenschaften Schweiz vernetzen die Wissenschaften regional, national und international. Sie beraten Politik und Gesellschaft in wissensbasierten und gesellschaftsrelevanten Fragen. Die Akademien der Wissenschaften Schweiz sind ein Verbund der vier schweizerischen wissenschaftlichen Akademien: Naturwissenschaften (SCNAT), Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW), Medizin (SAMW) und Technische Wissenschaften (SATW).

Quelle

M.Re. nach Akademien der Wissenschaft Schweiz, Medienkonferenz, 9. August 2012

Bleiben Sie auf dem Laufenden

Abonnieren Sie unseren Newsletter

Zur Newsletter-Anmeldung

Profitieren Sie als Mitglied

Werden Sie Mitglied im grössten nuklearen Netzwerk der Schweiz!

Vorteile einer Mitgliedschaft