Krebserkrankungen bei Kindern in der Umgebung von Kernkraftwerken

31. März 2008

Zahlreiche Untersuchungen widmen sich der Erforschung der Ursache von Krebserkrankungen in der Umgebung von Kernkraftwerken. Eine solche Studie wurde Mitte letzten Jahres publiziert und wird im folgenden Artikel eingehend erläutert. Der Strahlenschutzexperte Serge Prêtre stellt die Ergebnisse dieser und ähnlicher Studien in einen fachlichen Gesamtkontext. Abschliessend werden die Bestrebungen hin zu einer schweizerischen Studie ausgeleuchtet.

Metaanalysen zu Leukämieerkrankungen bei Kindern

Die im Juli 2007 im Fachmagazin «European Journal of Cancer Care» publizierte Metastudie weist für Kinder und Jugendliche im Umkreis von Kernanlagen ein erhöhtes Auftreten von Leukämieerkrankungen aus. Die Ursachen sind bislang allerdings unklar, bestätigen die Autoren der Medical University of South Carolina im Fachmagazin.


Die Forscher rund um Peter Baker werteten in der «Meta-analysis of standardized incidence and mortality rates of childhood leukaemia in proximity to nuclear facilities» insgesamt 17 Studien zu Leukämieerkrankungen und -todesfällen um Kernanlagen aus. Durch die Vielzahl der Studien sind Daten von 136 Kernanlagen in den USA, Kanada, Grossbritannien, Japan, Frankreich, Spanien und Deutschland eingeflossen. Die Anzahl der bei den Berechnungen einbezogenen Erkrankungen oder Todesfälle wird nicht genannt. Die Studien wurden sowohl nach Altersgruppe wie auch nach geografischer Zuordnung getrennt analysiert. Die Altersgruppen wurden unterteilt nach Kindern von 0 bis 9 Jahre sowie Kindern und jungen Erwachsenen von 0 bis 25 Jahre, wo das Studiendesign der ursprünglichen Studien dies zuliess. Eine geografische Zuordnung war je nach ursprünglichen Informationen teilweise möglich für Kinder, die näher als 16 km bei der Kernanlage wohnen.

Die Autoren kommen zu Schluss, dass Kinder und Jugendliche, die in der Nähe von Kernanlagen leben, ein signifikant höheres Risiko haben, an Leukämie zu erkranken und an Leukämie zu sterben, als Kinder, die nicht in dieser Umgebung aufwachsen. Die Wahrscheinlichkeit, an Leukämie zu sterben, ist umso höher, je näher die Kinder bei den Kernanlagen leben. Für 0- bis 9-jährige Kinder in der Nahumgebung weist die Metaanalyse ein um bis zu 24% erhöhtes Risiko aus.

Ursache bleibt unbeantwortet
Die Ursache dieses höheren Risikos werde mit der Metaanalyse nicht beantwortet, führen die Autoren aus. Es sei wichtig zu begreifen, dass viele Fragen offen bleiben. So sei beispielsweise ionisierende Strahlung nachweislich ein Risikofaktor für die Entstehung von Leukämie. Mehrere Studien hätten jedoch konsistent belegt, dass die Strahlung aus Kernanlagen zu gering sei, um als Ursache für die erhöhten Leukämieraten in Frage zu kommen.
D.S. nach European Journal of Cancer Care, Juli 2007

Ein Kommentar zu den Studien über Leukämiehäufigkeit bei Kindern

von Dr. Serge Prêtre, stellvertretender Vorsitzender der Internationalen Länderkommission (ILK), Konsultant der Internationalen Strahlenschutz-Kommission und ehemaliger Direktor der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK)


Seit rund 30 Jahren erscheinen in Fachzeitschriften (zu den Themen Krebs oder Epidemiologie) regelmässig statistische Studien über Krebs oder Leukämie bei Kindern im Umkreis kerntechnischer Anlagen. Solche Studien sind randvoll mit Zahlen, die nach den Gesetzen der Statistik sachkundig ausgewertet werden. Meistens werden nur ein einziger Standort oder gewisse oder sämtliche Standorte kerntechnischer Anlagen eines Landes untersucht. Oft lautet die Erkenntnis, dass die Krebs- oder Leukämiehäufigkeit bei Kindern in unmittelbarer Nähe kerntechnischer Anlagen geringfügig über dem regionalen Durchschnitt liegt. Diese Erhöhung ist meist minimal (zwischen 5% und 10%) und aufgrund der sehr geringen Zahl von Fällen statistisch oft nicht aussagekräftig.

Jedes Mal beim Erscheinen einer neuen solchen Studie wird sie von Antikernenergiekreisen geschickt ausgeschlachtet und von den Medien breitgetreten. Die Atomenergiebefürworter werden in die Defensive gedrängt und wissen nicht, wie sie darauf reagieren sollen. Es gäbe jedoch eine äusserst wirksame und überzeugende Argumentation. Diese Studien stützen sich auf verschiedene Analysemethoden und sind daher nicht direkt miteinander vergleichbar. Trotzdem wurde in einer im Juli 2007 im Fachmagazin «European Journal of Cancer Care» publizierten Metaanalyse der Versuch unternommen, 17 dieser Studien mit Daten von insgesamt 136 kerntechnischen Anlagen gemeinsam zu betrachten, um die statistische Aussagekraft insgesamt zu erhöhen. In dieser bunt zusammengewürfelten Sammlung spielen die Standorte Sellafield und La Hague (Wiederaufarbeitungsanlagen) eine dominante Rolle und sollten nicht mit einer Studie über Kernkraftwerke vermischt werden.

Zudem wurden in dieser Metaanalyse die136 Standorte in einen Sack geworfen, ohne sich zu fragen, ob die Anlagen überhaupt je in Betrieb waren. Einige Statistiker (z.B. Thomas Kinzelmann) wollten es genauer wissen und berücksichtigten nur die Kernkraftwerke. Sie wurden in zwei Standortgruppen unterteilt: die Gruppe der tatsächlich in Betrieb stehenden Kernkraftwerke, die dementsprechend ein wenig Radioaktivität an die Umwelt abgeben, und die Gruppe der Kernkraftwerke, die gar nie in Betrieb genommen wurden oder deren Bau eingestellt wurde oder noch nicht abgeschlossen ist. Das Ergebnis ist frappant: Die Krebs- oder Leukämierate von Kindern ist in beiden Gruppen von Kernkraftwerken nahezu gleich stark erhöht. Die Radioaktivität kann somit nicht die Ursache dieser etwas höheren Leukämierate bei Kindern sein.

Es war auch nicht anders zu erwarten, denn die radioaktiven Abgaben der Kernkraftwerke sind viel zu gering, um als Ursache des Phänomens dienen zu können. Die durchgeführten Studien kommen in dieser Beziehung durchwegs zu gleichen Ergebnissen, aber die Medien richten es immer so ein, dass noch ein gewisser Zweifel besteht. Mit dem Nachweis, dass das Problem «Leukämie» auch im Umkreis von Anlagen auftritt, die noch gar nie in Betrieb waren, ist allerdings jeder Zweifel ausgeräumt. Will man es noch genauer wissen und wagt man weitere Gedanken, müsste dieses Phänomen eigentlich auch auftreten, wenn allein auf weiter Flur eine andere moderne Grossanlage errichtet wird (z.B. Flughafen, Shoppingcenter, Forschungsinstitut, Erdölraffinerie), die Fachleute aus den grossen Städten anlockt. Leider wollte bisher keine Organisation eine solche Studie finanzieren.

Nach Ansicht verschiedener Biologen (z.B. Gilham C./Peto J. und andere) könnte man das beobachtete Phänomen mit der Bevölkerungsdurchmischung erklären. Ein Erklärungsansatz könnte auch davon ausgehen, dass Träger neuartiger Krankheitserreger sich in einer relativ abgelegenen Region niederlassen, deren einheimische Bevölkerung noch keine entsprechenden Abwehrkräfte entwickelt hat. Eine europäische Studie (Euroclus 1998) gelangte zur Ansicht, dass der Trend zur Bildung von Leukämie-Clustern bei Kindern in Europa von der Bevölkerungsdichte abhängt. Die Wahrscheinlichkeit einer Leukämie bei Kindern wäre demnach in Regionen am höchsten, die nicht mehr wirklich ländlich, aber auch noch nicht wirklich städtisch sind (150-500 Einwohner/km2). Diese Folgerung stützt klar die Hypothese der Bevölkerungsdurchmischung.

Eine andere mögliche Erklärung: Das Phänomen könnte rein methodische Gründe in Zusammenhang mit der Verarbeitung der verfügbaren Daten haben. Wie auch immer: Will man eine Studie über die Schweizer Standorte in Angriff nehmen, müssten auch die früher geplanten Standorte Graben (BE), Inwil (LU), Rüthi (SG) und Kaiseraugst (AG) berücksichtigt werden.

Quellennachweise

  • Alexander F.E. et al (1998) Spatial clustering of childhood leukaemia: summary results from the Euroclus project, Br J Cancer 77: 818-824
  • Baker, P.J./Hoel, D.G. (2007) Meta-analysis of standardized incidence and mortality rates of childhood leukaemia in proximity to nuclear facilities, European Journal of Cancer Care 16: 355-363
  • Gilham, C./ Peto, J. et al (2005) Day care in infancy and risk of childhood acute lymphoblastic leukaemia; findings from UK case control study, BMJ 1330: 1294
  • Kinzelmann T. (2007) Metaanalysen zu Leukämieerkrankungen bei Kindern in der Umgebung kerntechnischer Anlagen, Strahlenschutzpraxis 4/2007: 62-64

Schweizer Kinderkrebsstudie in Aussicht

Das schweizerische Kinderkrebsregister wird voraussichtlich auf Anregung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und der Krebsliga Schweiz eine Studie zu Krebserkrankungen bei Kindern in der Nähe von Kernkraftwerken durchführen. Damit reagiert der Bund auch auf diverse Vorstösse im Nationalrat zu diesem Thema.


Das schweizerische Kinderkrebsregister ist beim Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern (ISPM) angesiedelt. Nach Angaben von Claudia Kuehni, Leiterin des Kinderkrebsregisters, wurde Mitte März 2008 ein Forschungsgesuch für eine Studie zu Krebserkrankungen bei Kindern in der Nähe von Kernkraftwerken bei der Krebsliga und beim BAG eingereicht. Die Evaluation des Gesuchs wird voraussichtlich bis Anfang Mai 2008 dauern. Erst dann wird klar sein, ob und in welcher Form die Studie durchgeführt wird, so Kuehni.
D.S. nach persönlicher Mitteilung von Claudia Kuehni, Ende März 2008

Vorstösse eidgenössischer Parlamentarier

Im Dezember 2007 wurden im Nationalrat drei Motionen und ein Postulat zum Thema Krebsstudien und Kernkraftwerke eingereicht.
Im Postulat «Studie zu Kinderkrebs und AKWs in der Schweiz» von Girod Bastien (GPS, ZH) wird der Bundesrat beauftragt eine Studie durchzuführen, die das Vorkommen von Kinderkrebsfällen in der Nähe der Kernkraftwerke untersucht. In seiner Antwort vom 7. März 2008 beantragt der Bundesrat die Annahme des Postulats. Er erklärt sich bereit, gestützt auf die Daten des schweizerischen Kinderkrebsregisters eine entsprechende Studie zu veranlassen. Erste Ergebnisse seien im Jahr 2010 zu erwarten. Das Postulat wurde im Plenum noch nicht behandelt.
Bereits im Nationalrat behandelt wurde die Motion von Rudolf Rechsteiner (SP, BS) «Krebs durch Atomkraftwerke. Abklärungen». Er fordert neben einer Fallkontrollstudie für Kinder auch eine Studie über die Krebsrate von Erwachsenen in der Umgebung von Kernkraftwerken. Der Nationalrat folgte den Empfehlungen des Bundesrats und nahm den Punkt zur Kinderkrebsstudie an, lehnte die restlichen Punkte jedoch ab.
Die beiden Motionen «Krebs durch Atomkraftwerke. Überprüfung der Methodik und der Grenzwerte» von Eric Nussbaumer (SP, BL) und «Krebs durch Atomkraftwerke. Haftung» von Roger Nordmann (SP, VD) werden beide vom Bundesrat zur Ablehnung empfohlen. Sie wurden im Plenum noch nicht behandelt (Motionen 07.3815, 07.3817 und 07.3838, sowie Postulat 07.3821)

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