Ein Streitgespräch: «Alors, le nucléaire, bon ou mauvais pour l'environnement?»
Ein Streitgespräch unter Umweltschützern, das von der Fédération romande pour l'énergie (FRE) und vom Nuklearforum Schweiz am 19. November 2009 in Lausanne vor zahlreich erschienenem Publikum durchgeführt wurde, machte die diametral entgegengesetzte Bewertung der Kernenergie im grünen Denken deutlich sichtbar.

Die klassische Position vertrat Antonio Hodgers, Grüner Nationalrat aus dem Kanton Genf. Er sei geleitet vom Gedanken der Nachhaltigkeit und wolle den Planeten so verlassen, wie er ihn angetroffen habe, erklärt Hodgers. Gegen die Kernenergie sprächen die nicht garantierte Sicherheit, die explodierenden Urankosten und die sich demnächst erschöpfenden Uranreserven, die hohen Umweltbelastungen der Kernenergie, die ungelöste Entsorgungsfrage sowie die fehlende Versicherungsdeckung im Unglücksfall. Würde diese in die Kosten des Atomstroms eingerechnet, wäre die Kernenergie wirtschaftlich untragbar. Der einzige mögliche Weg sei die Reduktion des Stromverbrauchs durch Effizienzsteigerung. Wenn die Schweiz ihren Strombedarf um einen Drittel reduziere, seien Atomkraftwerke überflüssig. Der Kanton Genf beispielsweise komme seit 15 Jahren ohne Atomstrom aus − eine Aussage, die im Publikum lautstarken Protest auslöste.
«Ein grosser historischer Irrtum»
Bruno Comby, Gründer und Präsident der in Frankreich beheimateten Association des écologistes pour le nucléaire, vertrat den diametral entgegengesetzten Standpunkt. Comby bekannte sich als überzeugter Umweltschützer, der seine Überzeugung auch lebe. Angesichts des Klimaproblems sei es nötig, den Energiekonsum zu halbieren und die Treibhausgasemissionen auf einen Viertel zu reduzieren. Die Kernenergie sei heute die einzige saubere Energiequelle, die in der Lage sei, die Bedürfnisse einer Industriegesellschaft zu decken, da die neuen erneuerbaren Energien zu wenig und nur zeitweise Strom liefern. Prioritär sei heute der Ausstieg aus den fossilen Energien. Die konsequente Ablehnung der Kernenergie durch die Umweltorganisationen bezeichnete Comby als «einen grossen historischer Irrtum».
Vision einer energieautarken Schweiz
Für den Waadtländer Ingenieur und CVP-Nationalrat Jacques Neirynck ist die Energieversorgungssicherheit der Schweiz heute die wichtigste Herausforderung der Schweiz überhaupt, vergleichbar mit der Sicherstellung der Ernährungsbasis. Seine Vision sei die Autarkie oder zumindest die Quasi-Autarkie der Schweiz in der Energieversorgung bis ins Jahr 2050. Dies sei möglich durch die Reduktion der Energieverschwendung und das Ausnutzen der erneuerbaren Energien, wie eine Analyse der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW) aus dem Jahr 2001 gezeigt habe. Die fossilen Brennstoffe und die Kernenergie sind für Neirynck nur eine Übergangslösung. Er bezweifelte aber, dass Bundesrat, Parlament und Bevölkerung bereit sind, die dafür notwendigen Massnahmen einzuleiten.
In der anschliessenden Debatte bemängelten Sprecher aus dem Publikum die Faktensicherheit vom Hodgers, der im Gegenzug argumentierte, die Kernenergie habe auch 50 Jahre nach ihren Anfängen Mühe, sich durchzusetzen und sei ohnehin bei weitem nicht in der Lage, die fossilen Energien weltweit abzulösen. Comby, angesprochen auf die Konkurrenzsituation zwischen den neuen erneuerbaren Energien und die Kernenergie, zeigte sich überzeugt, dass die Menschheit auf eine gravierende Energiekrise zusteuere. Um sie abzuwenden seien alle drei nötig: die Kernenergie, die erneuerbaren Energien und die Verbesserung der Energieeffizienz.
Neue FRE-Präsidentin
An der Generalversammlung der FRE, die gleichentags in Lausanne stattfand, wurde die Walliser Juristin Chantal Balet zur neuen Präsidentin gewählt. Sie löst Alt-Nationalrat Serge Beck ab. Balet ist vormalige Westschweizer Direktorin von economiesuisse und Beraterin von grossen Unternehmen im Energiebereich.
In den Vorstand der FRE gewählt wurden zudem Pierre Weiss, Vizepräsident der FDP/Liberalen Schweiz, Gastrovaud-Präsident Frédéric Haenni, der Wirtschaftsfachmann und Walliser CVP-Politiker Paul-André Roux, der Wissenschafter Jacques-André Hertig sowie der Ingenieur Christophe Günter aus dem Kanton Jura.
Quelle
M.S.