Herausforderungen der Kernenergie aus Expertensicht
Die britische Kernenergieexpertin Sue Ion, Gastprofessorin am Imperial College in London, spricht über die Zukunft der Werkstoffkunde wie auch die Entwicklung Chinas und Indiens zu globalen Akteuren im Kernenergiebereich. Sie beleuchtet die Wandlung der Kernenergie-Wahrnehmung und hält die Renaissance der Kernenergie für real.

Sprechen wir zunächst einmal darüber, dass Sie sich sehr optimistisch über die Zukunft der Werkstoffkunde weltweit und deren wachsende Bedeutung für die Nuklearindustrie geäussert haben.
Ja, und ich sehe zwei Gründe dafür. Erstens betrachten wir eine neue Reaktorengeneration und die damit verbundenen Brennstoffzyklen. Fachwissen auf dem Gebiet der Werkstoffkunde war für Energieerzeuger und -lieferanten schon immer von massgeblicher Bedeutung, und wir werden dieses Wissen rasch weiter ausbauen müssen. Ein gutes Kader an kompetenten, hoch qualifizierten Werkstoffkundlern ist unabdingbar. Sie sind in der Lage, die früher oder später unvermeidlicherweise auftretenden Probleme vorherzusehen, aufzuzeigen und zu analysieren.
Zum zweiten sind wir bestrebt, die Laufzeiten zahlreicher vorhandener Kernkraftwerke zu verlängern, insbesondere die der Leichtwasser-Reaktorsysteme. In Grossbritannien versuchen wir, die Lebensdauer fortgeschrittener gasgekühlter Reaktoren (AGR) zu erhöhen. Dem sind jedoch Grenzen gesetzt, komme was wolle. Hingegen sind seitens der Energiewirtschaft Bemühungen absehbar, die Lebensdauer von Leichtwasserreaktoren auf über 60 Jahre, vielleicht gar auf 80 Jahre zu treiben. In diesem Segment braucht es ein vertieftes Verständnis der langfristigen Alterungseffekte, wie etwa Strahlungsschäden, strahlungsbedingte Versprödung nickelbasierter Werkstoffe und so weiter.
Wir sehen uns somit zweierlei Herausforderungen gegenüber. Einerseits müssen wir die Werkstoffe kennen, die heute beim Bau zum Einsatz kommen, und Probleme vorhersehen können. Andererseits müssen wir versuchen, diese Materialien zu verstehen, wenn sie in einem viel raueren Umfeld als ursprünglich vorgesehen zum Einsatz kommen, um dann in der Lage zu sein, die von den Aufsichtsbehörden für die weitere Betriebsgenehmigung geforderte Sicherheit zu gewährleisten.
Würden Sie sagen, dass die Kernenergie dieser Tage eine Art zweiten Frühling erlebt, oder halten Sie diese Bewertung für übertrieben?
Ich halte das keineswegs für übertrieben. Beide weltweit führenden Anbieter vermelden volle Auftragsbücher: Westinghouse ist dabei, Anlagen in China zu errichten, Areva in Finnland und Frankreich. Im Rahmen ihrer langfristigen Planungen stellen beide derzeit weltweit sehr viele Ingenieure ein. Westinghouse erhielt auch ein paar Aufträge aus den USA. Einige davon liegen zwar noch recht weit in der Zukunft, doch es sind dessen ungeachtet reale Aufträge. In Anbetracht der Pläne von Ländern wie Brasilien und der Notwendigkeit, den Bestand an europäischen Kernkraftwerken in den nächsten 15 bis 25 Jahren zu erneuern, lässt sich zweifelsfrei feststellen: Die weltweite Renaissance der Kernenergie ist eine nicht von der Hand zu weisende Tatsache. Die Nachfrage von Ländern wie etwa die Vereinigten Arabischen Emirate und anderen, die bislang noch keinerlei Kontakt mit Nukleartechnologie hatten, verleiht diesem Umstand zusätzliches Gewicht.
Sie haben China erwähnt. Für wie wichtig halten Sie es, dass Länder wie China, aber auch Indien ihre eigenen Technologien entwickeln?
Ich denke, das ergibt sich ganz zwangsläufig, wenn Länder zu Betreibern grosser Kraftwerksparks werden. Sie brauchen dazu nur rückblickend Länder zu betrachten, die heute über ein grösseres Kernenergieprogramm verfügen, obwohl man dort die Technologie möglicherweise ursprünglich aus anderen Ländern importiert hat. Japan ist so ein Beispiel: Dort hat man die Technologie der General Electric und der Westinghouse bezogen und tritt heute selbst als Global Player mit modernem Reaktordesign auf. Toshiba hat am Ende sogar Westinghouse gekauft, und das Land unterhält langfristige Programme im Bereich der Generation IV-Technologie.
Anführen liesse sich auch Südkorea, das anfangs die Technologie von den Kanadiern und Westinghouse bezog, um sich in der Folge nach und nach zu einem Selbstversorger zu entwickeln. Inzwischen stammen einige der grossen Komponenten der weltweiten Lieferkette aus dem südkoreanischen Doosan. Das südkoreanische Reaktorsystem wurde zu einem eigenständigen Modell von bester Qualität weiterentwickelt. Frankreich ist das klassische Beispiel für den Technologietransfer von Westinghouse und zählt heute zu den internationalen Wettbewerbern.
Indien verfügt sowieso über ein einheimisches Programm, ebenso China. Beide jedoch haben die beste Technologie aus Übersee bezogen. Und ich gehe davon aus, dass in 20 bis 25 Jahren auch diese Länder sich zu Selbstversorgern und bedeutenden Konkurrenten entwickelt haben werden.
Stellt das Leitungsnetz in Indien für den heimischen Markt ein Entwicklungshindernis dar? Es ist ja nicht so weit entwickelt wie das in China.
Ich würde sagen, auf längere Sicht eher nicht. In Anbetracht der Zahl der in Indien geplanten Kraftwerke und der daraus resultierenden Gigawattleistungen wird man sich dort ganz zwangsläufig auch um das Netz kümmern müssen. Ich glaube, man wird Möglichkeiten finden, das Netz auszubauen und es auf moderne Grosskraftwerke vom Bautyp Generation III+ auszulegen. Am Ende dürfte man dort auch in verstärktem Masse auf Generation IV-Technologie setzen – und sich dabei bemühen, Reaktoren deutlich geringerer Kapazität für ländliche Versorgungsnetze zu entwickeln wie auch solche, die sich innerhalb eines Verbundnetzes flexibler betreiben lassen.
Wenn Sie einen Blick in die Zukunft werfen, sehen Sie vielleicht in den nächsten zehn Jahren irgendwelche bahnbrechenden Impulse, die sich bereits am Horizont abzeichnen?
In diesem Zeitraum wird wahrscheinlich nicht viel passieren. Innerhalb der Generation IV-Familie allerdings könnte es das eine oder andere revolutionäre Konzept im Bereich der Einbindung von Hochtemperaturreaktoren geben, neue Erkenntnisse über die Materialien, die darin zum Einsatz gelangen, die Prozessregelung und die Anbindung an die Wasserstoffwirtschaft oder auch Prozesswärmeeinsparungen.
Für die Entwicklung eines Kernkraftwerks lassen sich somit sehr unterschiedliche Grundprinzipien anführen. Wir dürfen in diesem Bereich das eine oder andere bahnbrechende Konzept erwarten, so, wie wir möglicherweise auch manch neuem Konzept begegnen werden, wenn wir die Entwicklung hin zu sehr hohen Abbränden mit den Materialien vorantreiben, die wir in den aktuellen Reaktoren verwenden.
Seit unvordenklichen Zeiten setzen wir Zirkonlegierungen ein, schon seit den Tagen von Admiral Rickover, dem Erfinder des U-Boots mit Nuklearantrieb. Möglicherweise werden wir wirklich sehen, dass sich ein starker Trend hin zu einer Art Keramikhüllen als Ersatz für Metallhüllen ausbildet. Bis verwertbare Ergebnisse vorliegen, wird es eine Weile dauern. Das Warten wird sich aber auszahlen. Schliesslich haben die aktuellen Generation-III+-Anlagen Regellaufzeiten von 60 Jahren. Da lohnen sich beträchtliche Investitionen in Forschung und Entwicklung, sollen die Generation III+-Anlagen doch langfristig auf hohem Niveau Energie produzieren.
Sehen Sie technologische Herausforderungen, die sich für die britische Nuklearindustrie abzeichnen?
In Grossbritannien liegen die Probleme weniger im technologischen Bereich als bei Logistik und Projektmanagement im Hinblick auf die Entwicklung einer erst im Entstehen begriffene Versorgungskette. Vor allem wird es darum gehen, der Öffentlichkeit die mit einer langfristigen Versorgung verbundene Problematik vor Augen zu führen. Denn beide in Grossbritannien angebotenen Bauformen, der EPR der Areva wie auch der AP1000 der Westinghouse, lassen wenig Spielraum bei Konzepten oder Werkstoffen.
Einer aktuellen Studie zufolge würde die Akzeptanz in der Öffentlichkeit mit technologischen Verbesserungen zunehmen. Leuchtet das ein?
Wenn die Öffentlichkeit hervorragende technologische Fortschritte und Entwicklungen wahrnimmt, die sich nachhaltig positiv auf die Sicherheit auswirken, so schafft dies Vertrauen in unser kontinuierliches Bemühen um Verbesserungen. Man muss allerdings auch sehen, dass wir heute in einer ganz anderen Welt leben.
In den entwickelten Ländern sind wir auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass das Stromnetz jederzeit unterbrechungsfrei zur Verfügung steht. Wir verlassen uns bei der Steuerung unseres Alltags weithin auf IT-Systeme. Bei einem Stromausfall würde heutzutage selbst die Telekommunikation zusammenbrechen, was in den 1970er-Jahren nicht der Fall war. Da konnten wir auch ohne Elektrizität über längere Zeit überleben und weitermachen. Es gibt also ein Versorgungssicherheitsproblem. Dabei geht es um den Nachschub fossiler Energieträger und um die Lage ihrer Vorkommen – nämlich im Mittleren Osten, in Russland und so weiter. Und dann ist da noch das Problem des CO2-Ausstosses, das in der Öffentlichkeit überaus präsent ist. Diese Kombination aus Versorgungssicherheit und Klimawandel haben die Kernenergie in ein völlig neues Licht gerückt. Sie wird heute ganz anders wahrgenommen als während der letzten 30 Jahre.
Sue Ion hat am Imperial College London einen Doktortitel sowie einen First Class Honours Degree in Werkstoff- und Metallkunde erworben. Sie war früher Vizepräsidentin und Fellow der Royal Academy of Engineering und von 1992 bis 2006 als Technologieleiterin für British Nuclear Fuels Limited (BNFL) tätig. Von 2004 bis 2006 war sie ausserdem Präsidentin der British Nuclear Energy Society. Ion steht derzeit dem UK Fusion Advisory Board vor und ist Gastprofessorin am Imperial College London. Sie ist unter anderem Mitglied des Generation IV International Advisory Committee, der IAEA Standing Advisory Group on Nuclear Energy und des Euratom Science and Technology Committee. Für ihre Verdienste um Wissenschaft und Technik wurde sie am 8. Januar 2010 zur Dame Commander of the Order of the British Empire (DBE) geschlagen.
Quelle
Das Gespräch führte Mathieu Carey, NucNet