Deutschland: Szenarien für den Energiemix der Zukunft
Im Auftrag des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) haben die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) ein Konzept für ein Energieforschungsprogramm erarbeitet. Darin plädieren die Akademien, die Erforschung der Kernenergie nicht aufzugeben, um die bestehenden deutschen Kraftwerke bestmöglich betreiben zu können.
Die Studie «Konzept für ein integriertes Energieforschungsprogramm in Deutschland», die noch nicht abgeschlossen ist, stellt den technischen Stand der verschiedenen Energieträger – darunter auch der Kernenergie – vor. Sie entwirft verschiedene Szenarien und hinterfragt Kosten, Nutzen und öffentliche Akzeptanz.
Forschungsbedarf im Nuklearbereich bestehen lassen
Auch wenn Deutschland am Kernenergieausstiegsbeschluss festhalten und die Kernkraftwerke in den nächsten 15 Jahren stilllegen sollte, besteht laut Studie ein hoher zusätzlicher Forschungsbedarf zu den Themenbereichen nukleare Sicherheit, Endlagerung und Strahlenforschung. Dieser ergebe sich aus dem allgemeinen Interesse, die sehr hohen deutschen Sicherheitsstandards weiterzuentwickeln und in die Entwicklung, den Betrieb sowie den Bau künftiger Kernkraftwerke andernorts auf der Welt einfliessen zu lassen – auch im nationalen Eigeninteresse. Gleiches gelte für die Endlagerforschung, bei der ausserdem das hohe Eigeninteresse bestehe, die radioaktiven Abfälle in Deutschland einer sicheren Endlagerung zuzuführen, stellen die Autoren der Studie fest.
Was wäre wenn …
«Abhängig von politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen» sei es sogar denkbar, dass sich Deutschland an der Entwicklung und dem Bau neuer Kernkraftwerke beteilige, «um einen erheblichen Teil des Energiebedarfs mit Kernenergie zu decken», folgert die Studie. Eine solche Entscheidung hätte Konsequenzen für die Energieforschung nicht nur im Bereich der Entwicklung der Nukleartechnologien selbst, sondern auch in Bezug auf die Einbettung in ein umfassendes Energiesystem mit allen technologischen und soziopolitischen Konsequenzen. Ein Wiedereinstieg Deutschlands in die Entwicklung von Kernkraftwerken wäre dann denkbar, wenn Deutschland die geltenden hohen Sicherheitsstandards auch bei der Entwicklung ausländischer Kernkraftwerke der dritten und vierten Generation mit Nachdruck implementieren wollte oder wenn sich in Deutschland im Verlauf der Zeit die Einsicht durchsetzen sollte, dass die Kernenergie trotz der unbestreitbaren Risiken eine kostengünstige und konsensfähige Grundlast-Stromversorgung ohne CO2-Ausstoss biete.
Die Autoren räumen zudem ein, dass aufgrund der Erfahrung in den vergangenen Jahrzehnten mit Widerständen gegen die Nutzung der Kernenergie zu rechnen sei und ein Wiedereinstieg nicht ohne grössere gesellschaftliche Konflikte vonstatten gehen würde. Hier scheine es wichtig, so die Studie, durch historische und soziologische Forschung die Situation in der Vergangenheit zu analysieren und mit der heutigen oder zukünftigen Lage zu vergleichen, um daraus Schlüsse für die zu erwartenden gesellschaftlichen Reaktionen ziehen zu können. Ausserdem müssten bei einer Wiederaufnahme der Forschungsarbeiten zu neuen Reaktoren bereits frühzeitig Ansätze entwickelt werden, mittels derer die Technologie gegebenenfalls umgesetzt werden könnte, ohne Widerständen zu begegnen oder – für den Fall, dass dies nicht möglich ist – mit diesen Widerständen konstruktiv umzugehen.
Studie löst hitzige Debatte über Kernenergie aus
Nachdem Mitte September 2009 eine Entwurfsfassung der Studie öffentlich wurde, sorgte sie einige Tage vor der Bundestagswahl vom 27. September für Aufregung in der deutschen Politik und den Medien. Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) ergriff die Gelegenheit und kritisierte einmal mehr, dass «die Atomkraft offenbar in den Planungen der Union [CDU/CSU] insgeheim eine grössere Rolle spielt als bisher immer behauptet». Er warf der Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) vor, eine Studie in Auftrag gegeben zu haben, die den Neubau von Kernkraftwerken in Deutschland untersuchen solle. Dies dementierte Schavan und bezeichnete Gabriels Vorwurf als «absurd».
Die Akademien wiesen in ihrer Stellungnahme daraufhin, dass das Konzept keine «Atomstudie» sei. Gegenüber der Erörterung fossiler und regenerativer Energien spiele sie keine herausgehobene Rolle. Die Studie enthalte auch keine Empfehlung zum Bau neuer Kernkraftwerke.
Quelle: M.A. nach Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, acatech und BBAW «Konzept für ein integriertes Energieforschungsprogramm in Deutschland», Stand Juni 2009, Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Stellungnahme, 16. September, BMU, Pressemitteilungen, 16. und 18. September, sowie BMBF, Stellungnahme, 17. September 2009