Der Tschernobyl-Unfall als historisch einmaliges Ereignis

Am 26. April jährt sich der schwere Reaktorunfall in Tschernobyl zum 25. Mal. Hans Fuchs, Vize-Präsident des Nuklearforums, erläutert im Gespräch mit der Bulletin-Redaktion die besonderen technischen und politischen Umstände, die zur grössten Katastrophe in der Geschichte der zivilen Kerntechnik geführt haben. Als besonders desaströs erwies sich im Rückblick die Unterdrückung des Erfahrungsaustausches durch das Sowjetregime, was den dringend benötigten Lernprozess unter den Kernfachleuten verhindert hatte.

5. Apr. 2011

Inwiefern stimmt die Aussage, dass das Reaktorunglück in Tschernobyl eine Folge der militärischen Nutzung der Kernenergie war?

Graphitmoderierte, leichtwassergekühlte Druckröhren-Reaktoren in kleinen Leistungsgrössen dienten in der ehemaligen Sowjetunion zur Erzeugung von für Atombomben geeignetem Plutonium (Pu), das heisst von Pu mit möglichst hohem Anteil an spaltbarem Pu-239 und geringem an nicht spaltbarem Pu-240. Solches Pu entsteht bei kurzer Einsatzzeit der Brennelemente, also bei niedrigem Abbrand. Die erwähnten Reaktoren machten das möglich: Während des Betriebs liessen sich einzelne Brennelemente bei Erreichen des gewünschten Abbrands entnehmen.

Was wusste man im Westen über diese sowjetrussische Reaktortechnologie?
Die auf Stromproduktion ausgerichtete Version dieses Reaktortyps mit grosser Leistung, der RBMK, wurde nur in der ehemaligen UdSSR gebaut. Publikationen darüber waren eher spärlich. Der Grund dafür: Der RBMK kann im Prinzip so betrieben werden, dass ebenfalls waffentaugliches Pu entsteht.

Immerhin waren auch im Westen genügend Informationen vorhanden, um die RBMK als problematisch einzustufen: Wenn ein Druckrohr-Kanal überhitzt und austrocknet, wird die Kettenreaktion lokal stärker, weil das neutronenabsorbierende Wasser entfällt, aber der Graphitmoderator weiterwirkt. Es findet eine «positive», steigernde Rückkopplung statt. Im Unterschied dazu entfällt bei einem Leichtwasserreaktor bei mangelndem Wasser zwar die Kühlfunktion, aber auch die Moderatorfunktion, worauf die Leistung sinkt. Das ist eine «negative», dämpfende Rückkopplung.

Verbesserte sich der Informationsstand wenigstens nach dem 26. April 1986?
Nach dem Tschernobyl-Unglück dauerte es Monate und Jahre, bis Einzelheiten über Hergang, Ablauf und Ursachen bekannt wurden. Man war im Westen doch sehr erstaunt, dass es dieses Unglücks bedurfte, um den gravierendsten Mängeln der RBMK durch Nachrüstungen zu begegnen. Dazu zählten die Verminderung der positiven Rückkopplung durch höhere Anreicherung, Sanierung der Abschalteinrichtungen, und die Begrenzung der Betriebsweise.

Noch länger dauerte es, bis man von Beinahe-Unfällen unter anderem bei den Leningrader RBMK erfuhr: Dort sei es zu Teil-Schmelzen von Druckrohreinheiten gekommen. Spätestens seit dem Erscheinen der ersten probabilistischen Sicherheitsanalysen Anfang der 1970er-Jahre beziehungsweise nach dem Störfall in Three Mile Island 1979 musste da bei jedem Sicherheitsfachmann die Warnlampe «Vorläufer-Ereignis» aufleuchten: Warum um Gottes Willen hat man aus den Vorläufer-Ereignissen, den «Precursors», keine Lehren gezogen und zumindest den Betrieb bei kleiner Leistung eingeschränkt?

Gab es also offenbar auch innerhalb der sowjetrussischen Fachwelt systematische Kommunikationsprobleme?
Erst Anfang der 1990er Jahre erfuhr ich zufällig bei Diskussionen mit russischen Kollegen über ihre ersten Druckwasserreaktoren, dass Erfahrungsaustausch in der kommunistischen Planwirtschaft nicht geplant, ja bei den RBMK ihres militärischen Kontextes wegen sogar untersagt war – aus Angst vor Spionage! Konkret wussten die Betreiber von Tschernobyl zu wenig über den «aufbrausenden» Charakter ihrer Anlage und gar nichts über Vorläufer-Ereignisse in anderen RBMK!

Da wurde mir endgültig klar, dass die Tschernobyl-Erklärungen des Regimes – Fehlverhalten des Personals und so weiter – am Kern der Sache vorbeigingen: Hätte das Personal die Chance gehabt, von Betriebserfahrungen und insbesondere von Vorläufer-Ereignissen in anderen RBMK zu lernen, wäre es sehr wohl in der Lage gewesen, RBMK trotz ihrer gravierenden Konstruktionsmängel einigermassen sicher zu betreiben und auf Verbesserungen sowie Nachrüstungen hinzuwirken.

Der Unfall in Tschernobyl war also Folge unterdrückter Kommunikation und mangelnder Lernfähigkeit?
Ja, und er kann aufgrund dieser Erwägungen als historisch einmalig eingestuft werden. Er war die direkte Folge der Einigelungsmentalität in einer verkrusteten Militärdiktatur. Diese führte zur Unterbindung des Erfahrungsaustauschs und des Lernens aus Erfahrungen bei der komplexen RBMK-Reaktortechnik. Gerade diese hätte aber nichts nötiger gehabt, denn sie war in einem militärischen Umfeld entwickelt worden, in welchem die Sicherheit nicht oberste Priorität hatte, und sie war auch nie so eingehend analysiert worden wie beispielsweise die Leichtwasserreaktortechnik im Westen.

Stichwort Westen: was hat der aus «seinen» Reaktorunfällen gelernt?
Die USA haben nach Three Mile Island 1979 den Erfahrungsaustausch unter den Reaktorbetreibern institutionalisiert. Die Wano hat dasselbe nach Tschernobyl weltweit eingeleitet. Tröstlich: Die Nachfolgestaaten der UdSSR machen auch mit.

Wir dürfen deshalb davon ausgehen, dass die Reaktorbetreiber weltweit die Maxime «Aus Schaden wird man klug» vorsichtigerweise so interpretieren, dass man sehr wohl schon aus kleinen Schäden klug werden kann – wer erst bei einem grösseren Schaden reagiert, ist nicht der Klügere.

Hans Fuchs begann seine berufliche Karriere 1964 beim EIR Würenlingen (jetzt PSI), war von 1972 bis 1991 bei der Motor-Columbus Ingenieurunternehmung (heute Colenco) auf den Gebieten Energie (vor allem Kernenergie), Umwelt und Entsorgung tätig und von 1992 bis 2003 bei der Aare-Tessin AG als Leiter Thermische Produktion und Geschäftsleiter des Kernkraftwerks Gösgen. Seit 1992 ist Fuchs Mitglied des Vorstands und der Delegation des Nuklearforums Schweiz.

Quelle

Das Interview führte Roland Bilang.

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