Die Atomenergie hat eine Zukunft

Gastreferat von Dr. Rolf Linkohr, Mitglied des Europäischen Parlaments, Vorsitzender der Europäischen Energiestiftung, Brüssel, anlässlich der Generalversammlung der SVA vom 21. Oktober 2003 in Bern

20. Okt. 2003

Sehr verehrte Damen und Herren, wirft man auch nur einen kurzen Blick auf die Regierungspolitik einer Reihe europäischer Staaten, so erscheint der Titel meines Vortrags recht verwegen. Hat die Atomenergie tatsächlich eine Zukunft? In Deutschland soll unumkehrbar aus der Atomenergie ausgestiegen werden, in Belgien will man es den Deutschen nachtun, die Briten verschieben die Entscheidung auf später, die Schweden haben bereits in den 90er-Jahren in einer Volksabstimmung nein zur Atomkraft gesagt, vor ihnen sprachen sich die Italiener und Österreicher gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie aus, kurzum, uns bietet sich in Europa ein Bild, das meine Behauptung auf den ersten Blick ins Lächerliche kehrt.

Reaktorphysik: Zahl der Studenten rückläufig
Diese Entwicklung hin zum Ausstieg zeigt bereits Folgen. Immer weniger Studenten wollen Reaktorphysik studieren, die Forschungsaufwendungen für Nukleartechnik gehen zurück, so dass man tatsächlich den Eindruck gewinnen kann, hier handelt es sich um eine sterbende Disziplin der Wissenschaft. Der Tod kommt nicht plötzlich, doch die Wunden, die die langanhaltende Auseinandersetzung um die Kernenergie hinterlassen haben, könnten langsam zu einem lebensgefährlichen Blutverlustführen. Am Ende gibt es vielleicht nicht einmal genügend Trauergäste bei der Beerdigung, weil der Atomenergie die Freunde ausgegangen sind.

Atomtechnik als Auslaufmodell?
So könnte es tatsächlich sein und so stellen sich auch viele Gegner der Atomenergie die Zukunft vor. Die Atomtechnik ist ein Auslauf modell, so sagen sie, die Technik von gestern, etwas, was wir abgehakt haben. Es lohnt auch nicht mehr, darüber zu diskutieren. Schliesslich ist alles gesagt und neue Erkenntnisse gibt es nicht. Es geht jetzt nur noch darum, diese Fehlentwicklung vernünftig abzuwickeln, so dass die wirtschaftlichen Folgen des Abschieds von der Kernenergie erträglich sind.
Wir steigen somit aus dieser risikobeladenen harten Technik aus und steigen in die sanfte Technik der Erneuerbaren ein, gerade so wie man aus einem stinkenden Auto in die leise und emissionsfreie Strassenbahn umsteigt.

Öffentliche Meinung ist keine Konstante
Meinungsumfragen zeigen wohl, dass diese Haltung nur von einer Minderheit in der Bevölkerung geteilt wird, doch die anderen äussern sich nicht oder es ist ihnen gleichgültig. So kann man durchaus von einer vorherrschenden antinuklearen öffentlichen Meinung sprechen.
Doch die öffentliche Meinung ist keine Konstante in der Zeit. Sie ändert sich, so wie sich unsere Erfahrung ändert, oder anders ausgedrückt, sie schwingt im Takt mit der sich wandelnden Wahrnehmung der Welt. Die öffentliche Meinung hat eine gewisse Halbwertszeit, dann weicht sie einer anderen. Denn die Ängste von heute sind nicht die Ängste von morgen.

Bessere Technik löst schwächere ab
Es wäre auch das erste Mal in der Geschichte, dass eine technische Entwicklung aus freien Stücken aufgegeben wird, obwohl sie einen wirtschaftlichen Nutzen verspricht. Gewiss, auch früher gab es Widerstand gegen die eine oder andere Entwicklung in der Technik, etwa die mechanischen Webstühle oder die Eisenbahnen, doch letztlich riss eine technische Entwicklung nur dann ab, wenn sie zu keinem Ergebnis führte oder nicht gebraucht wurde. Keinen Erfolg hatten die Luftschiffe, von denen man sich anfangs Wunder versprach, doch als Massenverkehrsmittel wurden sie sehr schnell durch Flugzeuge verdrängt. Vereinzelt werden sie heute wieder gebaut, doch nur für Nischen, in denen andere Technologien untauglich sind. Ein anderes Beispiel sind die städtischen Gaswerke, die dem importierten Erdgas wichen. Kurzum, eine Technik wurde von einer anderen abgelöst, weil diese besser war.

Kein Ersatz für Kernenergie in Sicht
Bei der Kernenergie ist es allerdings nicht so, dass sie durch eine neue Technologie überflüssig würde. Es gibt keinen Ersatz für sie. Denn dann brauchte es keinen politischen Druck, um ihre Entwicklung zu beenden. Wäre sie tatsächlich unwirtschaftlich, würde die Industrie von sich aus auf Alternativen umsteigen. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist politisch gewollt, er ist kein Beweis dafür, dass die Technik von der Entwicklung überholt wurde.
Nun gibt es sehr wohl aber auch Beispiele dafür, dass wir tatsächlich aus bestimmten Entwicklungen aussteigen, und zwar dann, wenn die Risiken zu hoch sind und wenn Alternativen zur Verfügung stehen. Die Entdeckung des Ozonlochs ist dafür ein gutes Beispiel. Sie führte zum weltweit gültigen Protokoll von Montreal, wonach die Staaten sich verpflichtet haben, keine Fluorchlorkohlenwasserstoffe mehr zu verwenden. Auch das Protokoll von Kyoto kann als Beispiel für einen unumkehrbaren Ausstieg genannt werden, wenngleich in diesem Fall der Umstieg auf emissionsfreie Energieträger auf dem Papier weiter vorangeschritten ist als in der Wirklichkeit.

Verbot hochschädlicher chemischer Verbindungen
Auch in der Chemiepolitik, die in Kürze wieder auf der Tagesordnung der Europäischen Institutionen steht, werden wir uns mit der Frage zu befassen haben, ob nicht bestimmte gefährliche Stoffe ganz oder teilweise verboten oder durch andere ersetzt werden können. Damit wird wohl kein Ausstieg aus der Chemie bezweckt, doch ein Verbot von chemischen Verbindungen angestrebt, deren Schädlichkeit ein unerträgliches Risiko bedeutet. Wir verwenden nicht den Begriff des Ausstiegs, doch angewandt auf den entsprechenden Stoff ist es sehr wohl ein Abschied von dem einen oder anderen Stoff. Aussteigen wollen wir auch aus den Tierversuchen und suchen deswegen seit langem verzweifelt nach Alternativen. Auch in diesem Fall bemühen wir uns zumindest der Tendenz nach um eine Wende, um eine Abkehr von einer Praxis, die wir als unerträglich und unverantwortlich empfinden.

Jede Entwicklung muss ihren Nutzen nachweisen
Ich nenne diese Beispiele, um daran zu erinnern, dass es in der jüngsten Zeit durchaus das Bemühen gibt, bestimmte technisch-naturwissenschaftliche Entwicklungen zu bremsen, umzulenken oder zu stoppen. Der Ausstieg ist wohl ein Begriff, der nur auf die Atomenergie angewandt wird, doch es wird in verschiedenen Bereichen aus- oder umgestiegen. Technik ist kein Selbstläufer, sondern jede Entwicklung muss in Zukunft ihren Nutzen und ihre Naturverträglichkeit nachweisen. Insofern ist Technik ein sozialer Prozess.
Diese Erkenntnis hat sich inzwischen zu zwei Prinzipien geführt, die in unseren Überlegungen einen festen Platz gefunden haben, nämlich die Nachhaltige Entwicklung und das Vorsorgeprinzip. In der Europäischen Union haben sie Verfassungsrang.

Wie kann man Nachhaltigkeit messen?
Doch was bedeuten diese Prinzipien in Wirklichkeit? Wie können wir Nachhaltigkeit messen? Ist zum Beispiel das Ausmass an Emissionen ein Massstab für die Nachhaltigkeit? Wäre das der Fall, dann wäre die Kernenergie nachhaltiger als Erdgas, von Kohle ganz zu schweigen. Sie wäre unter Umständen sogar nachhaltiger als die Photovoltaik, sofern man die gesamte Energiekette betrachtet und das Silizium mit Strom aus fossilen Kraftwerken gewinnt.
Unter Nachhaltigkeit verstehen wir, dass wir uns so verhalten müssen, dass auch nachfolgende Generationen in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. In einem weiteren Sinne verlangt Nachhaltigkeit gleiche Behandlung aller Länder und Menschen über die Generationen hinweg, wobei wirtschaftliches Wachstum, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit gleichermassen berücksichtigt werden müssen. Alle drei Forderungen müssen in einer abgeglichenen Weise miteinander ins Gleichgewicht gebracht werden. Es gibt keine einzelne Messgrosse, mit der Nachhaltigkeit absolut bewertet werden kann.

Kernenergie: Niedrige Kosten in der Grundlast
Bewertet man die Kernenergie anhand dieser Forderungen, so gibt es keinen Grund, ihr die Fähigkeit zur Nachhaltigkeit abzuerkennen. Ihrer niedrigen Kosten in der Grundlast wegen kann man ihr die Wirtschaftlichkeit nicht absprechen. Sonst würden die Finnen kein neues Kernkraftwerk bauen wollen. Und die Nicole Fontaine, für Energie zuständige stellvertretende französische Industrieministerin, würde nicht dem Premierminister vorschlagen, den EPR (European Pressurized Reactor) zu bauen. Sie verspricht sich eine 10%-ige Kostensenkung. Auch würde Brasilien nicht eine Urananreicherungsanlage bauen wollen, für die eigenen Reaktoren und für den Export. Nimmt man die Emissionen als Massstab des Umweltschutzes, so ist ihre Bilanz ebenfalls vorteilhaft. Kernanlagen emittieren keine Treibhausgase. Und zur sozialen Gerechtigkeit verhält sich die Kernenergie neutral. Sie steht ihr zumindest nicht im Wege. Bleiben die Risiken, nämlich die Möglichkeit eines Unfalls und die Frage nach der endgültigen Beseitigung der radioaktiven Abfälle.

Wie gross ist das Risiko der Kernenergie?
Zu den Risiken können wir auch das Vorsorgeprinzip befragen. Es geht davon aus, dass wir die Folgen technischer Vorgänge nicht genau vorhersagen können, da alles, was in der Zukunft liegt, prinzipiell unbestimmt ist. Wir können die Zukunft nur vermuten, sie in Szenarien einteilen, von denen die einen riskanter sind als die anderen. Verantwortliches Handeln muss deshalb davon ausgehen, dass von den möglichen Szenarien jene vermieden werden sollen, die eine katastrophale Wirkung haben können. Daraus folgern nach Tschernobyl viele, dass die Kernenergie als energetische Option ausfällt, da nach Murphy alles, was passieren kann, auch passieren wird. Obwohl ein Unfall in einer Kernanlage durch immer wieder verbesserte technische Sicherheit sehr unwahrscheinlich ist, ist er doch prinzipiell immer möglich.

Vorsorge nicht mit Vorsicht verwechseln
Vorsorge darf aber nicht mit Vorsicht verwechselt werden. Der Grund für die Besorgnis muss wissenschaftlich begründet sein. Es muss eine Risikoanalyse erstellt werden, die nachvollziehbar und transparent sein muss. Doch was ist, wenn sich das Risiko durch wissenschaftliche Bewertung nicht hinreichend bestimmen lässt? Wenn das Restrisiko als zu hoch empfunden wird? In diesem Fall steht das Vorsorgeprinzip der friedlichen Nutzung der Kernenergie entgegen. So jedenfalls das Credo der Atomenergiegegner.
Doch verlangt das Vorsorgeprinzip wirklich, dass wir kein Risiko mehr eingehen dürfen? Oder muss das Risiko nur so gering sein, dass es politisch verantwortet werden kann? Gibt es überhaupt eine sichere Technik, in dem Sinne, dass prinzipiell nichts passieren kann?

Inhärent sichere Reaktoren
Die Sicherheit der Kerntechnik ist in den letzten Jahren derart verbessert worden, dass wir selbst im Falle eines Unfalls die Folgen auf den Ort des Geschehens beschränken können. In andern Worten, die da draussen merken nicht, dass da drinnen etwas passiert ist. Bei der nächsten Generation von Kernkraftwerken kann sogar ein grösserer Unfall prinzipiell nicht mehr stattfinden. Wir sprechen von inhärent sicheren Reaktoren. Das ist so, als ob wir Tankschiffe hätten, die prinzipiell nicht sinken können, ein Zustand, von dem wir bei den Schiffen noch Lichtjahre entfernt sind.

Vergleich mit anderen Risiken
Ein solches Risiko ist tragbar, vor allem auch deshalb, wenn wir es mit anderen Risiken vergleichen. Ohnehin fällt auf, dass die Risiken der Energiesysteme eher mit dem Bauch als mit dem Kopf bewertet werden. Jedes Jahr kommen immer noch etwa 15'000 Bergleute weltweit bei Grubenunglücken ums Leben. Etwa 100'000 werden verletzt. Fossile Energie erzeugen Treibhausgase, gegen die wir bislang aus schlichten Gründen der Chemie keine Massnahmen ergreifen können. Würde in einer Wasserstoffwirtschaft, die viele für das Ideal der Energiepolitik halten, die Leckage so gross sein wie beim Erdgas, so zerstörte das aufsteigende H2 die Ozonschicht noch schneller als die Fluorchlorkohlenwasserstoffe, die wir erst jetzt verboten haben. Bleiben Erneuerbare Energien, die zweifellos einen besonderen Charme haben, sind sie doch praktisch risikolos und nutzen im Prinzip die geradezu endlose Sonnenenergie. Doch auch sie haben ihre Probleme. Sie sind immer noch teurer als die meisten ihrer Konkurrenten, sie taugen - mit Ausnahme der Wasserkraft - nicht für die Grundlast und selbst die Wasserkraft kann nur genutzt werden, wenn genügend Wasser zur Verfügung steht. Auch ist ihr Flächenbedarf zuweilen ein Hindernis für ihre Verbreitung. Damit will ich aber nicht ausschliessen, dass nicht in fünfzig oder hundert Jahren Erneuerbare Energiequellen einen bedeutenden Teil unserer Energieversorgung übernehmen können.

Vor- und Nachteile verschiedener Energieträger
Wir alle kennen die Diskussion über die Abwägung der Vor- und Nachteile der verschiedenen Energieträger, oder besser gesagt, der Energiewandler. Gerade weil jede Energietechnologie ihre Vor- und Nachteile hat, werden die verschiedenen Technologien immer dort benutzt, wo sie den grössten Vorteil vor ihren Konkurrenten versprechen. So ist selbst die teure Photovoltaik in manchen Bereichen heute schon der vernünftigste Weg zur Erzeugung von Strom.
Allerdings kann eine Technik, die heute ihrer Mängel wegen nicht gebraucht wird, morgen in verbesserter Form sehr nützlich sein. Vor dreissig Jahren war die Brennstoffzelle ein Luxus, den sich höchstens die Raumfahrt oder das Militär hat leisten können. In ein oder zwei Jahren werden kleine Brennstoffzellen die Sekundärbatterie vom Markt verdrängen. Und in fünf oder zehn Jahren wird die Brennstoffzelle vielleicht das Rückgrat einer dezentralen Energieversorgung werden -vorausgesetzt, die derzeitigen Probleme werden befriedigend gelöst.

Jeder Eingriff ist mit Risiko verbunden
Es gibt keine risikofreie Technik. Denn jeder Eingriff in die Natur ist mit Risiko verbunden. Und um zu überleben, müssen wir in den Stoffkreislauf eingreifen. Dabei kommen wir nie wieder zum Ausgangspunkt zurück. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik lehrt uns, dass jede stoffliche Veränderung auf unserer Erde, die schliesslich die Grundlage menschlichen Lebens ist, irreversibel ist, also mit einer Zunahme an Entropie verbunden ist. Es gibt kein totales Recycling. Und selbst wenn es das gäbe, wäre es nicht unbedingt ein Zugewinn an biologischer Vielfalt.
Ein gutes Beispiel ist der Wald, der Mitteleuropa vor 1000 Jahren zum grössten Teil bedeckte. Im Laufe der Jahrhunderte rodeten die Menschen grosse Teile des Waldes, um Platz für Siedlungen, Acker- und Weideflächen zu schaffen. Auch war Holz die einzige Energiequelle, und die kam aus dem Wald. Die Waldfläche nahm ab. Doch dabei vergrösserten die Menschen auch die Biodiversität, denn die Lebensräume für Pflanzen und Tiere wurden vielfältiger. Eine Rückkehr zum Zustand vor tausend Jahren wäre also ein Verlust an biologischer Diversität und wäre kein Beitrag zur Nachhaltigkeit.

Minimaler Verbrauch an Rohstoffen
Dieses Beispiel lehrt, dass Veränderung nicht unbedingt zu einer Verarmung der Arten führen muss. So ist auch der Verbrauch von Rohstoffen, oder genauer gesagt, ihre Umwandlung nicht immer ein Risiko, sie kann auch ein Gewinn sein. Allerdings kann es auch ein Verlust sein. In Wirklichkeit zerstört der Mensch auf der Erde mehr als er gutmacht. Deshalb müssen wir bei der Energieumwandlung einen Weg gehen, der zu einem minimalen Verbrauch an Rohstoffen und einer möglichst geringen Emission von Treibhausgasen führt, das alles bei niedrigen Kosten und beherrschbaren Risiken. In diesem Fall würde ich von Nachhaltigkeit sprechen. Meiner Meinung nach wäre dabei auch dem Vorsorgeprinzip Genüge getan.
Wer dies bestreitet, der möge gegen den Bau neuer Kernkraftwerke vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, denn die beiden Prinzipien -Nachhaltigkeit und Vorsorge - haben inzwischen europäischen Verfassungsrang. Auch wenn ich kein Verfassungsjurist bin, kann ich mir schwer vorstellen, dass die Richter der Kernenergie die Nachhaltigkeit absprechen würden. Denn dann wäre auch der EURATOM-Vertrag, der explizit eine Förderung der Atomenergie vorsieht, ein verfassungswidriger Vertrag!

Jede Technik muss akzeptiert werden
Wenn aber die Kernenergie nachhaltig ist, dann gibt es keinen rationalen Grund mehr, ihr die weitere Nutzung zu verweigern. Zumindest sollte man es meinen. Doch gibt es noch einen Einwand, und der ist nicht gering zu schätzen. Er hat mit der öffentlichen Wahrnehmung der Technik zu tun. "Die Festlegung eines zumutbaren Risikograds stellt eine mit hoher politischer Verantwortung verbundene Entscheidung dar", so die Europäische Kommission in der Auslegung des Vorsorgeprinzips. Nicht nur das Risiko, nicht nur die wissenschaftliche Unsicherheit, auch die besorgte Öffentlichkeit müssen berücksichtigt werden. Und das kann unter Umständen dazu führen, nicht tätig zu werden. Mit anderen Worten, eine Technik muss auch von der Mehrheit der Menschen akzeptiert werden. Und so hat das Vorsorgeprinzip auch noch eine subjektive Note, eine soziokulturelle Komponente, die sich der Wissenschaft entzieht.

Technik als Gegenstand der Politik
Zur Erläuterung möge ein Beispiel aus der Lebensmittelbranche dienen. Bis heute können wir nicht nachweisen, dass sich Milch von Kühen, die mit Rindersomatropin behandelt wurden, damit sie mehr Milch geben, von sogenannter normaler Milch unterscheiden. Trotzdem ist es in Europa verboten, Kühe mit diesem Wachstumshormon zu spritzen. In den USA und in vielen anderen Ländern ist es erlaubt. Wir riskieren mit den USA einen Handelskonflikt, obwohl wir bis heute keinen wissenschaftlichen Beweis erbringen können, dass diese Milch der Gesundheit schadet. Dasselbe gilt für hormonbehandeltes Fleisch oder für genetisch veränderte Sojapflanzen. Die EU hat seit Jahren ein Einfuhrverbot verhängt, das nur aufgehoben wird, wenn die Produkte gekennzeichnet werden. Denn wir gehen auch dann von einem möglichen Risiko aus, wenn dieses Risiko nicht voll nachvollziehbar ist, wenn also nicht messbar ist, in welchem Umfang ein Risiko besteht.
In diesem Fall folgt die Politik der öffentlichen Meinung, nicht der Wissenschaft. Die meisten Europäerinnen und Europäer sind der Meinung, wir brauchen das nicht, obwohl kein Gesundheitsrisiko besteht. Doch das Vorsorgeprinzip verlangt nach gesellschaftlicher Akzeptanz, eine Forderung, die nicht immer leicht zu erfüllen ist. Damit wird Technik zu einem Gegenstand der Politik. Wer deshalb die Kernenergie fördern will, muss sich um gesellschaftliche Mehrheiten bemühen. Gerade in einer Demokratie kann keine Technologie gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt werden.

Der Mensch will Sicherheit
In aller Regel kann Angst nicht mit technischen Formeln und den Gesetzen der Statistik beseitigt werden. Vertrauen in eine Technik lässt sich nicht durch Vernunft erzwingen. Auch fangen die meisten Menschen mit mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen nichts an. Sie wollen Sicherheit. Zumindest wollen sie davon überzeugt sein, dass das Gerät, das sie gerade benutzen, sicher ist. Würden die Menschen den Risikoanalysen folgen, würden sie vor jedem Anlassen ihres Autos den Reifendruck und die Funktionsfähigkeit ihrer Bremsen testen. Sie würden vielleicht sogar das Rauchen bleiben lassen. Und bevor wir eine Ehe eingingen, würden wir eine Risikoanalyse anfertigen lassen. Nein, so verhalten wir uns nicht. Wir gehen durchaus Risiken ein und zuweilen sogar sehr grosse. Denn neben der Angst haben wir auch Vertrauen. Dieses Vertrauen kann aber am besten dadurch hergestellt werden, dass nichts passiert. Wer einmal einen schweren Autounfall gehabt hat, braucht lange, bevor er sich wieder ans Steuer setzt. Erst langsam weicht die Angst dem Verlangen, wieder Auto zu fahren. So ist es auch bei der Kernenergie. Das Vertrauen in sie kann nur hergestellt werden, wenn nichts Schlimmes passiert. Erst dann glauben die Menschen den Berechnungen der Ingenieure, dass Tschernobyl eben eine Ausnahme war, die mit der mangelhaften Technik und dem Versagen der Mannschaft erklärbar ist und sich deshalb nicht wiederholen muss.

Nachteile eines Ausstiegs aus der Kernenergie
Angst kann aber auch durch neue Angst verdrängt werden. Wenn der Ausstieg aus der Kernenergie zu höheren Preisen, zu einem Anstieg der Emission von Treibhausgasen, zur übermässigen Vernichtung von Kapital, dem Verlust von Arbeitsplätzen führt oder zu einem Versorgungsproblem wird, dann kann diese neue Angst durchaus die Angst vor den technischen Risiken verdrängen. Dies ist in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten wahrscheinlicher als in Zeiten des Überflusses. In Europa sind wir übrigens genau an diesem Punkt angekommen.

Materielles Interesse im Vordergrund
Die Zeiten ändern sich und wir ändern uns mit ihnen, sagten schon die alten Lateiner. Waren Tschernobyl und Three Mile Island bis vor kurzem noch das Menetekel an der Wand, die geheime Handschrift einer unverantwortbaren Technik, die mit menschlicher Fehlerhaftigkeit nicht vereinbar war, so steht heute das materielle Interesse wieder im Vordergrund, die Angst um den Arbeitsplatz, die wirtschaftliche Entwicklung, das Wachstum - und damit die Kosten der Energie. Auch wenn heute noch keine grundsätzliche Debatte über die Atomenergie möglich ist, auch wenn es heute noch keine Bereitschaft gibt, öffentlich den Kurs des Ausstiegs oder des Moratoriums in Frage zu stellen, so wird doch offener als bislang über die Kosten gesprochen. So merken wir langsam in Deutschland, dass die Kosten des Stroms in Deutschland im Vergleich zu den Nachbarländern tendenziell ansteigen. In Frankreich wird die Laufzeit der abgeschriebenen Kernkraftwerke verlängert, wir Deutsche hingegen vernichten mit dem frühzeitigen Ende der Atomkraftwerke Kapital und leisten uns eine teure Alternative. Doch die Kostendiskussion ist der Vorbote einer umfassenden Auseinandersetzung über die Energiestrategie der Zukunft. So könnte es sehr wohl sein, dass wir die Angst vor der Kernenergie durch die Angst vor den Kosten verdrängen.

Der Drang zum Bessermachen
Persönlich wäre mir aber lieber, dass nicht eine Angst durch eine andere verdrängt wird, sondern dass die Angst der Neugier weicht, also dem Drang, es besser zu machen. Denn Angst ist keine Kategorie des Fortschritts, nur die Neugier garantiert uns bessere Lösungen. Und so geschah es auch oft im Laufe der Technikgeschichte.
Erwies sich in der Vergangenheit eine Technologie als fehlerhaft, und wurde sie gebraucht, so gab man sie nicht auf, sondern verbesserte sie. Die ganze Geschichte der Technik ist von Verbesserungen als Folge von Fehlern geprägt. So stieg auch Grossbritannien nach dem Untergang der Titanic nicht aus der Schifffahrtstechnik aus, sondern baute schlicht bessere Schiffe. Nach den entsetzlichen Dammbrüchen in Fréjus im Jahre 1959 und Longarone im Jahre 1963 kamen Hunderte von Menschen um. Wir haben deshalb nicht auf die Wasserkraft verzichtet, sondern bessere Staudämme gebaut. Auch nach dem Untergang der "Prestige" vor der galizischen Küste hat niemand das Ende der Öltransporte gefordert, sondern alle Welt verlangt nach besseren Sicherheitsmassnahmen, mit anderen Worten, nach einer besseren Technik.

Langsamer Meinungswandel
Nun kann man seine Wünsche äussern, doch die Wirklichkeit geht oft darüber hinweg. Tatsächlich vollzieht sich derzeit ein Meinungswandel, erst langsam und dann vielleicht schnell. Eine Angst weicht der anderen, manchmal gibt es auch neue Einsichten. Um in der Sprache der Physik zu bleiben, könnte man den Meinungswandel mit einem Phasenwechsel vergleichen, der auch nicht abrupt vonstatten geht, sondern durch kleine stochastische Störungen und mikroskopische kleine Keime vorbereitet wird, unbeobachtet von unserem Auge, doch unumkehrbar und sogar wahrnehmbar unter dem Mikroskop. Mein früherer Lehrer in Theoretischer Physik an der Uni Stuttgart, Professor Weidlich, hat den Phasenwechsel als Modell für Meinungsumschwünge herangezogen und seine Dynamik mathematisch beschrieben. Bei diesem Bild wird verständlich, wie aus Minderheitsmeinungen Mehrheitsmeinungen werden, vorbereitet durch kleine, aber beharrliche Störungen des Gleichgewichts - oder um im Bild zu bleiben - der vorherrschenden Meinung. Und die Fragen nach den Kosten sind die ersten Störungen in der kristallinen Struktur des Anti-Atom-Meinungsbildes. Noch einige solcher Keime, und das Eis schmilzt zu Wasser, das heisst, der Phasenwandel ist nicht mehr aufzuhalten.

Finnland will fünftes Kernkraftwerk
Vorboten des Meinungswandels sind bereits zu sehen. In Finnland hat das Parlament dem Bau eines fünften Kernkraftwerks zugestimmt, nachdem jahrelang über diese Frage in der Öffentlichkeit gestritten wurde. In der Schweiz wurde in einer Volksabstimmung ein Moratorium ebenso abgelehnt wie ein Ausstieg. In Frankreich hat in diesem Jahr eine nationale Energiedebatte stattgefunden, die den bisherigen Kurs der Regierung kaum ändern dürfte. Frankreich wird weiterhin an der Kernenergie festhalten und vermutlich bald einen Grundsatzbeschluss zum Bau eines EPR fassen. In Belgien dürfte nach der Wahlniederlage der Grünen der Ausstiegsbeschluss auch bald überprüft werden. In den USA hat die derzeitige Regierung einen Wechsel in der Atompolitik verkündet und es sieht so aus, als stünde die Mehrheit der Bevölkerung in dieser Frage hinter ihr. Auch vermute ich, dass Brasilien sich in Kürze zum Bau des dritten Atomreaktors in Angra dos Reis entschliessen wird. Denn wer eine Anlage zur Urananreicherung bauen will, steigt nicht aus, sondern ein.

Öffentliche Meinung ist in Bewegung
Die öffentliche Meinung ist auch heute in Bewegung. Sie ist keine Konstante in der Zeit. Meist sind es unvorhersehbare Grossereignisse, manchmal auch latent sich ausbreitende Ängste, die einen Meinungswandel auslösen. Three Mile Island und Tschernobyl sind keine Ausnahmen, wenngleich gerade diese Unfälle eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die Sinnhaftigkeit und Finalität von moderner Technik bewirkten.
Gerade in den letzten zehn Jahren haben wir einen wichtigen Meinungswechsel in Europa vollzogen. Der schreckliche Bürgerkrieg auf dem Balkan, also vor unserer Haustür, die wilde Massenabschlachtung von Menschen im Herzen Afrikas, die abschreckende Herrschaft der Taliban in Afghanistan brachte selbst im pazifistischen Europa die Menschen dazu, die militärische Intervention zur Erhaltung des Friedens und der Menschenrechte zu akzeptieren. Nach der Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo waren wir sogar bereit, Luftangriffe auf Serbien zu akzeptieren, ohne Beschluss des UNO-Sicherheitsrates! Was vor fünfzehn Jahren noch undenkbar erschien, ist heute allgemein akzeptiertes Gemeingut: Europa hat eine Verantwortung in der Welt und ist unter bestimmten Bedingungen auch bereit, dafür militärische Mittel einzusetzen.

Die schleichende Änderung der öffentlichen Meinung
Ähnlich könnte es mit der Kernenergie geschehen. Für die schleichende Änderung der öffentlichen Meinung habe ich übrigens einen empirischen Beweis. Denn viele Kritiker der Kernenergie, vor allem aus meiner eigenen Partei versichern mir im Gespräch unter vier Augen, ich möge doch an meiner pronuklearen Haltung festhalten, denn früher oder später müssen wir doch wieder in die Kerntechnik rein, aus der wir gerade aussteigen. Dieselben Personen wagen aber nicht, diese Meinung öffentlich zu äussern, aus Angst, in der Öffentlichkeit abgestraft zu werden. Käme es aber zu einem messbaren öffentlichen Meinungsumschwung, wären auch sie dabei und übrig bliebe nur der harte Kern der Atomkraftgegner, doch die bilden allein keine Mehrheit.

Die technischen Bedenken widerlegen
Meine Erfahrung zeigt mir, dass man den Kampf um die Kernenergie nicht mit den Waffen der Physik gewinnen kann. Sie können hundert Male vorrechnen, dass das Risiko, durch einen Unfall in einem Kernkraftwerk umzukommen weit geringer ist als im Strassenverkehr umzukommen. Das beeindruckt kaum jemand. Auch können Sie noch so viele Flugblätter verteilen, um zu zeigen, dass die Endlagerung kein physikalisches, sondern ein psychologisches Problem ist. Sie werden nur geringen Erfolg haben. Trotzdem ist es wichtig, die technischen Bedenken zu widerlegen.
Bekanntlich gibt es bei der Kernenergie zwei Probleme, die Sicherheit der Anlage und die Beseitigung der radioaktiven Abfälle. Was die Sicherheit einer Kernanlage betrifft, so ist sie nach menschlichem Ermessen weit grösser als die anderer Technologien. Gerade weil die Sicherheitstechnik immer wieder in die Kritik einer skeptischen Bevölkerung, vor allem einer sensationsgierigen Presse geriet, sind die Sicherheitsvorschriften und der Umgang mit ihnen äusserst engmaschig. Ich kann mir schwer vorstellen, dass in der Schweiz, in Frankreich oder in Deutschland ein grösserer Unfall passieren kann. Was mir grössere Sorgen macht, ist ein Unfall in Asien oder Russland.

Gemeinsame Sicherheitskultur ist nötig
In Europa nehmen wir viel zu wenig Kenntnis von der Tatsache, dass es in Asien inzwischen eine Nuklearindustrie gibt, die sich weitgehend unabhängig von Japan, USA und Europa entwickelt. Indien will dabei längerfristig seine grossen Vorräte an Thorium nutzen und setzt deswegen auf eine Technik, bei der aus Thorium Uran-233 entsteht. China hat inzwischen ebenfalls einen hohen Stand der Entwicklung erreicht und exportiert sogar komplette Anlagen. Erst kürzlich hat China einen Atomreaktor in Pakistan errichtet. Die Süd-Süd-Kooperation nimmt also immer handfestere Formen an, was nebenbei auch die Folge europäischer Zurückhaltung ist.
Umso wichtiger ist es, dass die internationale Zusammenarbeit zu einer gemeinsamen Sicherheitskultur und -technik führt. Ein Unfall darf nicht passieren, weder bei uns noch anderswo. Sonst schwindet auch bei uns wieder das Vertrauen in die Atomtechnologie. Atomtechnologie ist deshalb auf internationale Zusammenarbeit auf höchstem Sicherheitsniveau angewiesen. Europa spielt aber dann keine Rolle mehr, wenn es aus der Atomtechnik aussteigt. Mit Papier allein machen wir keinen Eindruck.

Risiken der Endlagerung sind beherrschbar
Obwohl die Risiken der Endlagerung beherrschbar sind, so ist sie doch in den Augen der Öffentlichkeit das grössere Problem. Wenn ich die Endlagerung mit dem Massstab der Geophysik betrachte, so frage ich mich nach vielen Gesprächen und Besichtigungen, wo ist das Problem? Vielleicht liegt es darin, dass wir bislang noch nirgendwo ein real existierendes Endlager haben? Immerhin haben die Finnen jetzt einen Ort ausgewählt, wo ihr Endlager gebaut werden soll. Sie wählen den Weg der direkten Endlagerung. Die Franzosen haben die Wahl des Endlagers aufgeschoben, arbeiten aber an einer Alternative zur direkten Endlagerung. Sie wollen die abgebrannten Brennstäbe wiederaufarbeiten und nach einer chemischen Trennung der verschiedenen Bestandteile das Uran und Plutonium wieder zu neuen Brennstäben verarbeiten, die langlebigen minoren Aktinide wie Americium, Technetium, Curium, etc. in einem schnellen Reaktor in kurzlebige Isotope umwandeln, ein Vorgang, den wir Transmutation nennen. Dies ist dann der Abfall im eigentlichen Sinne, der in Glaskokillen eingeschmolzen anschliessend unter die Erde gebracht werden kann. Der Vorteil liegt im geringen Volumen der Abfalls und der Tatsache, dass nach 150 Jahren die Radioaktivität des natürlichen Uran erreicht wird.

Renaissance der Wiederaufarbeitung?
Gegen die Wiederaufarbeitung wurde vorgebracht, dass sie das Risiko der Weiterverbreitung von Atomwaffen erhöht, weshalb seinerzeit die USA diesen Weg verlassen haben. Heute sieht es so aus, als wollten nicht nur die USA, sondern auch Russland, China, Indien und Frankreich, vielleicht auch weitere Staaten diesen Weg wieder fortsetzen.
Welche Technologie sich letztlich durchsetzen wird, die direkte Endlagerung oder die Wiederaufarbeitung mit Transmutation, wird auch von den Kosten abhängen. Stellvertretend für Europa wird Frankreich diese Debatte führen. Der Ausgang der Debatte entscheidet aber auch über die Zukunft der Atomenergie. Denn bei der direkten Endlagerung wird nur 2% der Urans verwertet. Eine auf Hunderte von Jahren angelegte Atomstrategie wird sich diese Verschwendung nicht leisten können.

Solare Utopie verdrängte soziale Utopie
In unserem politischen Denken hat allerdings die Welt der Fakten kaum Bedeutung. Ein Drittel der Europäerinnen und Europäer sind heute noch der Überzeugung, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Selbst im Hochtechnologieland USA glaubt mehr als ein Drittel der Bevölkerung an Telepathie und über 50% glauben eher dem Schöpfungsbericht aus dem Buch Genesis als der Evolutionslehre Darwins. Hinzu kommt, dass die Linke den Kampf gegen die Atomenergie zum Ausweis ihrer Identität gemacht hat. Das tut einem Altlinken wie mir besonders weh. Ich habe bis heute nicht begriffen, warum ich als Sozialdemokrat gegen Atomenergie sein muss. Erklären kann ich mir diesen Vorgang nur damit, dass der Linken die soziale Utopie abhanden gekommen ist. Sie wurde von der solaren Utopie verdrängt. Erneuerbare Energien wurden zum Ausweis der Modernität. Gerade die Deutschen, die weder eine demokratische noch eine soziale Revolution zustande brachten, träumen jetzt von der solaren Revolution. Energiepolitik wurde so zum Resonanzboden einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Sonnenenergie ist sanft, risikofrei, schafft Arbeitsplätze, hilft der Dritten Welt, befreit uns von einem Krieg ums Öl, sie ist dezentral und basisdemokratisch, klein und damit schön, und für die Wertkonservativen schenkt sie uns der Herrgott auch noch kostenlos. In den germanischen Sprachen ist zudem die Sonne weiblich, somit bekommt die Sonnenenergie auch noch einen feministischen Anstrich. Warum es auch noch besonders gottgefällig ist, auf das Kirchendach Photovoltaik zu bringen, ist mir rätselhaft. In früheren Zeiten hätte man das übrige Geld den Armen geschenkt. Doch wie ich schon sagte, die soziale Utopie weicht bei uns der Sehnsucht nach der solaren Gesellschaft. Ironisch könnte ich jetzt ergänzen, dass diese Sehnsucht schon in unserem Traditionslied "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" angelegt war. Doch will ich aus Respekt vor unserer Tradition hier lieber abbrechen.

Die Menschheit braucht die Kernenergie
Wenn Fakten schon eine geringe Rolle spielen, dann sollten wir uns auf die Zwänge der Wirklichkeit konzentrieren. Die Kernenergie hat eine Zukunft, weil man sie braucht. Heute zur Gewinnung von Strom, morgen zur Entsalzung von Meerwasser oder zur Gewinnung von Wasserstoff. Der Energieverbrauch der Welt folgt leider nicht den herrlichen Szenarien der Energieeinsparung. Er steigt. Er steigt sogar stark.
Kernenergie verringert auch unsere Abhängigkeit von Energieimporten. Das beste Beispiel ist Frankreich, das abschreckende Beispiel Italien, das es ablehnt, Kernkraftwerke zu bauen, sich aber nicht scheut, bei seinen Nachbarn Strom aus Kernkraftwerken zu erwerben. Ja, inzwischen will ein grosses italienisches Energieversorgungsunternehmen sogar drei Kernkraftwerke in Frankreich erwerben.
Kernenergie verringert die Emission von Treibhausgasen. Das ist so wie zwei mal zwei vier ist. Schon heute hat die EU Schwierigkeiten, ihre Kyoto-Verpflichtungen nachzukommen. Wie schwer wird es erst werden, wenn der Reihe nach Kernkraftwerke stillgelegt werden sollen!

Kernenergie-Ersatz durch fossile Energie nicht sinnvoll
Wer aus der Kernkraft aussteigt, wird in aller Regel fossile Energie einsteigen. Denn Kernkraft heisst Grundlast, nicht Spitzenlast. Und die fossile Energie ist in aller Regel Gas. Doch auch diese Tat ist nicht folgenlos. Unser Gas kommt in zunehmendem Masse aus Russland. Doch Russland hat technische und finanzielle Schwierigkeiten, die nötigen Mengen an Gas zu fördern. In der Folge ersetzen sie im eigenen Land Gas durch Kohle und Kernkraft und verkaufen das überschüssige Gas im Westen, wo sie ohnehin einen höheren Preis erzielen als zuhause. So schliessen wir im Westen Kernkraftwerke, ersetzen sie durch russisches Gas, in Russland wird die Laufzeit der dortigen Kernkraftwerke, einschliesslich solcher vom Typ Tschernobyl verlängert und es werden neue gebaut, die vermutlich bei uns immer noch keine Zulassung erhielten. Und wir ersetzen Kohle durch Gas, während die Russen Gas durch Kohle ersetzen. Das alles zusammengenommen ist sicherheitstechnischer und klimapolitischer Unsinn im Quadrat. Doch das schlimmste daran ist, dass darüber nicht einmal diskutiert werden darf. Denn die energiepolitische Theologie hat die Debatte darüber auf den Index gesetzt.

Schnell verbrauchte Glaubwürdigkeit
Ein gutes Beispiel dafür ist eine Resolution von weit über 500 deutschen Professoren, die sich vor einigen Jahren für die Kernenergie aussprachen. Weder die Politik noch die Medien haben sich seinerzeit für die Meinung der Universitätslehrer interessiert. Die Resolution erschien übrigens etwa zur selben Zeit, als die Regierungs- und Staatschefs der EU in Lissabon Europa zur wirtschaftlich stärksten und wissensbasierten Region der Welt ausriefen! Wen wundert es noch, dass in der Politik die Glaubwürdigkeit eine Ressource ist, die sich immer schneller verbraucht.

Wettbewerb sucht die besten Lösungen
Glücklicherweise gibt es keine Inquisition mehr. Und inzwischen leben wir in Europa auch bei der Energie in einer Wettbewerbsgesellschaft. Auch in einem Wettbewerb um Ideen. Und ich hoffe, dass es dabei nicht nur um die Senkung der Kosten, sondern auch um die besseren Lösungen geht, etwa um die nachweisbare und nicht um die eingebildete Senkung von Risiken.
So komme ich zum Schluss. Die Kernenergie - oder wie Sie sagen - die Atomenergie hat eine Zukunft, weil sie gebraucht wird. Der Ausstieg ist ein höheres Risiko als der Einstieg. Oder anders ausgedrückt, ihren Nutzen wird man umso schneller begreifen, wie man uns abnötigt, auf sie zu verzichten.

Quelle

Dr. Rolf Linkohr

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