Kernenergie und Ethik

Die zivile Nutzung der Kernenergie war und ist Gegenstand intensiver Debatten. Neben dem lauten ideologischen Schlagabtausch gibt es eine differenzierte, vielschichtige Auseinandersetzung über die ethischen Aspekte der Kernenergie – Antworten von Sibylle Ackermann Birbaum, Vizepräsidentin der Kommission Ethik und Technik der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW).

19. Juli 2009
Sybille Ackermann Birbaum: «Die Ziele einer weltweiten menschenwürdigen Entwicklung und die Umweltprobleme, die auf uns zukommen, sind zu ernst, um mit ideologischen Streitereien Zeit zu verlieren.»
Sybille Ackermann Birbaum: «Die Ziele einer weltweiten menschenwürdigen Entwicklung und die Umweltprobleme, die auf uns zukommen, sind zu ernst, um mit ideologischen Streitereien Zeit zu verlieren.»
Quelle: Sybille Ackermann Birbaum

Sie haben sich einen Überblick verschafft über die Entwicklung der Nuklearethik in den letzten 40 Jahren*. Was hat sich verändert?

Bereits in einer frühen Phase wurden ethische Überlegungen gegen die Kernenergie formuliert. Die Umweltschäden durch Unfälle und Abfälle sowie die Gefährdung von Menschen durch Strahlenbelastung dominierten die Debatte.
Später rückte die Forderung nach weltweiter Energieversorgung aller Bevölkerungsschichten und, angesichts des Klimawandels, die tiefe CO2-Belastung von Kernkraftwerken ins Blickfeld. Seit einigen Jahren dominiert ein gewisser Pragmatismus. Ethisch heikle Bereiche wie das Restrisiko oder die Endlagerung werden ernst genommen, die Pflicht zur Sicherstellung der Versorgung mit klimaneutralem Strom aber auch. Die fachethische Diskussion enthält heute auch umwelt- und sozialethische Argumente zugunsten der Kernenergie.

Wie kam es zum Einbezug sozial-ethischer Positionen?
Zentral war das Aufkommen des Konzepts der Nachhaltigkeit, das neben dem Umweltschutz auch die ethischen Grundwerte der Gerechtigkeit und Solidarität ins Zentrum stellt. Eine nachhaltige Entwicklung beachtet gleichzeitig ökonomische, ökologische und soziale Aspekte und bringt sie miteinander in Einklang.

Wie veränderte dies die Argumentation?
Die sozial-ethische Forderung nach gerechter Versorgung mit Energie ist entscheidend für eine menschenwürdige und zukunftsfähige Entwicklung. Angesichts der krassen weltweiten Unterschiede bei der Energieversorgung ist rasches Handeln geboten. Gleichzeitig muss die Energiegewinnung umweltschonend und klimaneutral sein.
Gelingt es nicht, ausreichend klimaverträgliche Energie für eine nachhaltige Entwicklung weltweit bereitzustellen, werden die Auswirkungen immens sein – Ausdehnung der Armut, Verlust nutzbarer Landflächen, Migrationsbewegungen etc. Im Spannungsfeld zwischen den ethisch berechtigten Anliegen der globalen Energieversorgung, den Risiken der Kerntechnik und den Anliegen des Umwelt- und Klimaschutzes stellt sich die Frage, ob der Einsatz der Kernenergie in einem ausgewogenen Energiemix das «geringere Übel» ist.

Was sind die Leitlinien in der Nuklearethik heute?
In der ethischen Diskussion herrscht Einigkeit darüber, dass wir verpflichtet sind, Energie zu sparen, die Energieeffizienz zu erhöhen und erneuerbare Energiequellen zu fördern. Der Weg in die viel zitierte «2000-Watt-Gesellschaft» ist aber steinig, und es ist leider nicht gesichert, dass der Paradigmenwechsel gelingen wird. Für den Klimaschutz ist es entscheidend, dass der Anteil fossiler Energieträger massiv zurückgeht. In diesem Sinn propagierte die ETH im Februar 2008 die sogenannte «1-Tonnen-CO2-Gesellschaft». Ein zentraler Pfeiler dieser Energiestrategie ist die Elektrifizierung mit CO2-armem Strom. Uneinigkeit besteht in der nuklearethischen Diskussion darüber, ob es ethisch abzulehnen, zu rechtfertigen oder geboten ist, zur Bereitstellung der nötigen Strommengen auch auf die Kernenergie zu setzen.

Wie schätzen Sie die Haltung ein, Kernenergie sei von vornherein ethisch unzumutbar?
Die Ethik fordert, sich auf eine Güterabwägung einzulassen. Wer ohne Prüfung der involvierten Güter eine pauschale Ablehnung vertritt, macht es sich zu einfach. Was gewinnen wir, welche Übel nehmen wir in Kauf, wenn wir uns für oder gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie entscheiden? Wer sich auf diesen Prozess einlässt, merkt, dass beide Optionen mit Vor- und Nachteilen verbunden sind.
Nun gilt es, die Argumente im Einklang mit dem eigenen Weltbild zu hierarchisieren und aufgrund der eigenen Werthaltung zu gewichten. Diese Wertung gibt den Ausschlag für das Urteil. Wichtig ist, sich offen an den Diskurs zu wagen, alle Elemente einzubeziehen und die Wertungen transparent zu machen.


Wo findet die ethische Diskussion statt?
Zum grössten Teil in der Fachliteratur, an Universitäten und Kongressen. Dann auch in populärwissenschaftlichen Büchern und in den Medien. Die Umweltverbände führten lange einen mehr emotionalen und teilweise moralisierenden Stil der Diskussion, seit einigen Jahren argumentieren sie auch mit explizit ethischen Überlegungen. Gleichzeitig haben die Befürworter angefangen, proaktiv ethische Gründe für die Nutzung der Kernenergie in die Diskussion einzubringen.

Sie sind Theologin. Gibt es theologische und kirchliche Stellungnahmen zur Kernenergie?Theologische Ethiker und die Landeskirchen haben sich früh und intensiv an der Diskussion beteiligt. Die evangelisch-reformierte Seite kam mehrheitlich zu einem ablehnenden Urteil, der Vatikan hat sich wiederholt positiv zur friedlichen Nutzung der Kernenergie geäussert.
Heute liegen kirchliche Stellungnahmen vor, die alle ethisch relevanten Aspekte nennen und die Kernenergie auf ihren Beitrag zur Lösung der anstehenden Probleme prüfen. Im Gegensatz zu den Appellen vieler Umweltorganisationen enden diese nicht beim Plädoyer für radikale politische und gesellschaftliche Veränderungen, sondern benennen die einschneidenden Prozesse, die dazu nötig sind, verpflichten und ermutigen dazu. Wir leben schliesslich noch nicht in der «2000-Watt-Gesellschaft», ja sind gemessen am anhaltend hohen Energiekonsum noch nicht einmal in diese Richtung unterwegs.

Was halten Sie für wichtig für die weitere Diskussion?
Zentral ist, dass eine sachliche Diskussion stattfindet, die sich den Realitäten stellt. Die Ziele einer weltweiten menschenwürdigen Entwicklung und die Umweltprobleme, die auf uns zukommen, sind zu ernst, um mit ideologischen Streitereien Zeit zu verlieren.

Das Interview führte Daniela Stebler

Sibylle Ackermann Birbaum

Sibylle Ackermann Birbaum ist Biologin und Theologin. Seit 2006 ist sie Vizepräsidentin der Kommission Ethik und Technik der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW). Sie unterrichtet Ethik an der Universität Fribourg und in der Erwachsenenbildung.

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