Jean-Marc Cavedon zu den neuen Kernenergieprojekten: «Das PSI ist bereit»
Gelinde gesagt: In der schweizerischen Energieszene brodelt es. Angesichts der Gefahr eines bevorstehenden Strommangels kündigen die Elektrizitätsunternehmen neue Kernkraftwerksprojekte an. Das Paul Scherrer Institut (PSI) wird deren Umsetzung an vorderster Front begleiten. Dies bestätigt Jean-Marc Cavedon, Direktor des Forschungsbereichs Nukleare Energie und Sicherheit am PSI.

Die Schweiz produziert heute gegen 40% ihres Stroms in Kernkraftwerken. Welche Rolle hat das PSI beim Aufbau und der Instandhaltung dieser Produktionsmittel gespielt?
Die bestehenden Reaktoren wurden unter ausländischer Lizenz gebaut, und zwar in einer Zeit, in der die Verbindung zwischen Industrie und Forschung im Kernenergiebereich weniger eng war als heute. Die Annäherung, die zu den heute ausgezeichneten Beziehungen geführt hat, ergab sich nach der Gründung des Paul Scherrer Instituts vor bald 20 Jahren rund um ein gemeinsames Anliegen: die Sicherheit der im Betrieb stehenden Reaktoren zu beurteilen und zu verbessern. Aus dieser von den Forschenden, de Industrie und den Sicherheitsbehörden geteilten Sicht haben sich drei Standbeine entwickelt, die alle wesentlich zum guten Gleichgewicht des Ganzen beitragen. Seit ihrem Bestehen ist das Risiko aller Schweizer Reaktoren mindestens um den Faktor zehn gesunken. Sie gehören inzwischen - oder weiterhin - zu den weltweit sichersten Anlagen. Am PSI stellen wir tagtäglich sicher, dass die lebenswichtigen Bestandteile der Reaktoren bei guter Gesundheit sind. Wir schlagen Verbesserungen im Sicherheitsbereich vor und vertiefen fortwährend das Verständnis aller betrieblichen Details. Hinzu kommt die wesentliche Tatsache, dass wir die Mitarbeiter heutiger Kernanlagen und die Kernenergieexperten von morgen ausbilden. Uns ist es gelungen, den im Inland nötigen Ausbildungsfluss sowohl für das rund um die Uhr im Einsatz stehende Personal als auch für die multidisziplinären Experten zu erhalten. Die meisten Experten haben ihre Ausbildung mit dem Doktorat abgeschlossen und oft noch mit einer Zusatzausbildung ergänzt. Die Fachleuteausbildung auf einem multidisziplinären Gebiet ist nur möglich, wenn man eine breite Palette von Kompetenzen anbietet. Daraus erklärt sich, dass wir über Labors für Reaktorphysik und ihre Systeme, Thermohydraulik, Kernbrennstoffe und Werkstoffe verfügen. Unsere Einbindung im ETH-Bereich sichert dem PSI den Kontakt zur Hochschulausbildung und den Zugang zu grossen Infrastrukturen für die Grundlagen- und die angewandte Forschung.
Das erste schweizerische Kernkraftwerk wurde 1969 in Beznau in Betrieb genommen, das letzte 1984 in Leibstadt. Wie ist es unseren Kraftwerken in all diesen Jahren ergangen?
Sehr gut! Mit Ausnahme einer längeren Panne im nichtnuklearen Teil in Leibstadt war die Zuverlässigkeit unserer Reaktoren regelmässig und hoch. Unter Berücksichtigung der geplanten Abschaltungen für die Instandhaltung und den Brennstoffwechsel wiesen sie eine jährliche Verfügbarkeit von rund 90% auf. Die Betreiber dürfen aber nicht auf den Lorbeeren ausruhen, denn die Branche ist zwar sehr profitabel, aber vor allem in einem liberalisierten Markt ist mit einer harten Konkurrenz zu rechnen.
Die geplante Lebenserwartung der ersten Kernkraftwerke betrug 30 bis 40 Jahre. Heute stellt man fest, dass sie noch 10 bis 20 Jahre länger in Betrieb stehen können. Worauf ist diese gewachsene Langlebigkeit zurückzuführen?
Loben wir die Vorsicht unserer Vorgänger, die sich auf die Lebensdauer der nicht ersetzbaren Teile und vor allem der Reaktorbehälter stützten. Die Erfahrung hat inzwischen gezeigt, dass sie langsamer altern als erwartet. Man kann deshalb die Lebenserwartung angemessen anheben. Wie in Amerika besteht international die Tendenz, Betriebsgesuche für 50 oder nun sogar 60 Jahre zu stellen.
Die schweizerische Stromwirtschaft bereitet den Start eines neuen Kraftwerkprojekts wahrscheinlich an einem bisherigen Standort vor. Inwiefern wird das PSI dieses Projekt begleiten?
Wir begleiten es bereits jetzt. Mehrere Mitarbeiter von uns gehören den von den Elektrizitätsunternehmen gebildeten Planungsteams an. Wir machen uns auch mit den Merkmalen der zukünftigen Modelle der dritten Generation und insbesondere mit den Sicherheitsfragen vertraut. Wir stärken die Ausbildung, indem wir uns an dem von den technischen Hochschulen geplanten Master in Kerntechnik beteiligen. Der neue Lehrgang wird ab Herbst 2008 angeboten. Er ist ein Kernstück unserer Massnahmen zur Wiederankurbelung der Kernenergieausbildung. Die weiteren Stufen der «Ausbildungsrakete» - das Doktorat und das Postdoc - werden am PSI und an den spezialisierten Forschungsinstituten weltweit bereits heute angeboten.
Welcher Kraftwerktyp wird gewählt?
Wie die fünf bereits bestehenden Kraftwerke wird es sicher ein Leichtwasserreaktor sein, denn dies ist heute das einzige Konzept auf dem Markt. Über 80% aller Kernkraftwerke weltweit sind Siedewasser- (BWR) oder Druckwasserreaktoren (PWR), in denen angereichertes Uran gespalten wird. Aufgrund des Serieneffekts müssten sich die schweizerischen Elektrizitätsunternehmen eigentlich vor allem für das französisch-deutsche Modell der dritten Generation (EPR) interessieren, das gegenwärtig in Finnland und Frankreich gebaut wird. Gestützt auf ihre Erfahrungen mit BWR werden sie aber auch die amerikanischen und japanischen Angebote prüfen. Als Forscher können wir mithelfen, wenig ausgereifte oder unsichere Konzepte zu verwerfen, und wir müssen uns darauf vorbereiten, eine ausführliche Stellungnahme zu dem oder den wahrscheinlichsten Kandidaten abzugeben. Eben haben wir einen Partnerschaftsvertrag mit der finnischen Sicherheitsbehörde Stuk unterzeichnet. Sie hat uns als aussenstehende Experten für eine Reihe Sicherheitsstudien ausgewählt, wie wir sie auch für die heute in der Schweiz bestehenden Anlagen durchführen. Beim untersuchten Reaktor handelt es sich um den EPR, den die Firma Areva in Olkiluoto baut. Wir wissen zwar noch nicht, welches Pferd das Rennen machen wird, aber wir verfolgen das Rennen hautnah.
Warum nicht direkt zu einem Reaktor der vierten Generation übergehen?
Weil die innovativsten Reaktortypen frühestens im Jahr 2035 oder 2045 verfügbar sein werden. Selbst wenn die Bewilligungsverfahren für ein Kraftwerk in der Schweiz wirklich so schwerfällig sind, wie gewisse Kreise behaupten, ist das zu spät. Im besten Fall ist zu erwarten, dass die USA, Frankreich und Japan im Jahr 2020 über Demonstrationsanlagen für natriumgekühlte Schnelle Reaktoren verfügen werden. Dies erlaubt frühestens im Jahr 2035 eine kommerzielle Umsetzung, wenn die erworbene Erfahrung in eine industrielle Vorserie einfliessen kann.
Beteiligt sich das Paul Scherrer Institut an der vierten Generation?
Ja, aus Überzeugung! Wir befassen uns mit der Entwicklung von Reaktoren, die die Uranvorräte besser nutzen und weniger Abfälle für die Endlagerung produzieren. Dabei suchen wir reaktorübergreifende Nischen, wo unsere Mischung aus grundlegender Fragestellung und dem Bestreben nach praktischer Anwendung einen hohen Mehrwert gegenüber zahlenmässig grösseren Organisationen bringt, mit denen wir zusammenarbeiten. Einerseits beschäftigen wir uns mit der Charakterisierung der Hochtemperaturwerkstoffe gewisser Reaktortypen, mit der Strom-, Wärme- und Wasserstoffproduktion sowie mit den Transienten in Systemen mit schnellen Neutronen und ihren Auswirkungen auf die Sicherheit. Je nach den verfügbaren Mitteln wollen wir uns auch mit den Übertragungsproblemen bei hohen Wärmeflüssen befassen, die allen Wärmeträgern gemeinsam sind, unsere Materialkompetenzen auf innovative Brennstoffe ausdehnen, die von mehreren Reaktortypen benötigt werden, und die Kompetenzen der ETH-Bereiche rund um die Hochtemperatur-Wasserstoffproduktion zusammenlegen.
Das PSI wird in den Medien manchmal als Handlanger der Nuklearlobby hingestellt. Trifft das zu?
Es ist auch Handlanger der thermischen Solarenergie, der Biomasse und der Brennstoffzellen. Das heisst, wir unterstützen bewusst alle für eine nachhaltige Entwicklung der Schweiz nützlichen Energieformen - Kernenergie eingeschlossen. Nebst dem Forschungsbereich Nukleare Energie und Sicherheit, den ich leiten darf, hat das Institut auch einen Forschungsbereich Allgemeine Energie. Er forscht auf Gebieten, die den Energiemarkt der Schweiz rasch zu nachhaltigeren Lösungen führen können. Dazu gehören zum Beispiel die Verbrennung ohne lokale Schadstoffe, die Hochtemperatur-Solarenergie oder die Wasserstoff-Brennstoffzellen.
Kann das PSI abseits der politischen Kontroverse stehen?
Die Forscher sind natürliche Schauspieler der öffentlichen Debatte. Ihre Rolle besteht darin, Tatsachen auf den Tisch zu legen, den Wahrheitsgehalt der Meinungen zu kontrollieren und die Entscheidungen zu erläutern. Die Realität und die Aufrichtigkeit sind unsere Verbündeten im Kampf gegen Vorurteile und einseitige Interessen.
Es herrscht der Eindruck, dass die Abneigung der Öffentlichkeit gegen die Kernenergie auf Missverständnisse und Informationsmangel zurückzuführen ist. In welchem Mass könnte das PSI dazu beitragen, dieses Informationsdefizit zu reduzieren?
Die Weitergabe der Kenntnisse ist bei uns ein ständiges Anliegen, wie dies unsere Seminarien, Kurse und Publikationen, aber auch die sorgfältig gestaltete Website zeigen. Ich fürchte jedoch einen schlimmeren Feind als die Ablehnung: die wachsende Indifferenz gegenüber der Wissenschaft und Technologie, die zu einer langsamen Entvölkerung der Lehrgänge führt. Die Technik dient der Gesellschaft. Sie verdient etwas mehr Beachtung.
Das Gespräch führte Jean-Pierre Bommer
Internationale Karriere
Jean-Marc Cavedon studierte Ingenieurwissenschaften an der Ecole Centrale von Paris und erlangte an der Universität Paris-Orsay den Doktortitel in Physik. Unter anderem arbeitete er an der Erforschung und Entwicklung von Beschleunigern für die Nuklearphysik am französischen Commissariat à l'énergie atomique (CEA). Bald wandte er sich dem Nuklearbrennstoffzyklus zu und übernahm die Verantwortung für ein Team, das auf dem Gebiet der Isotopentrennung forschte. Später koordinierte er die CEA-Projekte auf dem Gebiet der Zwischen- und Endlagerung radioaktiver Abfälle und der angewandten Grundlagenforschung. Seit dem 1. April 2004 leitet er den Forschungsbereich Nukleare Energie und Sicherheit am Paul Scherrer Institut.