«Die falsche Risikokarte im Kopf»

In der Mediengesellschaft werden die Risiken zu hoch und die Chancen zu tief gewichtet. Dabei gehen die Opportunitätskosten glatt vergessen.

26. Sep. 2012

«There ain’t no such thing as a free lunch», heisst es. Und unternehmerisch denkende Menschen wissen: Jedes Engagement birgt Risiken. Da sich in der Mediengesellschaft «bad news» und Gefahren besser verkaufen, glauben vor allem jene Menschen, die viele Nachrichten konsumieren, die Apokalypse sei nah – ein Irrtum. Der Bestsellerautor Rolf Dobelli («Die Kunst des klaren Denkens») sieht gerade im Medienkonsum das eigentliche Problem: «Ich lese keine Zeitungen.» Er argumentiert: «Zeitverschwendung ginge noch. Es ist viel schlimmer. News machen krank, sie geben eine falsche Risikokarte im Kopf. Ich habe darüber den Essay ‹Vergessen Sie die News!› geschrieben. Der kursiert inzwischen im Netz. Jeden Tag gibt es irgendwo auf der Welt einen Tweet, wo der Essay weitergeschickt wird.»* Die Diagnosen für News-Junkies können von selektiver Wahrnehmung, über depressive Verstimmungen bis Paranoia (Verfolgungswahn) reichen. (Rolf Dobelli im Interview mit der SonntagsZeitung, 12. August 2012)

Nicht nur die Medien sind schuld. Wir selber schätzen die Chancen in unserem Leben häufig zu gering ein. «Verluste schmerzen mehr, als Gewinne glücklich machen», heisst eine Regel in Behavioural Finance. Diese Regel ist zugleich eine Anlagefalle, die mit Verlustaversion definiert wird. Sie verleitet zu nichtrationalen Handlungen: Einer Verzweiflungstat gleich wird das verlustbringende Wertpapier nachgekauft, um den Einstandspreis zu senken und das Gesicht zu wahren.

Formel-1-Fahrer und Motorrad-Profis kennen das Problem der Fixierung auf Risiken ebenso. Ausgerechnet in dieser hochriskanten Sportart kann nicht nur Leichtsinn, sondern gerade auch Ängstlichkeit lebensbedrohend sein. «Wenn ich den Blick auf den inneren Rand der Kurve fixiere, dann ist das Risiko tatsächlich hoch, dass ich in diese Mauer fahre», sagte der Profi am Rande eines Rennens. Er hält sich deshalb vielmehr an einer Ideallinie, nicht unweit der Rennbahn-Mittellinie.

Dobelli fordert, sich von der Vorstellung des Nullrisikos zu verabschieden: «Im Strassenverkehr ist das Nullrisiko nur zu erreichen, wenn wir die Geschwindigkeitslimite auf null Kilometer pro Stunde reduzieren. Hier nehmen wir – vernünftigerweise – eine statistisch klar bestimmbare Anzahl Tote pro Jahr in Kauf. Doch irgendetwas treibt uns dazu, dass wir das Nullrisiko überbewerten.» Das klassische Beispiel dieses Entscheidungsfehlers ist das amerikanische Lebensmittelgesetz von 1958. Es verbietet Lebensmittel, die krebserregende Substanzen enthalten. Dieses Totalverbot führte aber dazu, dass zwar nichtkrebserregende, dafür aber andere, gefährlichere Lebensmittelzusätze verwendet wurden. Dobelli im Originalton: «Ihre Affekte zu Fragen wie Atomkraft, Biogemüse oder Motorradfahren bestimmen, wie Sie deren Risiken und Nutzen einschätzen. Mögen Sie etwas, dann schätzen Sie dessen Risiken systematisch tiefer und den Nutzen konsequent höher ein, als es der Wirklichkeit entspricht. Ihr Risikobild ist verzerrt.»

Gewiss, es ist sehr wohl nützlich, die Gefahren zu erkennen. Und unsere Welt war, ist und wird ständig in Gefahr sein – längst nicht nur durch Grosstechnologien, sondern auch durch die Finanzindustrie oder durch die hohe Belastung der Ressourcen.

George Orwells «Big Brother» gab der Informationsindustrie und den vielfältigen wie bedrohlichen Überwachungsmöglichkeiten schon früh einen Namen. Allerdings: die Überwachungskamera sollten Risiken minimieren und uns schützen. Dass die Datenmengen im Internet ungehindert wachsen, ist für viele Beobachter zwiespältig: Wissenshungrige Menschen wähnen sich angesichts der grössten Online-Bibliothek im Schlaraffenland des Wissens. Andere Menschen sehen ihre Privatsphäre in Gefahr. Wobei viele von ihnen, ziemlich bedenkenlos gleichzeitig etwa über Facebook Privates preisgeben.

Sobald der Konsument aus den Daten einen Nutzen ziehen könne, dann bewerte er die Datenbanken positiv, bringt es Elgar Fleisch, Professor für Informations- und Technologiemanagement an der ETH Zürich und der Universität St. Gallen auf den Punkt. Wie war das mit Biotechnologie? Vor 30 Jahren verbreiteten technologiefeindliche Kritiker Angst und Schrecken über diese damals neue Teildisziplin der Pharma-Industrie. Inzwischen hat eine Umbewertung stattgefunden. Möglicherweise setzt gerade die Biotechnologie in einigen Jahren nicht nur in der Prophylaxe Meilensteine; eventuell können gerade Menschen mit seltenen Erkrankungen auf ein für sie massgeschneidertes Medikament hoffen – Menschen, die bis jetzt aufgrund der zu geringen kritischen Masse von der Pharma-Industrie unberücksichtigt blieben.

Die starre Fokussierung auf Risiken schadet nicht nur unserem Wohlbefinden. Das weiss der Bestsellerautor und promovierte Ökonom Dobelli nur allzu gut. Der Grund: Wir handeln uns nämlich Opportunitätskosten aufgrund entgangenen Nutzens ein. Diese Kosten entstehen also dadurch, dass vorhandene Möglichkeiten zur Nutzung von Ressourcen nicht wahrgenommen werden. Man spricht auch von entgangenen Gewinnen.

Keine andere Industrie ist wie die Kernenergie permanent der Frage nach Risiken ausgesetzt. Viele Studien zur Technologiefolgeabschätzung wie jene des Paul Scherrer Instituts (PSI) geben vertieften Einblick. Die Nuklearindustrie muss sich den Vergleich mit anderen Technologien wahrlich nicht scheuen und schneidet unter dem Strich gut ab.

Ob eine Industrie nachhaltig bestehen kann, liegt nicht nur in der Hand der erwähnten Analysten und letztlich auch nicht in der Hand der Politiker, sondern in den Augen der Betrachter: Schlicht und ergreifend geht es schliesslich um die Frage nach dem effektiven Beitrag beziehungsweise dem Sinn einer Technologie – ihren Chancen und Risiken. Die Schweizerinnen und Schweizer werden an der Urne darüber befinden.

Quelle

Hans Peter Arnold

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