EUR 39.38, EUR 39.34, EUR 39.90. Jede Sekunde wird ihr Wert neu berechnet – auf den Cent genau. Die Rede ist von der Aktie der weltgrössten Kernkraftwerkbetreiberin EDF. Sobald Kaufaufträge mit Verkaufsaufträgen übereinstimmen, kommen Transaktionen und somit neue Preise zu Stande. Eine Kursstellung von Angebot und Nachfrage allein garantiert noch keinen Abschluss. Die Zentralcomputer der Börsen sind mit so genannten Matching-Regeln gefüttert. Ein Prinzip heisst Zeitpriorität oder kurz: first come first served. Das heisst, das erstbeste Verkaufsangebot wird mit den Kaufsangeboten abgeglichen. Diese Regeln gelten zwar für alle Aktien – im Falle der EDF handelt es sich jedoch um eine Kernkraftwerksbetreiberin, die zu den höchstbewerteten Stromkonzernen der Welt gehört. Über mehrere Monate pendelte der Kurs um EUR 40. Das entspricht einer Marktkapitalisierung von EUR 71,3 Mrd. oder umgerechnet CHF 105 Mrd.
Die EDF-Aktie hat innert Jahresfrist über 25% zugelegt. Im März 2009 war die Aktie unter die Marke von EUR 30 gefallen. Allerdings ist das Wertpapier gegenwärtig noch weit vom Rekordhoch im Dezember 2007 entfernt, als die Aktie bei EUR 83 notierte. Im Vergleich zum Januar 2006 liegt die Aktie aber immer noch rund 40% höher. Demgegenüber verlor der europäische Bluechip-Index Euro STOXX 50 in der gleichen Zeitspanne rund ein Viertel. Auch der traditionsreiche Dow Jones Industrial schneidet erheblich schlechter ab (-10%).
Solaraktien massiv eingebrochen
Teilweise noch eklatanter sind die Unterschiede zu einigen Solaraktien. So hat Solarworld innert vier Jahren 20% verloren, die Photovoltaik-Aktie Conergy liegt sogar über 90% im Minus. Nicht allen ergeht es derart miserabel. So liegt die Aktie des Windkraftanlageherstellers Nordex nach einer wilden Berg- und Talfahrt immerhin noch 80% über dem Stand von Anfang 2006. Doch das Gesamtbild bleibt düster: Q-Cells, der weltgrösste Hersteller von Solarzellen, sinkt tiefer und tiefer. Wurde Ende 2007 noch fast EUR 100 für die Aktie geboten, sind es heute weniger als EUR 10.
Kein Wunder, dass viele Nachhaltigkeitsfonds Schlagseite erhalten. «Bei den nachhaltigen Anlagen droht der nächste Kollaps», prophezeite unlängst Ökonomieprofessor Thorsten Hens in einem Interview. Hens: «Wenn ich sehe, wie intensiv diese Produkte beworben werden, erscheint mir dies als Alarmsignal. Da ist viel Geld drin. Das geht bis zum universitären Betrieb: Wir werden gezwungen, Vorlesungen über nachhaltiges Investieren ins Programm aufzunehmen.» Hens ist seit 2007 Leiter des Instituts für Schweizerisches Bankenwesen (ISB) an der Universität Zürich. Sein Forschungsschwerpunkt ist Behavioural Finance, eine Sparte, die sich mit der Psychologie der Anleger beschäftigt.
Über 160’000 Mitarbeitende
Höchste Zeit also, sich näher mit der EDF zu befassen. Die EDF wurde 1946 gegründet; seit November 2004 ist sie eine Aktiengesellschaft. 160’913 Mitarbeitende erwirtschafteten im vergangenen Jahr einen Umsatz von EUR 66,34 Mrd. (Vorjahr: EUR 63,95 Mrd.). Der Gewinn vor Zinsen und Steuern verbesserte sich überproportional um 27,8% auf EUR 10,11 Mrd.. Das Unternehmen beschäftigt rund 20’000 wissenschaftliche Mitarbeiter – darunter sind 30% Frauen.
Der Stromriese betreibt 58 Kernkraftwerke an 19 Standorten in Frankreich. «95% der von der EDF in Frankreich betriebenen Kraftwerke sind CO2-frei – dank Kern- und Wasserkraft», schreibt das Unternehmen. Der französische Marktführer produziert insgesamt über ein Fünftel der in der Europäischen Union erzeugten elektrischen Energie.
«Leading the global nuclear revival» – die EDF getraut sich, Kernenergie auf die Fahne zu schreiben auch auf dem Internetportal. Bei der Entwicklung des EPR, eines Reaktortyps der neuesten Kernkraftwerksgeneration, waren die Franzosen führend. Ein solcher European Pressurized Reactor steht heute in Flamanville (Normandie) im Bau. Er wird gemäss Aussagen von EDF-Chef Henri Proglio 2012 ans Netz gehen. Ein weiterer EPR ist in Penly (Seine-Maritime) geplant.
Konsequent auf Karte Kernkraft
Die Franzosen haben mit dem EPR eine erfolgreiche internationale Expansion gestartet. Ihr Ziel: Mit Know-how und Investitionen in diesem Jahrzehnt in rund zehn EPR-Projekte zu investieren. Nach dem Kauf der British Energy, die acht Kernkraftwerke betreibt, ist der Weg vorgespurt, in Grossbritannien vier EPR zu bauen. In Italien will sich die EDF ebenfalls an vier geplanten EPR-Projekten beteiligen; im August 2009 hatte die EDF mit dem italienischen Energiekonzern ENEL ein 50/50 Joint Venture gegründet, an welchem beide Konzerne zu je 50% beteiligt sind. In Italien steht der Zeitplan noch nicht fest.
In den USA – Barack Obama ist ein klarer Kernenergiebefürworter – sind schliesslich vier EPR-Reaktoren geplant; zwei davon sollten noch vor 2020 ans Netz gehen. Die EDF ist dabei eine Partnerschaft mit Constellation Energy eingegangen. Zudem haben die EDF und die China Guangdong National Power Corporation (CGNPC) eine langjährige Partnerschaft beschlossen. Bereits 2008 wurde die Taishan Nuclear Power Joint Venture Company (TNPC) gegründet, die zwei EPR-Reaktoren bauen und betreiben will.
Im Unternehmensfilm «Leading the energy change» machen die Franzosen dem Zuschauer deutlich: Bis 2030 wird die globale Stromnachfrage um 45% steigen. EDF stosse drei Mal weniger CO2 per kWh aus als andere grosse Elektrizitätsunternehmen. «EDF’s vision: a world of competitive, low-carbon energy.» Insgesamt will ihr Chef Henri Proglio bis 2020 rund EUR 15 Mrd. in Nuklearprojekte investieren, der grösste Teil dürfte in Grossbritannien investiert werden.
Die EDF ist zu 25% an der Alpiq (ehemals Atel Aare Tessin AG) und zu 4% an der EnBW beteiligt. Grösster Aktionär der EDF ist der französische Staat. Sein Anteil liegt bei 85%. Dieser hohe Anteil verleiht der Aktie einerseits Stabilität; andererseits wird dieser dominante Einfluss nicht von allen Minderheitsaktionären gern gesehen. Kurzfristig leidet die Aktie auch darunter, dass der Spielraum für Preiserhöhungen aufgrund der noch fragilen Wirtschaftsentwicklung klein ist. Entsprechend sind die Margen moderat; das gilt allerdings auch für die übrige europäische Strom-Konkurrenz. Das Kurs-/Gewinnverhältnis von 17 (für Gewinnschätzung 2010) deutet nicht auf eine krasse Unterbewertung hin. Allerdings erwarten die Elektrizitätskonzerne in den nächsten drei Jahren wieder deutlich steigende Stromtarife. Das dürfte den Aktien wieder Schub verleihen.
Analysten sind des Lobes voll
Die Analysten geben dem französischen Stromriesen überwiegend gute Noten: So stuft Goldman Sachs die EDF als «Buy» ein; mit einem Kursziel von EUR 75. Das Wirtschaftswachstum werde mittelfristig zu höheren Strompreisen führen, so die Analystin Deborah Wilkens. Auch Morgan Stanley empfiehlt die Aktie zum Kauf (Kursziel: EUR 50). Ähnlich positiv tönt es von der Deutschen Bank, der Société Générale (Kursziel: EUR 60) und der Crédit Suisse. Nach den guten Zahlen für das Gesamtjahr 2009 würden nun die Prognosen angehoben, schrieb die CS-Analystin Elisenne Verdoja. Der Konzern sollte stark von der kommenden Liberalisierung des französischen Strommarktes profitieren.
Quelle
Hans Peter Arnold