Kinderleukämie und Kernkraftwerke: FME beurteilt neue Studien

Eine französische und eine neue englische Studie kommen zu scheinbar unterschiedlichen Resultaten bei der Frage, ob es in der Umgebung von Kernkraftwerken mehr Fälle von Kinderleukämie gibt. Die Epidemiologie stosse an ihre Grenzen, zeige aber, dass das Risiko nicht als relevant erhöht betrachtet werden müsse, führt dazu Dr. med. Jürg Schädelin vom Forum Medizin und Energie (FME) in der Schweizerischen Ärztezeitung aus.

3. Jan. 2014

Es gibt wissenschaftliche Auseinandersetzungen, die sich über Jahrzehnte hinziehen, ohne zu einer allgemein akzeptierten Entscheidung zu kommen, stellt Jürg Schädelin in der Schweizerischen Ärztezeitung fest. Die Vermutung, dass in der Umgebung von Kernkraftwerken eine erhöhte Inzidenz von Kinderleukämien zu beobachten sei, gehöre seit einer englischen Fernsehsendung von 1983 zu dieser Kategorie. Eine bahnbrechende Studie aus Deutschland, die im Jahr 2007 ein erhöhtes Risiko in der unmittelbaren Umgebung belegte, habe dieser Kontroverse neuen Auftrieb gegeben. Die Verfügbarkeit datenbankgestützter geographischer Ortungssysteme erlaube solche Studien mit vertretbarem Aufwand durchzuführen. So seien im Januar 2012 aus Frankreich und im September 2013 aus Grossbritannien analoge Untersuchungen veröffentlicht worden, die diese Debatte weiter am Leben erhielten.

Zeitweise erhöhtes Risiko versus …

Forscher des französischen Institut national de la santé et de la recherche médicale (Inserm) verglichen insgesamt 2753 pädiatrische Patienten aus den Jahren 2002 bis 2007 mit zufällig ausgewählten 30’000 Kindern aus den Einwohnerregistern. Für jedes Kind wurde der Abstand der Wohnung vom nächsten Kernkraftwerk auf rund 100 m genau bestimmt und als Risikofaktor in eine Regressionsrechnung eingeschlossen. Dabei zeigte sich eine statistisch signifikant erhöhte Odds Ratio (Quotenverhältnis) von 1,9 für eine Distanz unter 5 km; grössere Abstände waren mit keinem erhöhten Risiko verbunden. Korrekturfaktoren, welche die bekannten Risikofaktoren für Kinderleukämie repräsentierten (soziale Schicht, Familiengrösse, rurale Wohnumgebung und Distanz zu Hochspannungsleitungen) zeigten keinen Einfluss. Zum Vergleich mit früheren Untersuchungen wurde auch die populationsbasierte «Standardized Incidence Ratio» (SIR – standardisierte Fallhäufigkeit) auf Gemeindeebene berechnet, wobei die Distanz des Rathauses als bestimmend gewählt wurde. Für den Zeitraum von 2002–2007 ergab sich ein gleich stark erhöhtes Risiko für den Nahbereich unter 5 km; die analog berechnete Zahl für den Zeitraum 1990–2001 sowie die gepoolten Daten über beide Zeitperioden liessen hingegen kein erhöhtes Risiko mehr erkennen. Schliesslich wurde noch eine Modellberechnung für die geschätzte Knochenmarksdosis basierend auf Emission gasförmiger Nuklide, vorherrschender Windrichtung und Abstand als Risikofaktoren bewertet, die aber keine Korrelation mit der Leukämieinzidenz zeigte.

… geringeres Risiko

Jüngst ist eine ähnliche Fallkontrollstudie aus Grossbritannien publiziert worden, die ein Krebsregister aus den Jahren 1962–2007 auswertete. Für jedes Kind unter fünf Jahren mit akuter Leukämie oder Non-Hodgkin-Lymphom wurde eine in Geschlecht und Geburtsdatum entsprechende Kontrollgruppe aus den Geburtsregistern bestimmt, in der über diesen Zeitraum kein Malignom beobachtet wurde. Der paarweise Vergleich der beiden Gruppen bestätigte die bekannte Abhängigkeit des Leukämierisikos von der sozialen Klasse der Eltern. Für die Nähe des Geburtsorts zu einem Kernkraftwerk errechneten die Autoren die Odds Ratio des Risikos auf 0,86 für die Altersgruppe 0–5 Jahre; die höheren Altersgruppen lagen über 1,0, waren aber wegen der geringeren Zahlen nicht signifikant verschieden von den Kontrollgruppen. Auch eine Auswertung nach Wohnort zur Zeit der Diagnose der Leukämie ergab keine signifikante Risikoerhöhung.

Kritische Distanz hilfreich

Diese beiden neueren Arbeiten mit ihren widersprüchlichen Resultaten werden die Polemik um das Leukämierisiko in der Umgebung von Kernkraftwerken nicht beenden, meint Schädelin in der Schweizerischen Ärztezeitung. Sie vermöchten es, wenn sie mit der gleichen kritischen Distanz gelesen würden, mit der therapeutische Studien zu beurteilen seien: Eine statistische Signifikanz lasse sich durch Ausweitung der Patientenpopulation und repetierte Studien fast immer erreichen; für eine Beurteilung sollte jedoch die «number needed to treat» herangezogen werden. Die französische Studie gehe mit den deutschen Erfahrungen in einer Untergruppe von gerade sechs erkrankten Kindern kongruent. Trotz Einschluss der Erfahrungen von 40 Jahren in der englischen Arbeit blieben die Resultate widersprüchlich. Es bestätige sich, dass die Epidemiologie diese Frage nicht klären könne, aber unterstreiche, dass das Ausmass des Risikos nicht als relevant erhöht betrachtet werden müsse.

Quelle

D.S. nach Schweizerischer Ärztezeitung, 50/2013; Childhood leukaemia around French nuclear power plants – the Geocap study, 2002–2007, International Journal of Cancer, Online, 5. Januar 2012; J.F. Bithell et al.: Leukaemia in young children in the vicinity of British nuclear power plants: a case-control study. In: British Journal of Cancer, 12. September 2013, doi:10.1038/bjc.2013.560

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