Interview mit Prof. em. Ryugo Hayano: «Die Mehrheit der Menschen, die in der Präfektur Fukushima leben, scheinen ihr tägliches Leben wiedergefunden zu haben.»

Interview mit Prof. em. Ryugo Hayano, Universität Tokio, über die Ereignisse vor zehn Jahren in Fukushima und die Situation heute.

11. März 2011
Prof. em. Ryugo Hayano
Prof. em. Ryugo Hayano spricht im Interview über die Ereignisse vor zehn Jahren in Fukushima
Quelle: Prof. em. Ryugo Hayano

Prof. Hayano, Sie sind Physiker und Ihr Hauptforschungsgebiet ist Antimaterie. Nach dem Fukushima-Unfall sind Sie als einer von Behörden und Nuklearindustrie unabhängiger Wissenschaftler populär geworden. Wie kam es dazu?

Seit 1997 bis 2018 war ich Gruppenleiter eines internationalen Teams, das Antimaterie am CERN in Genf erforscht hat. Dabei hielt ich Vorlesungen an der Universität von Tokio und flog über 20 Jahre lang jeden Monat nach Genf. Am 11. März 2011 war ich wieder in Tokio. Ich habe mich nach dem Erdbeben informiert, ob alle sicher evakuiert worden waren oder nach Hause gingen, weil die öffentlichen Verkehrsmittel noch nicht fuhren. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nichts über die Situation im Kernkraftwerk Fukushima.

Am nächsten Tag hörte ich in den Nachrichten, dass auf dem Gelände des Kernkraftwerks eine erhöhte Cäsium-Konzentration festgestellt worden war. Ich begann, mich mit den verfügbaren Informationen zu beschäftigen und fragte mich, was passiert war und wie die Situation aussah. Zuerst war es aber nur Neugierde.

Ich bin seit 2008 auf Twitter und hatte damals etwa 2500 Follower. Als ich dann begann, die gefundenen Daten zu twittern, stellte ich irgendwann fest, dass ich mehr als 150'000 Follower hatte.

Ich twittere unter meinem richtigen Namen und verheimliche nicht, dass ich in Tokio lebe und Professor an der Universität Tokio bin. Ich erfuhr, dass viele meiner Follower im Grossraum Tokio meine Tweets lasen, weil sie wissen wollten, ob sie aus Tokio fliehen sollten oder nicht. Was als Neugierde begann, wurde plötzlich zu so etwas wie einer Verantwortung.

Ich werde seit vielen Jahren mit Steuergeldern unterstützt, um meine Forschung am CERN zu finanzieren und in dieser Zeit der Krise dachte ich, ich würde mein Bestes tun, um den Steuerzahlern etwas zurückzugeben.

Sie haben sich auf die Bekämpfung der Strahlenangst in Fukushima konzentriert. Wie sah und sieht das konkret aus?

Zunächst habe ich Twitter genutzt, um Messdaten der Luftdosen in verschiedenen Gebieten, interne Expositionsdaten aus der Vergangenheit, Erkenntnisse aus Hiroshima und Nagasaki sowie Erkenntnisse zur Strahlungsmesstechnik zu veröffentlichen.

Ich drückte selten meine eigene Meinung aus, sondern twitterte die genauesten wissenschaftlichen Fakten mit Links zu den Datenquellen, wann immer es möglich war. Ich erstellte auch Diagramme und Karten und fügte sie häufig an meine Tweets an.

Im Herbst 2011 sah ich auf Twitter, dass Eltern in Fukushima über die Strahlenbelastung ihrer Kinder durch das Schulessen besorgt waren. Also begann ich auf eigene Kosten, das Schulessen in Minamisoma auf Cäsiumwerte zu testen und begann, die Ergebnisse zu twittern.

Im Jahr 2012 wurden dann auf meinen Vorschlag hin die Schulspeisungsinspektionen von der Regierung finanziert und es wurde eine riesige Menge an Daten gesammelt, die die Sicherheit des Schulessens bestätigten. Ein erfreulicher Nebeneffekt der Schulspeisungsinspektion war, dass meine Twitter-Follower begannen, Spenden auf mein Konto bei der Universität von Tokio zu schicken. Als ich mich im März 2017 von der Universität Tokio zurückzog, hatte ich etwa 22 Millionen Yen (etwa CHF 188'000) an Spenden erhalten, die meine gesamte Arbeit in Fukushima abdeckten.

Und dann gab es ja noch den BABYSCAN. Wie kam es dazu?

Im Herbst 2011 fand mich eine junge Ärztin in Fukushima auf Twitter und bat mich, ihr bei internen Strahlungstests in Fukushima zu helfen. Zu dieser Zeit kämpften viele Krankenhäuser in Fukushima damit, die interne Strahlenexposition der Bewohner mit Ganzkörperzählern (Whole Body Counters - WBC) zu messen. Ich war kein WBC-Experte, aber ich hatte Experimente am CERN gemacht und kannte mich daher gut mit Strahlungsmessung und Datenverarbeitung aus.

Bis Ende 2012 hatten wir die interne Strahlenexposition von mehr als 30.000 Bewohnern gemessen, von denen 99 % unter der Nachweisgrenze von weniger als 300 Becquerel lagen. Wir veröffentlichten unsere Ergebnisse und kommunizierten über die Medien, dass die interne Belastung der Bewohner von Fukushima sehr gering sei. Unsere Veröffentlichung wurde teilweise heftig angegriffen. Kritiker vermuteten, dass die Kontamination der Menschen in Fukushima nicht so niedrig sein könne und dass wir sie täuschen würden. Wir sammelten mehr Daten und veröffentlichten sie in den Medien.

Ein Problem bei den Fukushima WBC-Messungen war, dass die damals verwendeten Geräte nicht für die Messung von kleinen Kindern geeignet waren. Die Eltern baten uns, ihre Kinder zu messen, aber wir konnten ihnen keine aussagekräftigen Ergebnisse liefern.

Schliesslich beschloss ich im Frühjahr 2013, den BABYSCAN zu entwickeln, einen hochpräzisen WBC-Test speziell für Kinder. Wir stellten den BABYSCAN Ende 2013 fertig und installierten ihn bis zum Sommer 2014 in drei Krankenhäusern rund um das Kernkraftwerk. Bei keinem einzigen Baby wurde eine interne Exposition oberhalb der Nachweisgrenze von 50 Becquerel durch BABYSCAN festgestellt. Der BABYSCAN ist aber auch ein Kommunikationsmittel und nicht nur ein Messinstrument.  Eltern, die sich Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder machen, bringen ihre Kinder zur Messung, bei der Ärzte Fragen beantworten und Beschwerden anhören können. Zehn Jahre sind seit dem Unfall vergangen und ich glaube, dass sich die Rolle des BABYSCAN dem Ende zuneigt.

Sie haben ermittelt, dass die interne Exposition gering war, aber was ist mit der externen Strahlenexposition?

Im Jahr 2014 habe ich ein Projekt mit Gymnasiasten in Fukushima gestartet, um die externe Strahlenbelastung von Oberschülern auf der ganzen Welt zu messen und habe die Ergebnisse im Jahr 2015 in einem Fachmagazin veröffentlicht. Dieses Projekt wurde gemeinsam mit 216 Schülern aus Japan, Polen, Frankreich und Weissrussland sowie Lehrern und Experten aus diesen Ländern umgesetzt. Danach unterschieden sich die durchschnittlichen externen Strahlungsdosen der Schüler der sechs Schulen in der Präfektur Fukushima nicht wesentlich von den externen Strahlungsdosen von Oberschülern in anderen Teilen der Welt. Die höchste durchschnittliche Dosis wurde bei den Gymnasiasten in Bastia in Frankreich beobachtet, dies aufgrund der dortigen natürlichen Strahlung aus Granit.

Wann waren Sie zuletzt in der Region um Fukushima und wie ist die Situation dort - gesellschaftlich und wirtschaftlich?

Covid-19 hat mich im letzten Jahr davon abgehalten, nach Fukushima zu reisen, aber ich bleibe in Kontakt mit Ärzten und Lehrern. Ich kommuniziere auch mit den Bauern, denen ich bei ihrer Rückkehr aus der Evakuierung geholfen habe. Zu den Menschen in den Gebieten, die nur schwer zurückkehren können, habe ich derzeit keinen Kontakt, so dass ich nur durch Nachrichtenberichte einen Einblick in ihre Situation habe.

Die Mehrheit der fast zwei Millionen Menschen, die in der Präfektur Fukushima leben, scheint ihr tägliches Leben wiedergefunden zu haben. Es gibt jedoch weiterhin Probleme, wie zum Beispiel, wann und wie über die Entsorgung des behandelten tritiumhaltigen Wassers entschieden wird. Ausserdem wird angesichts der Vermutung, dass das Schilddrüsen-Screening bei Kindern zu einer Überdiagnose führt, die Frage gestellt, ob das Screening an Schulen fortgesetzt werden soll oder nicht. Des Weiteren geht es darum, wie die Infrastruktur und insbesondere die medizinische Versorgung und die Fürsorge für ältere Menschen in den Städten und Dörfern in den schwer zugänglichen Gebieten aufrechterhalten werden kann. Laut Gesetz soll das kontaminierte Erdreich, das in das Zwischenlager transportiert wurde, bis 2045 ausserhalb der Präfektur Fukushima entsorgt werden, aber die Suche nach einem geeigneten Standort hat noch nicht begonnen. Und schliesslich der ist der lange Weg zur Stilllegung des Reaktors auch noch nicht beendet.

Insgesamt wurden etwa 165'000 Menschen evakuiert oder verliessen freiwillig ihre Häuser und Wohnungen. Was geschah mit den Menschen, die nach den Naturkatastrophen und dem Reaktorunfall das Gebiet verliessen?

Im Jahr 2011 wurden Evakuierungsanordnungen für 1150 Quadratkilometer oder 8,3% der Fläche der Präfektur erlassen. Das Gebiet, das bis heute gesperrt ist, umfasst jetzt 337 Quadratkilometer oder 2,4 % der Fläche der Präfektur.

Der durchschnittliche Prozentsatz der Menschen, die zurückgekehrt sind, um in den evakuierten Gebieten zu leben, beträgt in den Gemeinden weniger als 30 %. Die meisten der Rückkehrer sind ältere Menschen. Diejenigen mit Kindern haben sich möglicherweise entschieden, nicht zurückzukehren, weil ihre Kinder jetzt in den nicht evakuierten Gebieten zur Schule gehen.

In Bezirk Miyakoji, in dem die Evakuierung bereits im April 2014 aufgehoben wurde und bei dem die Gefahr bestand, dass die anhaltende Evakuierung zum Zusammenbruch der Gemeinde führte, erreichte die Rückkehrrate jedoch 90 %.

Obwohl die radioaktive Verseuchung der Region laut Experten sehr gering und die strahlenbedingte Zunahme der Gesundheitsfolgen statistisch nicht nachweisbar ist, wie gehen die Menschen vor Ort mit der Radioaktivität um?

Im vergangenen Jahr haben sich die meisten Menschen wohl mehr Sorgen um Covid-19 als um die Strahlung gemacht. Es gibt jedoch Daten, die darauf hindeuten, dass das Problem noch nicht ganz ausgestanden ist. Seit 2011 erstellt die Präfektur Fukushima jährlich eine Umfrage unter den erwachsenen Bewohnern, ob sie glauben, dass als Folge des Unfalls in Fukushima die Möglichkeit bestehe, dass Ihre Nachkommen von genetischen Strahlenschäden betroffen sein werden.

Der Prozentsatz der Befragten, die antworteten, dass ihre Nachkommen wahrscheinlich betroffen sein werden, lag 2011 bei 60,2%. 2018 sank die Zahl auf 36%, was aber immer noch ein hohes Niveau ist. Eine ähnliche Frage wurde den Einwohnern von Tokio gestellt. Dort lag der Prozentsatz derjenigen, die glauben, dass die Nachkommen der Menschen in Fukushima betroffen sein werden, im Jahr 2017 bei 49,8% und im Jahr 2019 bei 41,4%, also höher als in Fukushima.

Experten gehen davon aus, dass es keinen Grund gibt zu glauben, dass die Strahlenbelastung durch den Fukushima-Unfall derartige Auswirkungen auf die nächste Generation verursachen wird.  Mehr als 70 Jahre Forschung haben das gezeigt. Die jungen Menschen, die in Fukushima geboren und aufgewachsen sind, sollten nicht ungerechtfertigten Vorverurteilungen und Diskriminierungen ausgesetzt werden. Wir müssen mehr in die Bildung investieren, um ein wissenschaftliches Verständnis der Strahlung und ihrer Auswirkungen zu fördern.

Hat die Katastrophe Japan verändert - auch im Umgang mit der Kernenergie?

Die Kernenergie hat das Vertrauen der Mehrheit der japanischen Bevölkerung verloren. Im Jahr 2012 wurde die Nuclear Regulation Authority (NRA) gegründet, die neue Sicherheitsstandards für Kernkraftwerke festlegte. Von den 54 Kernkraftreaktoren, die 2011 existierten, wurde die Stilllegung von 21 beschlossen. Bis Februar 2021 haben neun Reaktoren die Sicherheitsüberprüfung der NRA bestanden, die Zustimmung der lokalen Regierungen erhalten und den kommerziellen Betrieb wieder aufgenommen. Vier von ihnen erzeugen tatsächlich Strom. Sieben weitere haben die Überprüfung durch die NRA bestanden, sind aber noch nicht wieder angelaufen.

In der Zwischenzeit hat die Nutzung von erneuerbaren Energiequellen jedoch keine grossen Fortschritte gemacht: Zwischen 2010 und 2018 stieg der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung von 2,2% auf 9,2%, Wasserkraft nur leicht von 7.3% auf 7,7%. Gleichzeitig stieg der Anteil von Erdgas von 29% auf 38,3% und der von Kohle von 27,8% auf 31,6%.

Die Energieversorgungsunternehmen arbeiten hart daran, die Kernkraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. Doch selbst wenn die Reaktoren die Sicherheitsprüfung der NRA bestehen, ist es für die Energieversorgungsunternehmen nicht einfach, die Zustimmung der lokalen Gemeinden zum Wiederanfahren der Reaktoren zu erhalten. Meine persönliche Meinung ist, dass es aufgrund der alternden Reaktoren in Japan schwierig sein wird, die Kernkraft langfristig aufrechtzuerhalten. Und die Hürden für den Bau neuer Reaktoren sind sehr hoch. Ich glaube, dass die Kernkraft in Japan irgendwann auslaufen wird. Die Ausbildung des Nuklearpersonals an den Universitäten ist im letzten Jahrzehnt schleppend verlaufen und es könnte sogar schwierig werden, Kernkraftwerke zu warten, geschweige denn neue zu bauen.

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