Artist relativiert Folgen von Reaktor-Unfällen

Dr. Detlef Suckow, PaulScherrerInstitut, CH-5232 Villigen PSI, Forschungsbereich Nukleare Energie und Sicherheit, Labor für Thermohydraulik

29. Apr. 2003

In Risikobetrachtungen werden auch sehr folgenreiche, aber extrem unwahrscheinliche Reaktorunfälle postuliert, bei denen sich z. B. ein Heizrohrbruch eines DWR-Dampferzeugers und das Schmelzen des Reaktorkerns gleichzeitig ereignen. Die Artist-Anlage ist ein Dampferzeugermodell in grossem Massstab, dessen Rückhaltevermögen für die aus dem schmelzenden Reaktorkern stammenden gas- und partikelförmigen Spaltprodukte studiert und quantifiziert werden soll. Neue Erkenntnisse zur Unfallbeherrschung und zu den vermutlich überschätzten Folgen für die Umgebung des betroffenen Kernkraftwerks sollen in einem internationalen Projekt am Paul Scherrer Institut gewonnen werden.
Trotz erheblicher Verbesserungen in der Konstruktion, Werkstoffauswahl, Herstellung und Betriebsweise von Dampferzeugern in Druckwasserreaktoren (DWR) treten weltweit immer wieder Störungen infolge eines Lecks oder sogar Bruchs eines Dampferzeugerheizrohrs auf (SGTR = Steam GeneratorTube Rupture). SGTR-Abläufen wird seit jeher in Sicherheitsanalysen besondere Beachtung geschenkt. Einzelne Lecks können während des Betriebs leicht entdeckt werden. Entweder werden sie bei der nächsten Wartung repariert, oder ganze Heizrohre werden verschlossen und ausser Betrieb genommen. Daraus resultiert natürlich eine Reduktion der übertragenen Wärmeleistung und damit der Wirtschaftlichkeit. Deshalb wurden z. B. die Dampferzeuger von Beznau-1 und -2 ausgewechselt. Die neuen Dampferzeuger-Heizrohre bestehen aus verbessertem Material, das vermutlich weit weniger leckanfällig sein wird.

Der Versagensfall
Bei einem oder mehreren SGTR wird durch das Leck Primärkreiswasser, welches unter einem Druck von 160 bar steht, in den sekundären Turbinenkreislauf gedrückt. Dort verdampft es sofort, da der sekundäre Teil der Dampferzeuger nur unter einem Druck von 70 bar steht. Druck und Temperatur steigen dort wegen der Leckage an. Wenn 80 bar erreicht sind, wird die Dampfströmung zum Schutz der Turbinen in Umgehungsrohre geleitet. Der Frischdampfüberdruck wird über Abblasestationen direkt in die Umgebung entlastet.
Das Resultat für den weiteren Unfallablauf wäre dasselbe, ob nun

  • der Heizrohrbruch wegen zu hohen Drucks und zu hoher Temperaturen infolge eines Kernschmelzunfalls eingetreten ist,
  • der Heizrohrbruch bei offen stehendem Ventil der Abblasestation wegen des damit verbundnen Kühlmittelverlustes zum Kernschmelzunfall geführt hat,
  • ein SGTR und ein Kernschmelzunfall aus unterschiedlichen Gründen gleichzeitig eingetreten ist.

Aus dem schmelzenden Reaktorkern werden in allen drei Fällen Gase sowie radioaktive und nicht radioaktive Partikeln freigesetzt. Mit der Dampfströmung gelangen sie nicht in den Sicherheitsbehälter, wo sie zurückgehalten werden könnten, sondern durch das Heizrohrleck in den Sekundärteil des Dampferzeugers. Falls die Notspeisewasserkühlung in Betrieb genommen wurde, kann das Wasser im Sekundärteil des Dampferzeugers stehen, durch den der Dampfstrom dann mit den Gasen und Partikeln strömt. Der obere sekundäre Dampferzeugerteil ist in jedem Fall trocken. Der Freisetzungsstrom führt aussen zwischen den Rohrbündeln mit seinen grossen Oberflächen vorbei, gelangt in den Tropfenabscheider, wo er bestimmungsgemäss verwirbelt wird, dann durch den Dampftrockner mit seinen abrupten Umlenkungen und seinen grossen Plattenoberflächen am oberen Ende des Dampferzeugers, und schliesslich über die Abblasestationen in die Umgebung. Überall auf diesem Weg ist auf Grund der Erfahrungen ein Auswaschen und Ablagern von Partikeln und von in Tröpfchen gelösten Spaltprodukten zu erwarten.
Bis heute gibt es aber noch keine experimentelle Datenbasis zur Validierung von mathematischen Analysen und Rechenprogrammen, mit denen das Aerosolverhalten in so komplexer Geometrie und bei so unterschiedlichen Strömungs- und Temperaturverhältnissen verlässlich bestimmen könnte. In Sicherheitsanalysen wird daher konservativ von keiner oder nur geringer Rückhaltung radioaktiver Partikeln und Gase im Dampferzeuger ausgegangen. Hier will das Artist-Programm gründlich Abhilfe schaffen.

Das Artist-Konsortium
Zur Reduzierung der Unsicherheiten im Falle eines SGTR mit Kernschmelzunfall hat das PSI das experimentelle Forschungsprogramm Artist (AeRosol Trapping In a Steam GeneraTor) initiiert. Ziel der experimentellen Untersuchungen ist die Bereitstellung von Messdaten und die physikalische Interpretation der Rückhaltung von Spaltprodukten in Form von Aerosolpartikeln und Tropfen in den verschiedenen Komponenten eines Dampferzeugers unter prototypischen Randbedingungen, verschiedenen Heizrohrbruchlagen und Leckgeometrien.
Das Projekt hat bei Forschungseinrichtungen, Aufsichtsbehörden und Kraftwerksbetreibern weltweit ausserordentliches Interesse hervorgerufen.
In den letzten beiden Jahren konnte vom PSI ein Konsortium etabliert werden, an dem sich bisher elf Organisationen aus Europa, Japan und den USA als Partner beteiligen. Weitere Organisationen erwägen ihren Beitritt. Das Artist- Programm hat im Januar 2003 gestartet und wird bis Ende 2007 dauern. Ende September 2002 haben sich die bisher eingeschriebenen Partner am PSI getroffen, um die erste Phase des Projekts zu diskutieren und offiziell zu starten.
Gemeinsames Ziel des Konsortiums ist es, die zahlreichen offenen Fragestellungen zu klären und die Ergebnisse zur Entwicklung von Modellen und zur Validierung von Rechenprogrammen für Sicherheitsanalysen zu verwenden. Schliesslich sollen die Erkenntnisse zur Entwicklung, Überprüfung sowie zu Verbesserungen von Notfallmassnahmen und Richtlinien zur Unfallbeherrschung bei SGTR-Ereignissen führen.

Die Artist-Anlage
Die Artist-Versuchsanlage ist das 14 m hohe Modell von einem Druckwasserreaktor-Dampferzeuger, wie er in den Kernkraftwerken Beznau-1 und -2 in Betrieb ist. Die Anlage besteht aus einem in der Höhe, der Anzahl von Heizrohren und der Länge skalierten Rohrbündel (276 statt 3238 Rohre), und jeweils einem Tropfenabscheider- und Dampftrockner-Modul in Originalgrösse.
Die Versuche in Artist werden durch Experimente in mehreren kleineren Teststrecken begleitet, in denen spezielle Einzeleffekte gezielt mit entsprechender komplexer Messtechnik studiert werden können. Eine erste Testserie im Rohrbündel von Artist wurden innerhalb des EU-Projekts 'SGTR' des 5. EU-Rahmenprogramms durchgeführt. Zur Freude der Initiatoren von Artist sind die bisher bestimmten Rückhaltefaktoren sehr hoch.

Wo liegt das Problem?

Thermische Leichtwasserreaktoren (LWR) sind Reaktoren, in denen die aus dem gespaltenen U-235-Kern freigesetzten 2-3 Neutronen im Wasser so "moderiert" werden, dass sie im -thermischen Gleichgewicht mit ihrer Umgebung -weitere U-235-Kerne spalten können. Der Moderator ist zugleich das Kühlmittel für den Reaktorkern. Es gibt zwei LWR-Typen: den Siedewasserreaktor (SWR), in dessen Kern der Dampf erzeugt wird, der direkt die Turbinen treibt, und den Druckwasserreaktor (DWR), dessen nuklearer Primärkreis mittels Dampferzeugern vom Turbinenkreislauf getrennt ist. Im Kern des DWR wird das Primärkreiswasser bis auf 345 °C aufgeheizt. Aber es siedet und verdampft wegen des Systemdrucks von etwa 160 bar nicht. Es strömt durch Rohrbündel der Dampferzeuger, gibt seine Wärme ab und verdampft das Speisewasser des sekundären Turbinenkreislaufs.
Weltweit sind derzeit 442 Kernkraftwerke in Betrieb. 263 davon arbeiten mit einem DWR. Etwa alle zwei Jahre ereignet sich ein spontaner Dampferzeuger-Heizrohrbruch; allerdings bisher nie mit gleichzeitigem Kernschmelzen. Ein solcher Fall trägt zwar nach amerikanischen Studien nur mit 4% zu den sehr unwahrscheinlichen Kernschmelzunfällen bei, aber mit 74% zu denjenigen mit Freisetzung der Spaltprodukte direkt aus dem Reaktorkern in die Umgebung (Containment-Bypass). Vorhandene Rückhaltemechanismen konnten bisher für diese Fälle noch nicht quantifiziert werden.

Quelle

Dr. Detlef Suckow

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