Kernwissenschaftler setzen auf Reaktoren der vierten Generation

Im Jahr 2000 hat das amerikanische Department of Energy eine Initiative für die Forschung und Entwicklung von Nuklearsystemen der Zukunft lanciert, an der sich auch die Schweiz beteiligt. Erste Prototypen solcher Systeme werden nicht vor 2020 erhältlich sein. Das Ziel der Entwicklung von Reaktoren der vierten Generation ist, über «sauberere, sicherere, genügsamere, proliferationsresistentere und wirtschaftlichere» Systeme zu verfügen.

14. Nov. 2007

Mit Kernkraftwerken ist es wie im Leben: Auf die eine Generation folgt die nächste. Etwa 1970 wurde die erste Generation von Prototyp-Reaktoren ausser Betrieb genommen. Zur zweiten Generation gehören die meisten der heutigen kommerziellen Reaktoren. Und während die dritte Generation gerade gebaut wird, beschäftigen sich Wissenschaftler auf der ganzen Welt bereits mit den Reaktoren der vierten Generation. Um ihre Ressourcen zu bündeln, haben sich diese Wissenschaftler im Rahmen des «Generation IV International Forum» (GIF) zusammengeschlossen.

Nachhaltige Energiequelle

«Die Beteiligung am GIF bedeutet, dass man in der Kernenergie eine nachhaltige Energiequelle sieht», sagt der Physiker Jean-Marc Cavedon, Leiter des Forschungsbereichs «Nukleare Energie und Sicherheit» am PSI und einer der beiden Schweizer Vertreter im «Steering Committee» des GIF. Atomenergie mit der vierten Reaktorgeneration werde «sicherer, genügsamer, sauberer, proliferationsresistenter und wirtschaftlicher».

Sicher, genügsam, sauber …

Sicherheit? Ziel ist ein Sicherheitsniveau, das «mindestens jenem der heutigen Reaktoren entspricht». Gemäss dem Experten des PSI ist dies ohne Weiteres möglich. «In technologischer Hinsicht eröffnen sich mit der vierten Generation Möglichkeiten zur Gewährleistung der passiven oder inhärenten Sicherheit. Beispielsweise wäre ein Schmelzen des Reaktorkerns physisch unmöglich, da die Temperaturen zu niedrig sind.»

Genügsamkeit? In den heutigen Kernreaktoren wird nur das Uranisotop 235 - 0,7% des auf der Erde vorhandenen Urans - gespalten. Die Mehrheit der Anlagen der vierten Generation könnte aber auch mit dem Isotop 238 betrieben werden. Dadurch wären 140-mal grössere Ressourcen verfügbar. «Wir hätten Brennstoff für zehntausende von Jahren. Deshalb benutzen wir auch den Begriff ?nachhaltig?. Dank der Verwendung schneller Neutronen, deren Energie 100 Millionen Mal grösser ist als jene der langsamen Neutronen, können sämtliche Urankerne gespalten werden.»

Sauberkeit? Aufgrund ihrer sehr langen Lebensdauer von hunderttausenden von Jahren bilden die Minor Actinides in den heutigen Reaktoren störende Abfälle. Dabei handelt es sich um Urankerne, die durch den Neutroneneinfang «dicker geworden sind» und «vergessen» haben zu spalten. «Diese Kerne könnten in einem System mit schnellen Neutronen gespalten werden», erklärt Jean-Marc Cavedon. Ausserdem weisen die künftigen Reaktoren einen geschlossenen Brennstoffkreislauf auf, d.h. der abgebrannte Brennstoff wird wiederaufbereitet und rezykliert.

… proliferationsresistent und wirtschaftlich

Proliferationsresistenz? Obwohl es laut dem Spezialisten des PSI kein Beispiel gibt, «bei dem die zivile Kernenergie dazu gedient hätte, Material für die militärische Nutzung herzustellen, sind die Übergänge zwischen den beiden Bereichen nicht absolut dicht.» Der geschlossene Brennstoffkreislauf der Reaktoren der vierten Generation bietet eine zusätzliche Schranke.

Wirtschaftlichkeit? Für den Physiker ist die Nukleartechnologie heute die billigste Technologie zur Stromerzeugung. Dabei sind die Kosten für den Rückbau und die Abfallbeseitigung bereits berücksichtigt. Für die vierte Generation wird somit das Ziel angestrebt, nicht teurer als die heutigen Kernkraftwerke zu sein. «Die Kosten des Reaktors sind heute noch nicht bekannt. Hingegen können wir davon ausgehen, dass die Kosten des Brennstoffs, dessen Ressourcen hundertmal besser genutzt werden, sinken werden. Ausserdem dürfte die Kernenergie ebenfalls vom erwarteten starken Anstieg der CO2-Abgaben profitieren.»

Sechs Reaktorsysteme

Von 2000 bis 2002 haben die Experten des GIF sämtliche möglichen Technologien für die Entwicklung des Reaktors der Zukunft erfasst. 130 Konzepte wurden aufgelistet. «Jedes Konzept wurde hinsichtlich der oben erwähnten fünf Kriterien sorgfältig evaluiert. Schliesslich blieben 19 Konzepte übrig, die in sechs Systemtypen unterteilt wurden.» Im Oktober 2002 publizierte das GIF die «Technology Roadmap», welche die verschiedenen Reaktortypen beschreibt und einen Zeitplan für die Forschung und Entwicklung für die einzelnen Typen vorgibt. Am weitesten entwickelt sind die natriumgekühlten schnellen Reaktoren (Sodium-Cooled Fast Reactor SFR) und die Höchsttemperaturreaktoren (Very-High-Temperature Gas Reactor VHTR). Prototypen für diese beiden Systeme könnten bis etwa 2020 bereit ein. «Mit dem SFR könnte es sehr rasch gehen, da eine - namentlich 1985 bis 1990 im französischen Reaktor Superphénix - bereits genutzte Technologie reaktiviert werden kann.»

Prototypen ab 2020

Die VHTR sind bereits so weit entwickelt, weil es sich um den einzigen Reaktortyp der vierten Generation handelt, der noch mit thermischen Neutronen funktioniert. Als Kühlmittel kommt ein Gas - Helium oder Kohlendioxid - in Frage. Die VHTR weisen die Besonderheit auf, dass sie eine sehr hohe Betriebstemperatur von rund 900°C gegenüber den heutigen 325°C aufweisen. Dadurch kann Wasserstoff auf chemischem Weg erzeugt werden. Aus Sicht von Jean-Marc Cavedon ist dies ein grosser Vorteil: «Sollte die Wasserstoffwirtschaft jemals Wirklichkeit werden, sehe ich keine Möglichkeit, auf die Kernenergie zu verzichten.»

Für zwei andere Konzepte der vierten Generation dürfte erst 2025 bzw. 2030 ein Prototyp verfügbar werden. Dabei handelt es sich um den gasgekühlten schnellen Reaktor (Gas-Cooled Fast Reactor GFR) sowie um den Leichtwasserreaktor mit überkritischen Dampfzuständen (Supercritical Water-Cooled Reactor SCWR). Die beiden letzten Reaktortypen sind futuristischer: der bleigekühlte schnelle Reaktor (Lead-Cooled Fast Reactor LFR) und der Salzschmelzereaktor (Molten Salt Reactor MSR). «Diese beiden Konzepte sind innovativ, aber noch lange nicht einsatzfähig.»

Vorteile der Schweiz

Aus dieser grossen Zahl an Reaktortypen haben die schweizerischen Verantwortlichen vier ausgewählt: die gasgekühlten Reaktoren - GFR und VHTR - sowie die flüssigmetallgekühlten Reaktoren - SFR und LFR. «Gas ist interessant, da es über den VHTR-Typ und den GFR-Typ Zugang zur Wasserstoffproduktion in grossem Umfang und ebenso zur Technologie der schnellen Neutronen bietet. Aufgrund der im PSI gemachten Erfahrungen interessieren wir uns auch für die Reaktoren, die mit Flüssigmetallen - Natrium oder Blei - gekühlt werden.» Im Rahmen von Megapie, einem am PSI zwischen August und Dezember 2006 durchgeführten internationalen Versuch, wurden energiereiche Neutronen erzeugt, indem Flüssigmetall-Targets mit einem Protonenstrahl von einem Megawatt beschossen wurden. «Abgesehen von den russischen Versuchen, von denen wir fast keine Einzelheiten kennen, handelt es sich dabei um die bisher beste Demonstration eines möglichen künftigen Flüssigblei-Reaktors.»

Aufgrund dieser Auswahl und in Anbetracht der Kompetenzen des PSI wurden zwei Forschungsnischen definiert: die Hochtemperaturmaterialien und die Physik der schnellen Neutronen. «Unsere Kompetenzen im Bereich der Charakterisierung und physischmathematischen Modellierung von Materialien sind umfangreich und anerkannt.» In diesem Bereich arbeiten die Experten des PSI mit jenen des «Centre de recherches en physique des plasmas» der EPFL zusammen, die sich für einen anderen Nuklearbereich
der Zukunft interessiert: die Fusion.

Nachwuchssorgen

«Das PSI trägt vor allem zur Ausbildung von Spitzenfachleuten und weniger zur Entwicklung von Reaktoren bei.» Jean-Marc Cavedon ist stolz darauf, dass in den vergangenen beiden Jahren zahlreiche Spezialisten des Instituts in Führungspositionen im Nuklearbereich weltweit wechseln konnten. Dennoch betont er: «Wir machen uns Sorgen um den Nachwuchs. Die Kernenergie ist die am stärksten politisierte Energiequelle. In der Politik und in der öffentlichen Meinung gelten jedoch nicht dieselben zeitlichen Dimensionen wie im Bereich der Forschung und Ausbildung. Obwohl wir ein wachsendes Interesse von Seiten der Elektriker spüren, braucht es noch Zeit, um Spezialisten auszubilden.» Zusammen mit der EPFL und der ETHZ stellt das PSI derzeit ein Master-Programm für Nuklearwissenschaft und -technologie auf die Beine, das ab Herbst 2008 angeboten werden soll.

www.psi.ch
www.gen-4.org
Matthieu Buchs «energeia», Bundesamt für Energie (BFE)
(leicht gekürzter Auszug aus dem Newsletter «energeia» des BFE, Ausgabe 5, November 2007. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des BFE)


Das GIF wurde im Jahr 2000 vom amerikanische Department of Energy initiiert, um der Kernenergie in den USA neuen Auftrieb zu geben und so für eine mögliche Energieknappheit gewappnet zu sein. Bisher haben dreizehn Länder die Gründungscharta unterzeichnet. Im Jahr 2005 wurde diese Charta durch ein für die Unterzeichnerstaaten bindendes formelles Rahmenübereinkommen ergänzt. Sechs Staaten (Kanada, Frankreich, Japan, Korea, die Schweiz und die USA) und Euratom, die Europäische Atomgemeinschaft, haben das Übereinkommen bereits ratifiziert.

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