Die Schweizer Kernenergie vor politischen Weichenstellungen
Präsidialansprache von Dr. Bruno Pellaud anlässlich der 43. ordentlichen Generalversammlung der Schweizerischen Vereinigung für Atomenergie vom 27. August 2002 in Bern
Sehr verehrte Damen und Herren, geschätzte Mitglieder und Gäste!
Ich freue mich sehr, Sie zur Generalversammlung 2002 im Kursaal Bern begrüssen zu dürfen. Einen besondern Gruss richte ich vorab an unseren Gastreferenten, Herrn Nationalrat Dr. Pierre Triponez, Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes. Sie werden das Podium im zweiten Teil übernehmen, und wir alle sind gespannt auf Ihre Ausführungen.
Gestatten Sie mir, dass ich Sie alle, unsere Gäste, Einzel- und Kollektivmitglieder gesamthaft begrüsse. Sie kommen aus Wirtschaft und Forschung, aus Verwaltung, Politik und Medien. Ihre Präsenz dokumentiert das Interesse an der Entwicklung der Atomenergie in der Schweiz, die ein weiteres Mal vor entscheidenden Weichenstellungen steht. Am unmittelbarsten gilt dies für das Projekt Sondierstollen Wellenberg, worüber der Kanton Nidwalden am 22. September 2002 abstimmen wird. Wir alle hoffen natürlich, dass das Nidwaldner Volk dem Sondiervorhaben zustimmt und weitere Fortschritte im Hinblick auf die Entsorgung der radioaktiven Abfälle erzielt werden können. In diesem Sinne begrüsse ich unsere in den Entsorgungsprogrammen tätigen Kollegen und danke Ihnen im Namen der Vereinigung für ihren unermüdlichen Einsatz. Dieser Dank richtet sich natürlich auch an die Mitglieder unseres Vorstandes und der Kommissionen sowie der Geschäftsstelle.
Kernenergie international in Bewegung
Schlagzeilen aus dem vergangenen Jahr, meinem ersten als SVA-Präsident, haben oft von einer "Renaissance der Kernenergie" gesprochen. Die Ansichten mehren sich - auf politischem wie auf wirtschaftlichem Gebiet -, dass die Kernenergie nicht nur eine günstige, sondern auch eine saubere und zuverlässige Energieform ist. Durch die Klimaschutz-Diskussion werden die Forderungen verstärkt, der CO2-freien Kernenergie in Zukunft eine wichtigere, zumindest aber gleichbleibende Rolle zuzugestehen wie bisher. Einige Ihnen sicherlich bekannte Beispiele dazu aus dem vergangenen Jahr können dies verdeutlichen:
- In Finnland wurde nach mehrjähriger Vorbereitung, bei der die Vor- und Nachteile gründlich erwogen worden waren, der Bau eines fünften Kernkraftwerksblocks im Mai dieses Jahres in letzter Instanz vom Parlament gutgeheissen. Wesentlich für den Entscheid war, dass mit einem zusätzlichen Kernkraftwerk ein unnötiger Anstieg des Kohlendioxid-Ausstosses vermieden werden kann. Anderseits will das kleine neutrale Land seine Abhängigkeit von Importen fossiler Energien - vor allem aus dem benachbarten Russland - nicht weiter verstärken.
- Amerikas Regierung schreitet in Sachen Neubau von Kernkraftwerken auf zwei Ebenen voran: Die Bush-Administration entschied im Februar, dass bis spätestens im Jahr 2010 in den USA ein neues Kernkraftwerk alle Bewilligungsverfahren durchlaufen hat, gebaut ist und den Betrieb aufnimmt. Das Programm "Nuclear Power 2010" muss als Bestandteil der von US-Präsident George W. Bush angekündigten Massnahmen verstanden werden, die Auslandabhängigkeit in Sachen Energie zu verringern und zudem den USA zu sauberer Luft zu verhelfen. Daneben wurde die Zahl der Mitglieder im "Generation IV International Forum" (GIF), einer vom amerikanischen Energieministerium im Jahr 2000 ergriffenen Initiative für die Entwicklung neuer Kernkraftwerke, erhöht; seit Februar 2002 ist auch die Schweiz Vollmitglied des GIF.
- In Grossbritannien klären die zwei führenden Kernenergie-Unternehmen British Energy und British Nuclear Fuels die Frage, ob sich der fortgeschrittene Reaktortyp AP1000 von Westinghouse für den Ersatz des britischen Kernkraftwerks-Parks eignet.
Weltweit wurden im vergangenen Jahr zudem auch mehrere wichtige Schritte auf dem Gebiet der Entsorgung radioaktiver Abfälle getan:
- In den USA hat Präsident Bush vor kurzem das Gesetz über das nationale Endlager für abgebrannten Kernbrennstoff und hochradioaktiven Abfall im Yucca Mountain im Bundesstaat Nevada in Kraft gesetzt. Damit können nun die nächsten Schritte für den Bau des Endlagers, das dereinst radioaktive Abfälle aus ziviler wie militärischer Nutzung aufnehmen wird, in Angriff genommen werden.
- Auch Finnland ging mit der Bewilligung für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle nun erneut einen grossen Schritt weiter. Die Bauarbeiten für das Endlager am Standort Olkiluoto werden nach 2010 beginnen, die Inbetriebnahme ist für das Jahr 2020 geplant. Zwei Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle im Grundgestein Finnlands sind bereits seit Jahren in Betrieb.
Zusammenfassend kann festgehalten werden: International ist die Kernenergie in Bewegung.
Schweizer Kernenergiepolitik vor grundlegenden Entscheiden
Nach diesem Rundblick auf dem internationalen Parkett nun zurück in die Schweiz. Hier zeichnete sich das vergangene Jahr auf der politischen Ebene vor allem durch die Diskussion über das neue Kernenergiegesetz und die beiden Ausstiegsinitiativen im Ständerat und später im Nationalrat aus. Sie alle wissen, dass die Verhandlungen noch nicht abgeschlossen sind. Die SVA begrüsst natürlich die Klarheit, mit der Bundesrat und Ständerat die beiden Initiativen zur Ablehnung empfehlen. Wir hoffen anderseits, dass der Nationalrat an seiner Haltung festhält und die vom Ständerat beschlossene Beschränkung der Wiederaufarbeitung wieder aufhebt. Die Schweiz braucht kein Gesetz, das die weitere Nutzung der Kernenergie in unserem Land behindert, sondern ein Gesetz, das den weiteren Betrieb der Werke mit den günstigsten technischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter Einhaltung der grösstmöglichen Sicherheit, ermöglicht. Wir brauchen ein gutes Gesetz, keinen Kuhhandel.
Wenn im nächsten Jahr die Abstimmung über die beiden Ausstiegsinitiativen "Strom ohne Atom" und "Moratorium plus" ansteht, brauchen wir Sie alle, die Mitglieder der SVA und alle anderen Bürgerinnen und Bürger, welche die Nutzung der sauberen Kernenergie auch im Kampf gegen den Treibhauseffekt weiterhin für wichtig betrachten: Die SVA fordert Sie dazu auf, 2 x Nein zu stimmen, das heisst gegen radikale Lösungen zum Schaden unseres Landes. Der radikale und sofortige erzwungene Ausstieg ist eine unschweizerische HauRuck-Lösung, die grossen Schaden an unserem Land und unserer Volkswirtschaft anrichten würde. Die frühzeitige Abschaltung von gut funktionierenden Anlagen - welche für mehr als eine Milliarde Franken Strom im Jahr erzeugen - würde einer richtiggehenden Kapitalvernichtung entsprechen, die alle Einwohner dieses Landes zu bezahlen hätten.
Die SVA verwahrt sich gegen die Tendenz des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, neben der Initiative "Strom ohne Atom" die sogenannte "Moratorium plus"-Initiative zwar auch abzulehnen, diese aber trotzdem als Kompromiss ohne einschneidende volkswirtschaftliche Folgen darzustellen. Eigentlich ist der Name "Moratorium plus" missbräuchlich und völlig irreführend, da die Forderungen der neuen Initiative weit über den Bewilligungsstopp für neue Kernkraftwerke des bekannten Moratoriums 1990-2000 hinausgehen. Das abgelaufene Moratorium tangierte die bestehenden Kernkraftwerke nicht. Demgegenüber beschränkt die neue Initiative "Moratorium plus" die Betriebsdauer der bestehenden Kernkraftwerke aus politischen Motiven und verlangt damit - genau wie die Initiative "Strom ohne Atom" - den Ausstieg aus der Kernenergie. Für die politische Auseinandersetzung ist es deshalb wichtig, die Auswirkungen der beiden Ausstiegsinitiativen realistisch einzuschätzen und besonders die Verharmlosung der Initiative mit dem irreführenden Namen "Moratorium plus" offen zu legen. "Moratorium plus" und "Strom ohne Atom" sind beides Ausstiegsinitiativen, die im Interesse der Volkswirtschaft und des Umweltschutzes gleichermassen klar abzulehnen sind.
Wind und Kernenergie
Der massive Aufbau der Stromerzeugung in Windkraftwerken in verschiedenen Ländern ist in den letzten Jahren bemerkenswert vorangeschritten. Als Dritte im Bunde mit Wasserkraft und Kernenergie leistet die Windenergie in Europa einen hoch willkommenen und ausbauträchtigen Beitrag zur CO2-freien Stromerzeugung. Sie ermöglicht eine Verminderung der CO2-Emissionen aus der Elektrizitätsproduktion in Kohle-, Gas- und Ölkraftwerken. Unser Leitsatz lautet daher ganz klar "Wind und Kernenergie". Dagegen ist der in jüngster Zeit verbreitete Vorschlag für den Ersatz der Schweizer Kernkraftwerke durch Strom aus Windfarmen eine offensichtliche Utopie:
- Strom aus Wind ist viel zu teuer, um unsere grossen Mengen wettbewerbsfähigen Atomstroms zu ersetzen. So gab die dänische Regierung vor kurzem den Bau eines grossen Windparks in der Nordsee wegen fehlender Wirtschaftlichkeit auf. In Deutschland kostet eine aus Windenergie produzierte Kilowattstunde gemäss E.ON Energie rund das Drei- bis Vierfache einer Kilowattstunde aus dem bestehenden Kraftwerkspark (ca. 17 Rp./kWh).
- Der Wind weht, wann er will. Die Produktion von Windstrom schwankt ungeplant und viel zu stark, als dass damit die planbare, kontinuierlich anfallende Grundlast-Produktion der schweizerischen Kernkraftwerke ersetzt werden könnte.
Weitere Fragezeichen wie Flächenbedarf, Stromtransport über halbe Kontinente und Ökologie im Allgemeinen entrücken das Thema noch tiefer ins Reich der Utopie. Der Vorschlag, mit Windparks in der Nordsee den Schweizer Atomstrom zu ersetzen, ist aus unserer Sicht dennoch bemerkenswert: Mit der Flucht in die Nordsee haben sich die Initianten von ihrer bisherigen Vorstellung, die Kernkraftwerke liessen sich durch Sparmassnahmen und Schweizer Sonnenkraftwerke ersetzen, stillschweigend verabschiedet!
Kernenergie hält der Wirtschaft den Rücken frei
Im Rahmen einer vernünftigen Energiediskussion dürfen wir jedoch eines nicht tun: Wir dürfen nicht zwei CO2-frei produzierende Energiequellen gegeneinander ausspielen. Stattdessen wollen wir die verantwortungsvollen Kreise unterstützen, die für eine umfassende Energiepolitik der Schweiz plädieren. Eine solche Politik muss alle CO2-freien Energien in unserem Lande in wirtschaftlich sinnvollem Rahmen weiterentwickeln. Die Wasserkraft, die Kernenergie und auch der Windstrom ergänzen sich gegenseitig und können, zusammen mit Wärme aus Solarenergie, zu einem wirtschaftlich und ökologisch optimalen Gesamtenergiemix beitragen.
Mit rund 60% Wasserkraft und 40% Atomstrom geniesst die Schweiz das international fast einmalige Privileg einer praktisch CO2-freien einheimischen Stromproduktion. Hingegen ist die Schweiz für die Versorgung mit nichtelektrischer Energie auf die fossilen Energieträger, hauptsächlich Öl und Gas, angewiesen. Im Rahmen des CO2-Gesetzes und im Hinblick auf die bevorstehende CO2-Abgabe muss die Schweizer Wirtschaft einschliesslich Verkehr in die Reduktion von CO2-Emissionen investieren. Es wäre deshalb nicht nur ein ökologischer Widerspruch, auf den Sockel von 40% CO2-freien Stroms zu verzichten, wie es die beiden Ausstiegsinitiativen verlangen, sondern es würde die finanzielle Belastung durch die CO2-Abgabe massiv in die Höhe treiben und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen schwächen. Die Kernenergie hält der Wirtschaft und dem ganzen Land den Rücken frei für die notwendige Nutzung der fossilen Energien, indem sie den CO2-Ausstoss tief hält und so die CO2-Abgabe dämpft. Es ist offensichtlich: Der Ausstieg wäre volkswirtschaftlich und ökologisch ein Unsinn. Im Einklang mit dem Bundesrat, dem Ständerat und demnächst bestimmt auch mit dem Nationalrat spricht sich die SVA deshalb klar für ein zweifaches Nein zu den Atominitiativen aus.
Quelle
Dr. Bruno Pellaud