Der Soziologieprofessor Uli Windisch analysiert die Kernenergie-Kontroverse
«Eine sachliche Debatte wird nicht möglich sein…» Obwohl seit mehr als 20 Jahren hitzige Debatten und Auseinandersetzungen geführt werden, weiss die Öffentlichkeit noch immer wenig Konkretes über die Kernenergie. Die Fakten stehen nach wie vor im Hintergrund. Für Uli Windisch, Professor für Soziologie, Kommunikation und Medien an der Universität Genf, ist es an der Zeit, von einer rein defensiven Argumentation wegzukommen und gut verständliche Botschaften über die Vorteile der Kernenergie zu vermitteln.

Die Kernenergie ist in den Industrieländern weiterhin ein äusserst kontroverses Thema. Warum?
Die Anti-Atom-Bewegung ist Teil einer allgemeinen Skepsis gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt. Wir haben es mit einem Pessimismus zu tun, der teilweise auf den marxistischen Einfluss der Nachkriegszeit mit seiner allgemeinen Kritik an unserer Gesellschaft und ihrer Entwicklung zurückzuführen ist. Diese allgemeine Kritik wurde nach und nach durch eine Infragestellung der Wissenschaft an sich abgelöst. Manche Leute vertrauen heute eher einer Wahrsagerin als einem wissenschaftlichen Experten. Und für viele ist Kernenergie der Inbegriff einer ausser Kontrolle geratenen Maschine, die das Individuum erdrückt.
Wie ist es seinerzeit trotz dieses soziokulturellen Pessimismus gelungen, in unserem Land fünf Kernkraftwerke in Betrieb zu nehmen?
Als der Bundesrat 1957 im Parlament den Antrag stellte, sich ins Atomabenteuer zu stürzen, wurde nur eine Frage gestellt: Wie ist es um die Sicherheit bestellt? Die Landesregierung antwortete: Sie wird vom Gesetz gewährleistet. Und damit war die Frage erledigt. Damals herrschte eine Dynamik der Entwicklung und des Vertrauens. Vertrauen in den wissenschaftlichen Fortschritt, um die Zukunft zu bewältigen, Vertrauen in die Behörden, um allfällige Risiken zu kontrollieren.
Seit 30 Jahren ist die Kernenergie das sozioökonomische Thema, das von den Medien am häufigsten behandelt wird. Trotzdem weiss die Öffentlichkeit wenig darüber. Warum?
Tatsächlich herrscht verbreitet Unkenntnis. Mehr noch: Es gibt auch Desinformation. Die Kernenergie ist ein vielschichtiger Bereich, in dem grundlegende wissenschaftliche und technische, aber auch wirtschaftliche und rechtliche Kenntnisse für das Verständnis nötig sind. Zudem bietet sie ihren Gegnern eine Vielzahl von Angriffsflächen. Die Materie ist relativ komplex. Deshalb kommt den Medien eine wichtige Erklärungsaufgabe zu. Allerdings ist es schwierig, das Phänomen der Radioaktivität und die Funktionsweise eines Reaktors in 50 Zeitungszeilen zu erklären. Viel einfacher ist es, emotionsgeladene Vorstellungen von den unsichtbaren Strahlen heraufzubeschwören, von der Verstrickung mit der Bombe oder von der Uneinigkeit unter Wissenschaftern zu berichten.
Wie kann man diesen Prozess umkehren? Oder anders gefragt: Wie lässt sich die Debatte versachlichen?
Man kann sie nicht versachlichen. Aber die Kernenergiebefürworter müssen ihre Argumentationsweise ändern. Sie müssen ebenfalls mit einem Hauch Emotion ihre Sicherheit und Kompetenz vermitteln und dürfen nicht zögern, die Verantwortungslosigkeit und die Desinformation ihrer Gegner an den Pranger zu stellen. Es liegt an ihnen, auf eine ausgewogenere und vermehrt auf Fakten gestützte Information zu bestehen. Ganz allgemein geht es auch darum, das Image der Wissenschaft aufzuwerten.
Trotz ihrer ökologischen, energietechnischen und ökonomischen Vorteile weckt die Kernenergie weiterhin viele Ängste. Kommunizieren die Gegner besser als die Befürworter?
Es ist tatsächlich leichter, Ängste zu schüren, als umfassend und objektiv zu informieren. Das Bild eines riesigen Transparents, das von militanten Greenpeace-Anhängern an einen Kühlturm gehängt wird, macht innert kürzester Zeit die Runde durch die Weltpresse und hat eine enorme Medienwirkung zu geringen Kosten, die sich auf die Herstellung des Transparents beschränken. Von den Kernenergiebefürwortern kann man sich ähnliche Aktionen nur schwerlich vorstellen. Dafür könnten sie eine Ladung Emotionalität in den Appell an die Verantwortung und in die Kritik an der Desinformation legen. Die heute real existierende Gefahr einer Stromlücke bietet die Gelegenheit, ihre Argumentation zu «dramatisieren».
Wie lässt sich die Kluft zwischen der klaren Ablehnung der letzten Anti-Atom-Initiativen im Jahr 2003 und den eher negativen Ergebnissen der jüngsten Meinungsumfragen über die Akzeptanz neuer Kraftwerke erklären?
Meinungsumfragen sind interessante Indikatoren, aber nicht entscheidend. Dies lässt sich auch in anderen umstrittenen Fragen feststellen. Konjunkturelle Faktoren können von einem Tag auf den anderen die Resultate verändern. Man muss auch die so genannte «Spirale des Schweigens» berücksichtigen, ein Phänomen, das die Resultate in umstrittenen Fragen verfälscht: Vertreten die Befragten nicht die als politisch korrekt erachtete Meinung, bringen sie dies bei Meinungsumfragen oft nicht zum Ausdruck, rächen sich dafür aber an der Urne. Dies ist mit ein Grund für die manchmal erheblichen Abweichungen zwischen der in den Medien vorherrschenden Meinung und dem Abstimmungsergebnis.
Die kürzlich in Bern, Zürich und Lausanne vom Bund organisierten öffentlichen Informationsveranstaltungen haben nur einige Dutzend Teilnehmer angelockt, die zum grössten Teil ohnehin in der Kernenergie-Kontroverse engagiert sind. Interessieren sich die Bürger nicht für diese Fragen?
Auch hier müssen die Medien ihre Verantwortung wahrnehmen. Solche Veranstaltungen müssen sorgfältig vorbereitet werden, mit einer klaren, überzeugenden und bestimmten Präsentation der Dringlichkeit und der Herausforderungen. Die Bürger sollen mit der Überzeugung teilnehmen, dass sie zu gegebener Zeit gut informiert zu dieser Frage Stellung nehmen müssen. Man könnte sich von den Erfahrungen mit konkreter, phantasievoller und spektakulärer Information und Kommunikation inspirieren lassen, die das direkt betroffene Publikum mit einbeziehen, wie dies mit Erfolg in Schweden praktiziert wurde, um über den Umgang mit langlebigen radioaktiven Abfällen zu informieren.
Das Gespräch führte Jean-Pierre Bommer
Ein Unfall - zwei Analysen
Die Interpretation des Unfalls in Tschernobyl illustriert die beiden diametral entgegengesetzten Argumentationsweisen zur Kernenergie: emotional die eine, sachlich die andere.
Die Gegner der Kernenergie malen das Schreckgespenst Tschernobyl an die Wand, um aufzuzeigen, dass die Sicherheit nicht gewährleistet ist. Das Wort «Tschernobyl» wird mit einem allgemeinen Gefühl von Zukunftsangst verbunden. Mit einer Argumentation, welche die Fakten durcheinander bringt und Assoziationen weckt, trägt es zur Vorstellung einer vergifteten Zukunft bei.
Die Logik dieser Gedankenführung beruht auf dem Prinzip der Verallgemeinerung: Was einmal geschehen ist, kann sich überall und jederzeit wiederholen. Die objektiven Unfallursachen werden so nebensächlich. Sie verschwinden neben der symbolhaften Bedeutung von «Tschernobyl» und der Angst vor einer Wiederholung.
Die Befürworter der Kenenergie ihrerseits bestehen auf den Unterschieden zwischen den westlichen und den Kraftwerken vom sowjetischen Tschernobyl-Typ. Aus ihrer Sicht darf man nicht verallgemeinern. «Tschernobyl» ist im Westen vom technischen Standpunkt her unmöglich. Diese beruhigende Argumentation erfordert von ihnen jedoch zahlreiche technische Erklärungen und den Vergleich der verschiedenen Systeme. Und diese Bemühungen müssen von den Medien dann noch korrekt weitergegeben werden, damit sie der Allgemeinheit zugänglich werden. (Aus: «Les thèmes et les formes de l'argumentation ordinaire chez les partisans et adversaires de l'énergie nucléaire», Studie von Uli Windisch, Patrick Amey und Francis Grétillat, Universität Genf, 1993).
Fachmann für Konfliktkommunikation
Uli Windisch ist ordentlicher Professor für Soziologie, Kommunikation und Medien an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Genf. Er war Gastprofessor an mehreren Westschweizer, Deutschschweizer, europäischen und nordamerikanischen Universitäten sowie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne. Er leitet die vom Verlag L'Age d'Homme (Lausanne, Paris) herausgegebene Buchreihe «Pratique des sciences de l'homme», in der er unter seinem Namen rund 15 Werke veröffentlicht hat. Sein Interesse für die Kernenergie ergibt sich aus dem breiten Forschungsfeld konfliktträchtiger und kontroverser gesellschaftlicher Themen (vgl. dazu die jüngste Auflage seines Buches «Le KO verbal - la communication conflictuelle» aus dem Lausanner Verlag L'Age d'Homme).