Ernüchterung über Atomausstieg
Ein Jahr nach der überstürzten Ausstiegsankündigung des Bundesrats bleibt die schweizerische Energiepolitik ohne feste Konturen. Widersprüche mit der Klimapolitik und Interessenkonflikte mit dem Schutz von Natur und Landschaft werden sichtbar. An der Jahresversammlung 2012 in Bern zog das Nuklearforum Schweiz eine erste Zwischenbilanz. Gäste und Referenten waren sich in ihrer skeptischen Haltung zur Energiewende einig. Urs Näf von der economiesuisse zeigte die wirtschaftlichen Folgen der neuen Energiepolitik auf und forderte realistische Szenarien. Der Psychologe Michael Siegrist belegte, dass es bei der Wahrnehmung der Kernenergie einen erstaunlich geringen Fukushima-Effekt gibt, und Ralf Güldner, Präsident des Deutschen Atomforums, verdeutlichte anhand erster praktischer Erfahrungen die Schwierigkeiten des deutschen Atomausstiegs.

Die Jahresversammlung 2012 des Nuklearforums fand im Hotel Bellevue Palace in Bern statt. Das Thema «Strom ohne Atom: Wie geht es der ‹Energiewende›?» hätte aktueller kaum sein können. Einen knappen Monat vor der Versammlung hatte Bundesrätin Leuthard vor den Medien die ersten Massnahmen der Energiestrategie 2050 skizziert und damit in ihren eigenen Worten «die Diskussion eröffnet». Tatsächlich fand fast jede der bekannt gegebenen Massnahmen Widerstand und es entbrannte eine hitzige Diskussion.
Interessenkonflikte und Widersprüche
«Wir sind ernüchtert», kommentierte denn auch Nationalrätin Corina Eichenberger, Präsidentin des Nuklearforums Schweiz, das erste bundesrätliche Massnahmenpaket in ihrer Begrüssungsansprache. «Wir brauchen Zahlen und Fakten. Das Prinzip Hoffnung taugt schlecht als Leitplanke für unsere Strompolitik.» Die ersten, wenn auch noch spärlichen Fakten zur Energiestrategie 2050 würden laut Eichenberger Interessenkonflikte und Widersprüche nur noch deutlicher sichtbar machen: «Neuerdings sind auch die Umweltverbände und die Cleantech-Branche von den Plänen des Bundesrats enttäuscht». Der Blick ins Ausland zeige, dass es in den meisten Ländern mit Kernenergie kaum Anzeichen für einen Verzicht gebe. «Auch wir im Nuklearforum Schweiz sind von den Stärken der Kernenergie überzeugt», machte Eichenberger deutlich. «Wir halten den Verzicht auf die Kernenergie für den falschen Weg. Günstige Energiepreise und hohe Versorgungssicherheit waren bisher einer der Standortvorteile für Gewerbe und Industrie in der Schweiz.»
Beschränkte Effizienzpotenziale
Letztere wurden an der Jahresversammlung von Urs Näf vertreten, dem stellvertretenden Leiter des Bereichs Infrastruktur, Energie und Umwelt der economiesuisse. Für den Wirtschaftsdachverband leitet die absehbare Verschlechterung der Versorgungslage und die Aussicht auf massiv steigende Strompriese eine bedenkliche Entwicklung ein. Näf wies nachdrücklich auf die Korrelation zwischen Stromverbrauch und Bruttoinlandprodukt hin. Beide seien bis anhin jeweils starr verknüpft gewesen und parallel gewachsen. Die Energiestrategie 2050 würde eine Entkoppelung bedingen, was die economiesuisse für sehr unwahrscheinlich halte. Vor dieser und weiteren Selbsttäuschungen warnte Näf in seinem Referat. So gehe das Bundesamt für Energie bei der Energiewende davon aus, dass Ziele und Instrumente international harmonisiert würden und die Schweiz keinen energiepolitischen Alleingang mache. Gleichzeitig würden für das Vorhaben sehr hohe Effizienzpotenziale und technische Durchbrüche in verschiedenen Bereichen vorausgesetzt. Näf zeigte sich skeptisch: «Unsere Studien zeigen, dass die Effizienzpotenziale im Industrie- und Dienstleistungsbereich wesentlich tiefer sind, als die neue Energiepolitik annimmt.» Auch die Reduktionsziele beim Verbrauch von Energie im Allgemeinen und Strom im Speziellen sowie das Ausbaupotenzial bei den erneuerbaren Energien erachtet die economiesuisse als höchst ambitiös. Insbesondere, dass die Industrie bis ins Jahr 2050 fast 20 TWh einsparen soll, mache dem Verband Sorgen. Die Energie-Agentur der Wirtschaft rechne «im Idealfall» mit einem Sparpotenzial von rund 7 TWh. Zudem sei inzwischen klar, dass der Schweizer Strommix nach dem Atomausstieg wesentlich mehr Erdgas und Importe beinhalten werde.

Forderung nach realistischen Szenarien
Für ein Gelingen der Energiewende bräuchte es laut Näf neben den erwähnten rigorosen Energiesparmassnahmen und Kapazitätssteigerungen unter Umständen mehr als CHF 100 Mrd. für den Umbau der Netze und der Strominfrastruktur. Die anvisierten Lenkungsabgaben würden ohnehin dafür sorgen, dass bis 2020 alle Energieformen mindestens doppelt so teuer wären wie heute. Zudem sieht Näf wegen der zunehmenden Auslandabhängigkeit, welche die neue Energiepolitik mit sich bringen würde, die Versorgungssicherheit der Schweiz in Gefahr. Die Versorgungssicherheit beim Strom sei eines der Schwerpunktanliegen der economiesuisse. Der Verband lege hohen Wert auf einen ausgewogenen Energiemix und einen angemessenen Inlandanteil. Näf sprach sich zudem für «international kompetitive Energiepreise, eine wettbewerbsorientierte Energieversorgung ohne Subventions- und Industriepolitik und die Berücksichtigung umweltpolitischer Aspekte» aus. Konkret fordere die economiesuisse eine Öffnung des Schweizer Strommarkts, die sich mit der EU vertrage, die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Stromproduktion und Netze, eine realistische Umsetzung der Effizienzpotenziale und wirklichkeitsnahe Nachfrageszenarien. Anstelle «aufgeblähter Subventionen für neue Energietechnologien» solle der Wettbewerb wirken. Auch für die Forschung im Bereich der nuklearen Technologien mache sich der Verband stark. Im Fazit seines Referates bezeichnete Näf die Energiewende als «theoretisch technisch machbar, wirtschaftlich höchst fragwürdig, politisch kaum akzeptiert». Die economiesuisse unterstütze den Prozess grundsätzlich und wolle konstruktiv dazu beitragen, sei jedoch den Fakten und der Sorge um den Standort Schweiz verpflichtet. «Abstriche bei Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit können uns nicht weiterbringen».
Fukushima-Effekt auf öffentliche Meinung erstaunlich gering
Im zweiten Referat analysierte Michael Siegrist die Akzeptanz der Kernenergie unter dem Einfluss von Fukushima. Der Psychologe, Betriebswirt und Publizistikwissenschafter ist Professor für Consumer Behaviour am Institut für Umweltentscheidungen der ETH Zürich. Zum Einstieg stellte er die zwei grundlegenden menschlichen Entscheidungssysteme vor: das erfahrungsbasierte und das analytische System. Laien würden für ihre Entscheide oft auf Erfahrungen zurückgreifen, wogegen Experten eher analytisch vorgehen. «Wenn wir alle immer analytisch entscheiden würden, wäre kaum jemand verheiratet», erklärte Siegrist. Dieses Muster beobachtete Siegrist im Ansatz auch nach dem Reaktorunfall in Fukushima-Daiichi. Zwar sei die Akzeptanz der Kernenergie etwas zurückgegangen, der Fukushima-Effekt auf die Wahrnehmung der Kernenergie in der Schweiz sei jedoch erstaunlich gering gewesen.

Nutzen bestimmt Wahrnehmung
Siegrist belegte seine Beobachtungen mit Daten aus einer Erhebung seines Instituts. Ausgangslage war eine Befragung zur Akzeptanz der Kernenergie im September 2010. Aufgrund ihrer Antworten wurden die Teilnehmenden in vier Gruppen aufgeteilt, je nach Akzeptanz der Kernenergie. Die gleichen Personen wurden zwei Wochen nach dem Erdbeben in Japan erneut befragt und etwa ein halbes Jahr später noch einmal. Beim Viertel mit den tiefsten Akzeptanzwerten ergaben sich laut Siegrist kaum Unterschiede zwischen den drei Befragungen. Auch bei den Befürwortern ergab sich vor, unmittelbar nach Fukushima und ein halbes Jahr danach in etwa das gleiche Bild. Die grössten Verschiebungen seien bei den mittleren beiden Gruppen festgestellt worden. Insgesamt zeigten die Daten jedoch, dass auch nach Fukushima der wahrgenommene Nutzen die Einschätzung der Kernenergie dominiere und weniger die Risikowahrnehmung. Gewisse Politikerinnen und Politiker seien davon allerdings ausgenommen. Doch laut Siegrists Fazit sind nicht zuletzt die Alternativen zur Kernenergie entscheidend: «Sollte sich die Energiewende als Illusion erweisen, dann dürfte die Akzeptanz der Kernenergie in der Bevölkerung wieder rasch zunehmen.»
«Vorbild» Deutschland
«Das Nuklearforum kann es nicht lassen, immer wieder nach Deutschland zu schauen, wo der Atomausstieg vor einem Jahr beschlossen und mit grimmiger Entschlossenheit rasch vollzogen werden soll. Wundersame und erschreckende Nachrichten erreichen uns aus unserem Nachbarland», meinte Corina Eichenberger in ihrer Begrüssungsansprache. Der dritte Referent der Jahresversammlung erlebe diese wundersamen und erschreckenden Nachrichten aus nächster Nähe und als direkt Betroffener: Ralf Güldner, Präsident des Deutschen Atomforums und Vorsitzender der Geschäftsführung der E.ON Kernkraft GmbH. Sein Referat stand unter dem Titel «Stromversorgung in Deutschland ein Jahr nach dem Moratorium». Güldner wies zum Einstieg auf die Unterscheidung zwischen der «öffentlichen» und der «veröffentlichten» Meinung hin und äusserte den Verdacht, die deutsche wie auch die schweizerische Politik habe sich nach Fukushima von letzterer leiten lassen. Er umriss die Gesetzeslage und politische Entwicklung in Deutschland zwischen Fukushima und dem Inkrafttreten der «13. AtG-Novelle» – der Änderung des Atomgesetzes, die das sofortige Abschalten der ältesten Reaktoren Deutschlands zur Folge hatte. Die Regelung, wonach jedes Kraftwerk nach der Produktion einer gewissen Strommenge abgestellt werden muss, führe laut Güldner ironischerweise dazu, dass die zuverlässigsten Anlagen als erste vom Netz gehen würden, da sie keine oder nur wenige Stillstände aufweisen und die Stromkontingente zuerst aufbrauchten.

Tiefer Eingriff in die Volkswirtschaft
Güldner zeigte auf, dass die deutschen Kernkraftwerke sowohl bei den nationalen Sicherheitsüberprüfungen als auch bei den EU-Stresstests sehr gut abschnitten. Trotzdem halte die deutsche Regierung am Atomausstieg fest. Die bisherigen Erfahrungen dabei belegten, dass die Hürden der praktischen Umsetzung sehr hoch seien: «Die Energiewende ist ein äusserst ambitioniertes Programm, das tief in die Grundfesten einer Volkswirtschaft eingreift.» Wegen der Subventionspolitik würde der eigentliche Markt zusehends schrumpfen. Nach deutschen Energiewende-Plänen wäre im Jahr 2030 das Verhältnis von offenem Markt zu subventionierter Erzeugung etwa 50 zu 50. Trotzdem würde nach wie vor ein hoher Bedarf an konventionellen Kraftwerken bestehen, um die Schwankungen bei Wind und Sonne auszugleichen. Schon bis 2020 würden die Stromkosten erheblich ansteigen. So würde ein Privathaushalt pro Jahr fast EUR 200 (CHF 240) mehr bezahlen müssen, ein energieintensives Unternehmen mit einem Jahresverbrauch von 50 GWh hätte mit jährlichen Mehrkosten von EUR 500'000 zu rechnen. «Ich habe mit Unternehmern gesprochen, bei denen diese Summe heute in etwa den Gewinn ausmacht», mahnte Güldner. «Solche Unternehmen hätten nur die Wahl zwischen dem Wegzug ins Ausland oder dem Bankrott.» In seinem Fazit relativierte Güldner das deutsche Ausstiegsmodell: «Aktuell profitiert Deutschland stark von Erzeugungstechnologien in den Nachbarländern.» Er warb für einen gesamteuropäischen Ansatz zur Lösung der anstehenden Probleme. «Um soziale Akzeptanz zu erreichen, ist eine realisierbare Perspektive nötig.»
Quelle
M.Re.