Chemische Untersuchung des Elements 107 Bohrium

30. Sep. 1999

Dr. Lucien F. Trueb, Ebmatingen (nach einem Gespräch mit Prof. Dr. Heinz Gäggeler, Labor für Radio- und Umweltchemie der Universität Bern und des Paul Scherrer Instituts)


Seit 1955, als das zur Actinidenreihe gehörende, Mendelevium genannte Element 101 identifiziert wurde, leiden die Chemiker an einer gewissen Frustration. Ihr ureigenes Interessengebiet, nämlich die Charakterisierung der chemischen Elemente, wurde ihnen zumindest im Bereich der instabilen, künstlichen Elemente von den Physikern weggenommen. Alle neuen Elemente wurden fortan mit physikalischen Techniken sowohl hergestellt als auch nachgewiesen. Zu den wichtigsten dazu eingesetzten Apparaturen gehört das sog. Geschwindigkeitsfilter; es gibt davon zwei Exemplare in Darmstadt ("SHIP") und in Dubna bei Moskau ("Vassilissa"). Die durch Kollision beschleunigter Ionen mit einem Target aus Blei, Bismut oder einem synthetischen Actiniden-Element erhaltenen, schweren Nuklide werden in einer alternierenden Anordnung elektrischer bzw. magnetischer Felder getrennt auf einen Siliziumdetektor gelenkt. Die gasgefüllten Magnetseparatoren andererseits (je einer im kalifornischen Berkeley und in Dubna) fokussieren die superschweren Nuklide und trennen sie von anderen Reaktionsprodukten. Diese zwei Gerätetypen ermöglichten im Lauf des letzten halben Jahrhunderts den Nachweis praktisch aller neuen Elemente der Actiniden- und Transactinidengruppe. Letztere reicht bis zu den synthetischen Elementen mit den Ordnungszahlen 114, 116 und 118, deren Entdeckung im Sommer 1999 gemeldet wurde.
Rein physikalisch lässt sich nicht nur die Existenz neuer Nuklide nachweisen; man kann auch ihre Masse, ihre Lebensdauer und ihre Zerfallsmechanismen bestimmen. Neue Elemente lassen sich aufgrund ihrer Ordnungszahl (Anzahl Protonen im Kern) problemlos ins Periodensystem einreihen. Ob dies chemisch sinnvoll ist, bleibt aber eine offene Frage. Die Vertikalreihen im Periodensystem basieren nämlich auf der chemischen "Verwandtschaft" der darin enthaltenen Elemente (z.B. der Alkalimetalle Lithium, Natrium, Kalium etc., der Edelmetalle Kupfer, Silber und Gold oder der Edelgase Helium, Neon, Argon etc.). Diese Verwandtschaft ist durch dieselbe Struktur der äussersten, für chemische Reaktionen verantwortlichen Elektronenschalen bedingt. Dieses klassische Kriterium gilt aber bei den schweren Elementen der Transactinidengruppe nicht mehr zwingend. Die äusseren Elektronen sind nämlich so weit von Kern entfernt, dass sie relativistische Geschwindigkeiten in der Nähe der Lichtgeschwindigkeit annehmen müssen. Die dadurch bedingte Massenzunahme hat zur Folge, dass die mittleren Radien kleiner werden, weil die Elektronen stärker zum Kern gezogen werden. Besonders die sphärischen Orbitale (s und p) "entarten" relativ zu den d- und f-Orbitalen. Damit wird das Grundprinzip des Periodensystems in Frage gestellt: Es dürfte oberhalb einer noch nicht bekannten Ordnungszahl kollabieren, weil sich das sog. Termschema der Elektronen verändert. So könnten z.B. in einem konventionell gesehen durch chemisch aktive Elektronen im d-Orbital gekennzeichneten Element die Elektronen im nächstunteren p-Orbital für das chemische Verhalten massgebend werden.
Die Stellung der Transactiniden-Elemente im Periodensystem ist erst gesichert, wenn man sie chemisch charakterisiert, also ihre chemischen Eigenschaften untersucht. Solche Charakterisierungen sind seit Mitte der siebziger Jahre eine Spezialität des Departements für Chemie und Biochemie der Universität Bern. Dort wurden in Zusammenarbeit mit wechselnden Teams in der Schweiz, in Deutschland, Russland und den USA die chemischen Eigenschaften superschwerer Elemente ausgehend von Fermium (Ordnungszahl 100) untersucht. 1997 war man bis zum Element Seaborgium (106) vorgestossen, das sich den klassischen Erwartungen entsprechend chemisch ähnlich verhält wie das im Periodensystem darüber liegende Wolfram (Gruppe 6 oder VIB nach der alten Nomenklatur). Im September 1999 wurden nun die Ergebnisse der chemischen Charakterisierung des Elementes Bohrium (Ordnungszahl 107) bekannt gegeben. Das Experiment wurde von Radiochemikern der Universität Bern, des Paul Scherrer Instituts PSI in Villigen, des Lawrence Berkeley Laboratory (USA), des Flerow Instituts in Dubna (Russland), der Gesellschaft für Schwerionenforschung GSI in Darmstadt (D) sowie des Forschungszentrums Rossendorf (D) durchgeführt.
Bei solchen Untersuchungen versucht man zuerst auf theoretischer Basis (d.h. anhand der Grundprinzipien der Thermodynamik) vorauszusagen, welche chemischen Eigenschaften bei einem neuen Element zu erwarten sind. Dabei geht man aus von Gruppeneigenschaften und extrapoliert sie auf das neue Element. Als Beispiel sei die Flüchtigkeit des Chlorids des Elements 104 (Rutherfordium, Rf) erwähnt. Es gehört zur Gruppe 4 (IVB), das die stabilen Elemente Titan Ti, Zirkonium Zr und Hafnium Hf umfasst. So erwartet man schon aufgrund der grösseren Atommasse, dass die Flüchtigkeit von RfCl4 kleiner ist als diejenige von HfCl4. Nun wird bei der Chemie der Transactiniden mit einzelnen Atomen bzw. Molekülen gearbeitet und man muss sich fragen, ob es noch sinnvoll ist, von Flüchtigkeit zu sprechen. Dies ist durchaus der Fall, denn die Flüchtigkeit wird von gaschromatographischer Information abgeleitet. Unter Flüchtigkeit versteht man demgemäss ein bestimmtes Verhalten in einer langen Quarzkolonne. Erleidet darin das untersuchte Molekül keine signifikante Retention, so bezeichnet man es als flüchtig; gibt es jedoch starke Wechselwirkungen mit der Oberfläche, dann ist es nichtflüchtig und verbleibt in der Kolonne.
Zur Umsetzung dieser Information auf die Makro-Eigenschaft Flüchtigkeit wurden zahlreiche empirische Untersuchungen durchgeführt. So wurde der Zusammenhang zwischen der Retention von wenigen Molekülen HfCl4, ZrCl4 und NbCl5 usw. in einer Quarzsäule bei einer Reihe von Temperaturen und der Sublimationsenthalpie der betreffenden Substanz ermittelt. Daraus ergab sich eine ausgezeichnete Korrelation: Sie ermöglicht eine Verbindung zwischen der an einzelnen Molekülen ermittelten Grösse (Retention oder Nichtretention bei einer bestimmten Temperatur) und einer bekannten Makrogrösse, also der Sublimationsenthalpie, die ein Mass für die Flüchtigkeit ist.
Um das Element Bohrium zu untersuchen, musste es zuerst synthetisiert werden. Zudem war das Experiment von der Verfügbarkeit eines genügend langlebigen Bohrium-Isotops abhängig: Die in Bern entwickelte "OLGA-Technik" (Kürzel für On-line Gasapparatur) benötigt Nuklide mit einer Lebensdauer von mindestens drei Sekunden. Im Februar 1999 war in Berkeley ermittelt worden, dass man bei der Kollision von Neon-22 mit Berkelium-249 das Isotop Bohrium-267 erhält, dessen Halbwertszeit zwanzig Sekunden beträgt. Eine Probe Berkelium-249 wurde leihweise von Oak Ridge (USA) zur Verfügung gestellt und in Berkeley zum fixfertigen Target auf einer Berylliumfolie verarbeitet. Als Projektile dienten Ionen des Isotops Neon-22, die im alten Protonen-Injektor des PSI-Zyklotrons in Villigen auf die benötigte Energie beschleunigt wurden. Allerdings benötigte dieser Injektor eine neue, kommerzielle Ionenquelle, um die benötigte Intensität von Neon-Ionen zu erhalten.
Bohrium gehört zusammen mit Mangan, Technetium und Rhenium zur Elementgruppe 7 (VIIB), deren Oxychloride flüchtig sind; aus diesem Grund wurde das Oxychlorid BhO3Cl durch Reaktion von Bh mit Sauerstoff und Chlorwasserstoff bei 1000 °C erzeugt und in einer auf zwei verschiedene Temperaturen aufgeheizten Quarzkolonne auf seine Flüchtigkeit untersucht. Vorgängig war ermittelt worden, dass Technetiumoxychlorid schon bei 50 °C durch die Säule geht, während dies beim Rheniumoxychlorid bei 80 bis 90 °C der Fall ist. Unvermeidlicherweise entsteht bei der Kernreaktion neben dem Bohrium auch eine ganze Reihe von Actiniden und leichteren Transactiniden. Die Flüchtigkeit ihrer Chloride und Oxychloride ist jedoch so gering, dass sie in der Kolonne adsorbiert werden, nur BhO3Cl kommt durch.
Weil man mit einzelnen Bohriumatomen arbeitet, ist die Wahrscheinlichkeit extrem hoch, dass sie unmittelbar nach der Synthese an der ersten im Weg stehenden Wand haften bleiben. Um dies zu vermeiden und den Transport über einige Meter vom Beschleuniger zur Chemieapparatur zu ermöglichen, bediente man sich eines besonderen Tricks. Man lagerte die frisch synthetisierten Bh-Atome an Kohlenstoffcluster, die durch Funkenentladung zwischen Kohlenstoffelektroden entstehen (es handelt sich zu einem grossen Teil um Buckminsterfulleren C60). Dem als Transportgas durch die Apparatur dienenden Helium werden also die Kohlenstoffcluster zugemischt, auf denen alle Bh-Atome sofort adsorbiert werden. Sobald die Cluster in die Chemie-Apparatur gelangen, werden sie dort im heissen Sauerstoff verbrannt. Allfällige Bh-Atome werden dann frei und können zum Oxychlorid reagieren, das durch die 2 m lange Quarzkolonne läuft. An deren Ausgang müssen die durchgegangenen Moleküle zum Zähler transportiert werden. Dazu werden sie wiederum an Cluster angelagert. Diese bestehen auf diesem Abschnitt aus winzigen Cäsiumchloridkriställchen im Grössenbereich von 50 bis 100 nm, die als Aerosol mit den absorbierten BhO3Cl-Molekülen im Gasstrom transportfähig sind.
Die Apparatur in Villigen liefert lediglich einige wenige Atome Bohrium pro Woche Strahlzeit; man kann das Nuklid nach Passieren der Kolonne nur aufgrund seines radioaktiven Zerfalls nachweisen. Dazu scheidet man es auf einer extrem dünnen Kunststofffolie ab und schiebt diese zwischen zwei Siliziumdetektoren, die auf die Alphazerfallskette von 267Bh zu 263Db, 259Lr und 255Md ansprechen. Die Folien sind in Bohrungen in einem Metallrad aufgespannt, das sich alle zehn Sekunden zur jeweils nächsten Detektorposition bewegt (es sind zwölf Detektorpaare verfügbar). Auf diese Weise erhielt man zeitaufgelöst die "Signatur" der Alphazerfallsreihe, die das Bohrium eindeutig identifiziert. Zudem liessen sich Bh-Atome nur nachweisen, wenn die Kolonne auf 150 °C bzw. 180 °C erhitzt war. Bei 75 °C, wo Rheniumoxychlorid gerade noch durchkommt, wird Bohriumoxychlorid zurückgehalten. Damit ist es erwiesen, dass die Flüchtigkeit von BhO3Cl wie erwartet geringer ist als diejenige von ReO3Cl. Daraus folgt auch, dass Bh nach den klassischen Vorstellungen der Elektronenstruktur in die Gruppe 7 des Periodensystems gehört. Diese Untersuchungen wurden mit insgesamt sechs Bohriumatomen durchgeführt, die durch die Kolonne kamen; sechs weitere Atome blieben vermutlich bei der niedrigeren Temperatur in der Kolonne zurück.

Quelle

Dr. Lucien F. Trueb

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