Deutscher Atom-Kuhhandel: Theater und Realismus unter einem Hut

Beide Seiten konnten sich als Sieger fühlen, als in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 2000 ein Kernenergie-Kompromiss zwischen der rot-grünen deutschen Bundesregierung und den Stromkonzernen unterzeichnet wurde.

14. Juni 2000

Noch 2600 Mrd. kWh elektrische Energie soll in den deutschen Kernkraftwerken produziert werden, danach sei Schluss. In theatralischer Pose titelte die Bundesregierung die Pressemitteilung über ihr Zugeständnis an den kleinen grünen Koalitionspartner: "Bundesregierung und Stromkonzerne einigen sich auf Atomausstieg". Anders tönte die Medienmitteilung der Elektrizitätsunternehmen: "Künftige Nutzung der Kernenergie - Kompromiss mit der Bundesregierung vereinbart". Bei näherem Hinsehen war sofort klar, dass die durch grüne Wahlversprechen bzw. durch die Koalitionsvereinbarungen behinderte rot-grüne Regierung ihr Gentlemen's Agreement mit den Betreibern über die künftige Atomstromproduktion mit einem bewährtem semantischen Trick kurzerhand zum "Ausstieg" erklärte. Bei einer Jahresproduktion des deutschen Kernkraftwerksparks von gegenwärtig 160-170 Mrd. kWh entsprechen die vereinbarten 2600 Mrd. kWh einer verbleibenden durchschnittlichen Laufzeit von 15 bis 16 Jahren ... Den Nagel auf den Kopf getroffen haben dürfte deshalb die Neue Zürcher Zeitung mit dem Titel "Deutschland steigt aus - ein bisschen".
Mit welchen ideologischen Klimmzügen die deutsche Ausstiegs-Seilschaft operiert, kann mit einem Schmunzeln u.a. der Bestimmung II.3 der Vereinbarung vom 14. Juni 2000 entnommen werden: "Die Elektrizitätsversorgungsunternehmen verpflichten sich, monatlich dem Bundesamt für Strahlenschutz die erzeugte Strommenge zu melden".
Der von den Deutschen eingegangene politische Kompromiss, bei dem alle Beteiligten ihre ursprüngliche Meinung beibehielten, kann von jeder der drei Gruppen als Leistungsausweis gegenüber der jeweiligen Klientele bzw. den Auftraggebern und Aktionären verwertet werden: Die Grünen um Umweltminister Trittin verkaufen ihn, mit gütiger Unterstützung der Medien, als Ausstieg - wie im Wahlkampf versprochen. Bundeskanzler Schröder lässt das Unding wie nebenbei als staatsmännische Spitzenleistung anpreisen und benutzt den unterzeichneten Polit-Deal in erster Linie als Nachweis des gelungenen Zauberstücks, den Ausstieg wie versprochen gratis - ohne Kostenfolge für den Steuerzahler - geschafft zu haben. Und die Chefs der Elektrizitätsunternehmen nennen das Kind - auch sie nicht ohne Stolz - mehr oder weniger offen beim Namen: Ein Gentlemen's Agreement, das den ungestörten Betrieb der Kernkraftwerke über viele Jahre gewährleistet. Ist es da nicht nachzuvollziehen, dass unser Energieminister Bundesrat Moritz Leuenberger den Medien kundtat, er schaue tatsächlich "etwas eifersüchtig" nach Deutschland? Nachvollziehbar oder nicht - ein Affront ist das Statement alleweil, und zwar aus demokratischer, rechtsstaatlicher, wirtschaftlicher und ökologischer Sicht.
Demokratisch: In Deutschland ist der Ausstieg Regierungsprogramm - in der Schweiz gilt nach wie vor das dreimalige Verdikt des Volkes von 1979, 1984 und 1990 gegen den Ausstieg.
Rechtlich: Der deutsche Kompromiss kam nicht unter rechtsstaatlich sauberen Voraussetzungen zustande. Die Elektrizitätsunternehmen wurden schlicht und einfach zur Unterschrift erpresst - oder ist es normal, dass man für den schickanenfreien Gesetzesvollzug als Vorleistung dem Staat eine Zusicherung unterschreiben muss, im Fall gesetzeskonformen Regierungsverhaltens auf legitime Schadenersatzforderungen zu verzichten?
Wirtschaftlich und ökologisch schliesslich ist der horrende Preis der vorzeitigen Liquidation eines noch lange einwandfrei und sicher funktionstüchtigen Kernkraftwerksparks und seines Ersatzes durch fossile Kraftwerke offensichtlich. Wie da in der Schweiz - die mit ihren 60 Prozent Wasserkraft und 40 Prozent Atomstrom das seltene Privileg geniesst, fast die gesamte Stromerzeugung ohne Treibhausgas-Emissionen zu bewältigen - Eifersucht auf Deutschland aufkommen kann, ist schlicht unverständlich.
Prominente Stimmen der CDU-CSU-Opposition, namentlich auch aus Bayern, kündigten denn auch unverzüglich an, im Falle eines Regierungswechsels würde die Vereinbarung wieder gekündigt. Wie verschiedene Kommentatoren in den Schweizer Medien richtigerweise analysierten, ist Deutschland Deutschland.
Für die Schweizer Politik besteht kein Anlass, dem schlechten Beispiel der rot-grünen deutschen Atompolitik nachzueifern.

Quelle

P.H.

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