Ein Vergleich der Kernenergiedebatten in Deutschland und Frankreich – grösser könnte der Unterschied kaum sein.

In Deutschland ist die Diskussion über eine weitere Nutzung der Kernenergie wieder voll im Gang. Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel letzten Monat den Atomausstieg als «absolut falsch» bezeichnet hatte, haben sich weitere Politiker zu Wort gemeldet (siehe Rubrik «Politik»). Auch die Einstellung der deutschen Bevölkerung gegenüber der Kernenergie hat sich laut einem ZDF-Politbarometer (siehe Rubrik «Stellungnahmen/Meinungsumfragen») deutlich geändert. Dem gegenüber ist Frankreich mit 58 in Betrieb stehenden Kernkraftwerken, einem im Bau und einem weiteren in Planung sowie einem Kernenergieanteil von knapp 80% weltweit Spitzenreiter in der Nutzung der Kernenergie. Francis Sorin, Leiter des Pôle information der Société française d’énergie nucléaire (SFEN), erklärt in der Online-Version des deutschen Magazins «Der Stern», woher Frankreichs Offenheit gegenüber der Kernenergie rührt.

14. Aug. 2008
Francis Sorin ist Leiter des Pôle information der Société française d'énergie nucléaire (SFEN). Ausserdem ist Sorin Chefredaktor der Zeitschrift «Revue Générale Nucléaire».
Francis Sorin ist Leiter des Pôle information der Société française d'énergie nucléaire (SFEN). Ausserdem ist Sorin Chefredaktor der Zeitschrift «Revue Générale Nucléaire».

Francis Sorin: Weshalb Frankreich die Kernenergie liebt

Die Ankündigung des französischen Präsidenten, Nicolas Sarkozy, Anfang Juli 2008, dass ein neuer Atomreaktor gebaut und 2017 in Betrieb genommen werden solle, hat bei Frankreichs Bürgern nicht für Aufruhr gesorgt. Denn diese haben schon vor langer Zeit verstanden, dass Atomenergie - in der Gegenwart wie in der Zukunft - der Hauptpfeiler der französischen Stromversorgung ist. 58 Atomkraftwerke gibt es derzeit in Frankreich. Sie produzieren 80% von Frankreichs Stromaufkommen. Zwei neue Kraftwerke werden im kommenden Jahrzehnt in Betrieb gehen. Ihr Bau ist ein Schritt hin zur Modernisierung der französischen Atomtechnik. Sie werden das Energieangebot an die Nachfrage anpassen.

Die Entscheidung Frankreichs für die Atomenergie liegt in einer simplen geographischen Gegebenheit begründet: Im Gegensatz zu vielen seiner Nachbarn - wie etwa Deutschland - verfügt Frankreich nicht über bedeutsame Bodenschätze zur Energieversorgung. Um diesen Nachteil auszugleichen, hat unser Land nach dem Ölpreisschock von 1973 beschlossen, für die Stromerzeugung auf die Kernenergie zu setzen.

Dank des Urans, wovon sich Frankreich in verschiedenen Regionen der Welt Ressourcen gesichert hat, und ergänzend der Wasserkraft ist es dem Land möglich, eigenständig die nötigen Strommengen zu produzieren, ohne von anderen abhängig zu sein. In einer Welt, in der fossile Brennstoffe deutlich knapper und teurer werden, verschafft die Nuklearenergie dem Land einen entscheidenden Vorteil: Sie schützt es vor den Preisschocks und Krisen der internationalen Energiemärkte und garantiert Unabhängigkeit bei der so lebenswichtigen Stromversorgung.

Neben diesem entscheidenden strategischen Vorteil hat sich die Nuklearenergie als «gutes Geschäft» für Frankreich erwiesen. Da die Selbstkosten der französischen Stromproduktion im internationalen Vergleich so niedrig sind, kommen die Franzosen in den Genuss einer der tiefsten Strompreise Europas. Dieser Preis enthält bereits die zukünftigen Kosten der Stilllegung von Atomkraftwerken sowie die Abfallentsorgung.

Überdies hat das Land umfassende industrielle Kapazitäten im Bereich der Atomenergie aufgebaut, deren Fachkompetenz international anerkannt ist. Jedes Jahr exportiert Frankreich Atomtechnik, -dienstleistungen und -strom im Wert von EUR 6 Mrd. Diese Exporte sichern Tausende Arbeitsplätze und stellen einen der wichtigsten Aktivposten der Handelsbilanz des Landes dar.

Kernenergie hat ökologische Vorteile
Darüber hinaus hat sich über die Jahre hinweg gezeigt, dass Atomenergie die Umwelt vor jeglicher Verschmutzung schützt - sei sie radioaktiv oder chemisch. So konnte der Ausstoss an Schwefeldioxid und Stickoxid in Frankreich um 70% reduziert werden, denn fossile Energie wurde durch Kernenergie ersetzt. Und einen weiteren grossen ökologischen Vorteil hat die Atomenergie: Sie setzt praktisch kein CO2 frei - das ja hauptsächlich für den Treibhauseffekt verantwortlich ist. Als Alternative zur fossilen Energie verhindert die französische Kernenergie jährlich einen Ausstoss von insgesamt 380 Mio. t CO2. Das ist ein nicht zu vernachlässigender Beitrag zum Schutze des Klimas.

Sicherlich ist auch die Kernenergie risikobehaftet. Doch die Frage dabei ist: Sind dies «akzeptable» Risiken? Was die Atomabfälle mit langer Halbwertszeit angeht, deren Menge sehr klein ist, besteht international Einigkeit: Lagerstätten unter der Erde stellen eine stabile Lösung dar, denn so wird das radioaktive Material von der Biosphäre abgeschirmt, bis es nur noch geringfügig Strahlung abgibt. Das französische Lagerungssystem garantiert so, dass kommende Generationen keiner inakzeptablen Strahlung ausgesetzt werden.

«Ein Risiko besteht immer»
Auch das Unfallrisiko ist offensichtlich hinreichend unter Kontrolle. Gewiss kommt es in Kernkraftwerken zu Zwischenfällen - genauso wie in jeder anderen industriellen Anlage auch. Ein aktuelles Beispiel ist der Zwischenfall vom 9. Juni am Standort Tricastin bei Avignon in Südfrankreich. Dort ist uranhaltiges Wasser in die Umwelt ausgetreten. Dadurch wurden zwei Wasserläufe leicht verschmutzt. Die für Strahlenschutz zuständige französische Behörde für nukleare Sicherheit hat die ausgetretene Strahlung jedoch als «zu vernachlässigend» bezeichnet.

Die Redensart «Ein Risiko besteht immer» gilt natürlich auch für die Atomenergie. Und auch wenn die Risiken dieser Energieform nicht heruntergespielt werden sollten, kann man ihr nicht absprechen, dass ihre Sicherheit über alles gesehen sehr hoch ist. Selbst die Katastrophe von Tschernobyl, die eng mit den technologischen Bedingungen in der Sowjetunion zusammenhing, stellt die 50-jährige Erfahrung der weltweiten Atomenergie-Nutzung nicht infrage: Die Bilanz zeigt, dass Atomkraft die Energie ist, die am wenigsten die Sicherheit und Gesundheit der Menschen beeinträchtigt.

In Frankreich etwa hat die Atomenergie kein einziges Todesopfer gefordert. Eine genauso hervorragende Bilanz lässt sich in Deutschland ziehen. Gewiss ist ein Unfall immer möglich. Doch die Wahrscheinlichkeit dafür ist winzig, und alles weist darauf hin, dass die Folgen begrenzt wären - sowohl für die Menschen als auch die Umwelt. Die Ängste gewisser deutschen Umweltaktivisten, dass französische Atomkraftwerke auch jenseits der Grenzen, zum Beispiel in deutschen Bundesländern, Mensch und Natur bedrohen könnten, sind in keiner Weise fundiert.

Internationale Zusammenarbeit wünschenswert
Angesichts dieser Argumente kann man die Verwunderung, ja das Bedauern vieler französischer Verantwortungsträger verstehen, dass sich Deutschland für den Atomausstieg entschieden hat. Das Land ist unter den Spitzenreitern in Sachen Kerntechnik, sein Nuklearpark läuft wie ein Uhrwerk, jedes Jahr werden so Zehntausende Mio. t CO2-Ausstoss vermieden… und nun will Deutschland angesichts der Klimaerwärmung freiwillig auf eine solche Technologie verzichten!

Das Bedauern ist auf dieser Seite des Rheins umso grösser, als Frankreich und Deutschland doch gemeinsam mit all ihrem Fachwissen den Druckwasserreaktor der dritten Generation, den EPR, entwickelt haben - den Experten zufolge der höchstentwickelte Reaktor auf dem Weltmarkt. Je nachdem, wie sich die Situation in Deutschland weiter entwickelt, scheinen im Interesse aller andere Formen der Zusammenarbeit möglich zu sein. Denn die grösste Herausforderung ist es, die weltweite Energieproduktion CO2-frei zu machen. Alternative Energiequellen allein reichen bei weitem nicht aus - Kernenergie ist dafür unabdingbar. In diesem Zusammenhang ist offensichtlich, dass eine längjährige und verstärkte Zusammenarbeit weltweit von Nutzen wäre - um die Atomenergie noch sicherer, missbrauchsfrei und nachhaltiger zu machen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Francis Sorin. Eine deutsche Übersetzung ist am 14. Juli 2008 im deutschen Magazin «Der Stern» online erschienen. Die Einleitung und die Zwischentitel stammen von der Bulletin-Redaktion.

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