Energiehunger der Emerging Markets – Weshalb die Nachfrage nach Strom weiter steigt

Der globale Energiebedarf wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erheblich steigen. Darüber sind sich die meisten Analysten einig. Gestritten wird einzig über das Ausmass der Wachstumsraten. Die Dynamik der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) verdeutlicht, mit welchen Grössenordnungen zu rechnen ist.

15. Okt. 2009

Die Zukunft vorauszusagen ist bekanntlich kein einfaches Geschäft. Dennoch: verantwortungsbewusstes Handeln ruft nach einer vorausschauenden Planung, einschliesslich der Szenariotechnik. Je nach Prämissen unterscheiden sich die extrapolierten Trends. Angebot und Preis erklären die Nachfrage nicht hinreichend. Regulierungen auf der politischen Ebene beeinflussen den Trend ebenso wie der technologische Fortschritt.

Trotz des nach oben gerichteten Preistrends steigt in den hochindustrialisierten Ländern die Nachfrage nach Energie - und Strom im Besonderen. Die Bestrebungen hin zu Energieeffizienz konnten die zusätzliche Nachfrage offensichtlich nicht kompensieren. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten sei keine Änderung zu erwarten, lauten diverse Projektionen der Branche für den Schweizer Markt (VSE 2006). Das Bundesamt für Energie (BFE) präsentierte Prognosen, in welchen nur das eher unwahrscheinliche «Best-Case-Szenario» ab Mitte des kommenden Jahrzehnts eine sinkende Elektrizitätsnachfrage skizziert.

Gemäss Eduard Kiener, ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Energie, wird der Stromverbrauch aller Aussicht nach künftig zunehmen*. Für Kiener ist zudem klar: «Die Energiezukunft ist elektrisch. Die Forderung nach Energieeffizienz, der Erfolge der Wärmepumpe am Wärmemarkt, neue Stromanwendungen in Wirtschaft, Haushalten und Verkehr – all dies führt dazu, dass die Bedeutung des Stroms und sein Anteil an der Deckung der Energiebedürfnisse weiter zunimmt.» Zwar reduziere der technische Fortschritt den spezifischen Verbrauch, zusätzliche Stromanwendungen würden jedoch den Spareffekt übertreffen.

Das grosse Bild

Allerdings – für die globale Bedarfsanalyse sind die Szenarien der hochentwickelten Länder schier belanglos. Für den Energiehunger in den nächsten Jahrzehnten sind nämlich die Schwellenländer hauptverantwortlich – allen voran die grossen BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China. Das starke Bevölkerungswachstum und die Steigerung des Lebensstandards sind die entscheidenden Parameter. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von China mit einer Bevölkerung von 1,33 Mrd. Menschen wächst seit 15 Jahren jährlich mehr oder weniger zweistellig (nach Abzug der Inflation). Selbst in diesem Jahr dürfte die chinesische Volkswirtschaft um 8% wachsen, während die meisten Industriestaaten schrumpfen. In der nächsten Dekade ist in China keine Trendumkehr zu erwarten.

China ist auf dem Weg, den wirtschaftlichen Rückstand zur westlichen Welt in Siebenmeilenstiefeln aufzuholen. Die Entwicklung ist vorgezeichnet: Vor 50 Jahren betrug der Anteil von China am Welt-BIP 2%; heute sind es 7%. Im Jahr 2020 wird die Wirtschaftsleistung von China nur noch ein Viertel geringer sein als jene der USA (derzeit 28-%-Anteil am Welt-BIP).

Wie rasant das Wachstum in China verläuft, veranschaulicht die Automobilproduktion: Im Jahr 2000 wurden 2,07 Mio. Autos gebaut; 2007 waren es bereits 8,88 Mio. Die Regierung in Peking rechnet damit, dass bis Jahresende zwölf Millionen Fahrzeuge verkauft werden (+28% gegenüber Vorjahr). Zum Vergleich: In den USA dürften im laufenden Jahr schätzungsweise zehn Millionen Personenwagen verkauft werden. Das Potenzial ist in mehrerer Hinsicht riesig: Schliesslich beträgt heute das chinesische BIP pro Kopf im Schnitt lediglich 3315 USD pro Jahr. In China gibt es bisher 34 Fahrzeuge pro 1000 Einwohner; in Europa ist die Fahrzeugdichte mindestens zehn Mal höher. Und der Umweltverschmutzung wird zunehmend Rechnung getragen: Ab 2010 will der chinesische Auto- und Handybatterien-Hersteller BYD («Build your dreams») die ersten Vollelektrofahrzeuge mit 400 Kilometern Reichweite auf den Markt bringen.

Eine ähnliche Dynamik weisen die anderen grossen Emerging Markets Indien, Brasilien und Russland auf. Wobei Russland kurzfristig von der Weltwirtschaftskrise heftiger getroffen wird.

Die Erdbevölkerung wächst

Mehr Menschen benötigen mehr Strom, so lautet die simple These. Doch, wie sieht die langfristige Bevölkerungsentwicklung aus? «Das Chartmuster ist unbestritten. Die Zahl der Erdbewohner wächst», erklärt Carl Haub, Analyst vom renommierten Population Reference Bureau (RPB) in Washington. «Wir wissen auch, dass das künftige Weltbevölkerungswachstum fast ausschliesslich auf den ärmeren Ländern basiert», führt Haub an der Medienkonferenz aus. Das Population Reference Bureau rechnet für 2050 mit 9,4 Mrd. Bewohnern. Heute leben 6,7 Mrd. Menschen auf diesem Planeten. Jeden Tag werden es 227’000 Menschen mehr, jedes Jahr 82 Mio. Menschen. Die Population Division der Vereinten Nationen rechnet im mittleren Szenario bis ins Jahr 2050 mit 9,1 Mrd. Menschen. Die Varianz ist beachtlich: Das Hoch-Szenario geht von 10,5 Mrd., das Tief-Szenario von 8,0 Mrd. Menschen aus.

Noch konkreter: In ihrer mittleren Variante geht die UNO davon aus, dass die durchschnittliche Kinderzahl von heute 2,46 Kindern pro Frau weltweit bis zum Jahr 2050 auf 2 Kinder sinken wird. Damit würde sogar das so genannte Ersatzniveau von 2,02 Kinder unterschritten. Die tiefe Variante beruht auf einer Kinderzahl von 1,54, die hohe Variante auf einer Kinderzahl von 2,51.

Trotz der bis anhin propagierten Ein-Kind-Politik in China, steigt die Zahl der Einwohner im Reich der Mitte weiter - wenn auch gebremst. Aufgrund der mittleren Variante der UNO wächst die Einwohnerzahl zwischen 2010 bis 2050 in China von 1,35 auf 1,42 Mrd.; in Indien von 1,21 auf 1,61; in Brasilien von 195 auf 219 Mio. Einzig in Russland ist mit einer sinkenden Tendenz zu rechnen – nämlich von 140 auf 116 Mio. Übrigens: Gemäss der UNO-Berechnungen sollte die Zahl der Einwohner in der gleichen Periode in der Schweiz um rund zehn Prozent auf 8,5 Mio. erhöhen, jene von Deutschland um etwas mehr als zehn Prozent auf 70,5 Mio. verringern.

Die Konsequenzen

Bis zum Jahr 2050 sollte sich laut der Internationalen Energieagentur (IEA) der globale Energiebedarf verdoppeln; die Nachfrage nach Elektrizität klettert sogar um rund 150%. Neue Prognosen sind am 10. November zu erwarten. Dann wird die IEA den World Energy Outlook 2009 veröffentlichen. Die langfristigen Aussichten dürften sich jedoch kaum ändern.

Auch andere Quellen gehen von einem starken Wachstum aus. Royal Dutch Shell rechnet mit einer Verdoppelung des Energiebedarfs bis ins Jahr 2060. Angesichts dieses Trends und des Ziels, die Klimaerwärmung zu stoppen, müsse der CO2-Ausstoss pro Rohöläquivalent um den Faktor 4 reduziert werden, meint Stan Gordelier, Head Nuclear Development Division von der OECD Nuclear Energy Agency**. Gordelier weiter: «Kernenergie kann einen signifikanten Beitrag dazu liefern.»


Derzeit konsumieren die 30 OECD-Staaten gut die Hälfte des jährlichen globalen Primärenergie-Verbrauchs. Während in Afrika, weiten Teilen Süd- und Mittelamerikas und den meisten Staaten Asiens der Primärenergie-Verbrauch pro Kopf unter 1,5 t (Rohöläquivalent) pro Jahr liegt, verbrauchen die EU-Staaten zwischen 3,0 und 4,5 t Primärenergie. Die USA, Saudi Arabien, Norwegen und Singapur sind mit einem Primärenergie-Verbrauch von über 6 t pro Kopf Spitzenreiter. Aus diesen Relationen lässt sich erahnen, welche Folgen auf dem Energiemarkt zu erwarten sind, wenn sich die Lebensgewohnheiten der Entwicklungsländer jenen der entwickelten Länder angleichen.

Diese Trends erklären, weshalb insbesondere in den BRIC-Staaten enorme Anstrengungen unternommen werden, die Produktion der Kernenergie voranzutreiben. Folgerichtig will China den Anteil der Kernenergie an der Stromproduktion von aktuell 2% innert den nächsten zehn Jahren auf bis 6% ausweiten. Dabei achtet die Regierung in Peking bereits heute auf einen Strom-Mix, in welchem erneuerbare Energieträger ebenfalls Bestandteil sind.

Quelle

Hans Peter Arnold, Wirtschaftspublizist

Bleiben Sie auf dem Laufenden

Abonnieren Sie unseren Newsletter

Zur Newsletter-Anmeldung

Profitieren Sie als Mitglied

Werden Sie Mitglied im grössten nuklearen Netzwerk der Schweiz!

Vorteile einer Mitgliedschaft