Marcel Maurer plädiert für mehr Wissenschaft und weniger Demagogie in der Energiepolitik

«Energie: besoin de science et non de démagogie»: Unter diesem Titel hat der Ingenieur und Energiespezialist Marcel Maurer am 8. April 2008 einen vielbeachteten Artikel in der Tageszeitung «Le Temps» publiziert. Darin prangert er anhand von drei Beispielen – Windenergie, Stromsparlampen und radioaktiven Abfällen – die Demagogie immer wieder gehörter Argumente an. Die Bulletinredaktion wollte von Marcel Maurer wissen, warum dieser vehemente Verfechter der Energieeffizienz und erneuerbaren Energien von der wirtschaftlichen und ökologischen Notwendigkeit der Kernenergie überzeugt ist. Er plädiert für eine Abkehr vom Religionskrieg und für die Nutzung aller gangbaren Wege.

15. Juli 2008
Marcel Maurer über die ökologische Kohärenz: «Man kann nicht im Namen der Natur einerseits für die Artenvielfalt plädieren und andererseits die Energievielfalt ablehnen.»
Marcel Maurer über die ökologische Kohärenz: «Man kann nicht im Namen der Natur einerseits für die Artenvielfalt plädieren und andererseits die Energievielfalt ablehnen.»
Quelle: HEVs

Das Engagement in Energiefragen nimmt unter Ihren zahlreichen Tätigkeiten einen wichtigen Platz ein. Warum dieses Interesse? Woher stammt es?

Mein Grossvater war von Motoren begeistert und arbeitete als Chauffeur und Mechaniker des Königs von Ägypten in Alexandria. Mein Vater war Elektriker, Mechaniker und Pilot. Alles, was mit Technik und Energie zu tun hat, übte auf ihn eine grosse Faszination aus. Sie beide weckten in mir die Neugier für Wissenschaft und Technik. In der Schule hatte ich jedoch bessere Noten in Literatur und Philosophie als in den naturwissenschaftlichen Fächern und in Mathematik. Um dieses Handicap auszugleichen, entschloss ich mich zum Elektroingenieur-Studium an der ETH Zürich. Da mich das Gebiet der erneuerbaren Energie reizte, trat ich damals der Walliser Solarenergiegruppe bei. Aber auch die Kernenergie machte mich neugierig und beunruhigte mich zugleich. Das veranlasste mich zum Besuch der Vorlesung von Professor Dubs über Kerntechnologie - ein faszinierender Lehrgang, da er multidisziplinär aufgebaut war und alle Aspekte systematisch behandelte. Dabei entdeckte ich, dass sich die Angst zerstreut, wenn man sich mit der Kernenergie auseinandersetzt und den Dingen auf den Grund geht. Ich besuchte das Nachdiplomstudium über Energie an der ETH Lausanne. Schliesslich hielt ich an der Fachhochschule Westschweiz-Wallis für Studierende im dritten Jahr selbst 15 Jahre lang eine Vorlesung über Energiesysteme und Kernenergie.

Sie sind ein überzeugter Verfechter der Energieeffizienz und der erneuerbaren Energien, befürworten aber auch die Kernenergie. Warum soll man Ihrer Ansicht nach alle Energieoptionen nutzen?
Bei praktischen Umsetzungen, zum Beispiel einer fotovoltaischen Solaranlage mit Netzeinspeisung, erkannte ich, dass ein qualitativer und gefühlsmässiger Ansatz ungenügend ist. Man muss Faktoren wie Kosten, Ökobilanzen, Ressourcen, Land- und Rohstoffbedarf nüchtern beurteilen. Für eine Jahresproduktion in der Grössenordnung des Wasserkraftwerks Grande Dixence braucht es nämlich über 450 Windturbinen von der Grösse derjenigen von Collonges im Rhonetal und eine Fläche von 90 km2. Um die Produktion des Kernkraftwerks Gösgen zu erreichen, sind 1800 Anlagen auf einer Fläche von 360 km2 nötig. Ich erwarte von den Kernenergiegegnern ja nicht vorbehaltlose Zustimmung, sondern nur die Bereitschaft, ihre Vorurteile von Zeit zu Zeit in Frage zu stellen und anhand der veränderten Daten eine neue Beurteilung durchzuführen. Es ist auch eine Frage der Kohärenz: Man kann nicht im Namen der Natur einerseits für die Artenvielfalt plädieren und andererseits die Energievielfalt ablehnen.

Sind die Risiken der Kernenergie - Störfälle und Abfälle - keine guten Gründe gegen die Kernenergie? Woher kommt Ihr Vertrauen in die Sicherheit?
Die Grundfrage ist, wie man die Risiken einer Technologie beherrschen kann. Dies geschieht erstens durch das Festlegen hoher Sicherheitsanforderungen in Gesetzen und Richtlinien und zweitens durch die eingehende Überwachung ihrer Einhaltung. Das gilt auch für Strassen, für Staumauern, für Erdwärme. Es besteht kein Anlass, kompetenten und seriösen Ingenieuren bei der Kernenergie weniger zu vertrauen als beispielsweise bei der Wasserkraft. Erwiesenermassen kann man ihnen in unserem Land vertrauen. Aus heutiger Sicht kann gesagt werden, dass der Reaktorunfall in Tschernobyl die Sicherheit der im Westen und in der Schweiz verwendeten Technologie nicht in Frage stellt. Der Reaktor von Tschernobyl wies gravierende Auslegungsmängel auf. Ausserdem wurden darin unter Missachtung mehrerer Sicherheitsregeln ausserhalb des normalen Betriebs Versuche durchgeführt. Tschernobyl ist inakzeptabel, aber glücklicherweise nicht überall. Bei den Abfällen wissen wir, wie sie ohne Schaden für Mensch und Umwelt entsorgt werden können. Und danach wird auch gehandelt. Der Bund, der in diesem Bereich mehr als vorsichtig ist, bestätigt ebenfalls: Die sichere Entsorgung der radioaktiven Abfälle kann bis zum Abklingen ihrer Aktivität garantiert werden. Der Slogan «es gibt keine Lösung für das Abfallproblem» ist ein Mythos, der auf Desinformation beruht. Die Ängste der öffentlichen Meinung werden geschürt. Sie sind das Ergebnis verwirrender Botschaften von Pseudo-Experten.

Heute ist oft von der 2000-Watt-Gesellschaft die Rede: Ist eine Energierationierung unumgänglich? Brauchen wir einen neuen Churchill, der uns Blut, Tränen und Schweiss in Aussicht stellt?
Grundsätzlich bin ich damit einverstanden, dass mit weniger Energie mehr Nutzen erzeugt, die Effizienz verbessert und die Verschwendung gebremst werden soll. Das ist an sich richtig und indiskutabel. Das Konzept der 2000-Watt-Gesellschaft stört mich jedoch aufgrund seiner Dogmatik und seines Pessimismus. Ich glaube an eine konstruktivere Vision, die auf guter Information und Motivation beruht. Sicher stellen uns die fossilen Brennstoffe vor Probleme. Es gibt aber noch andere Ressourcen mit einem enormen Potenzial. Die auf die Erde einstrahlende Sonnenenergie ist rund 10'000 Mal grösser als die gesamte von der Menschheit bereitgestellte Energie. Oder nehmen wir die Erdwärme: 90% der Erdmasse weisen eine Temperatur von über 1000 °C auf. Und auch die Kernenergie: Allein für die Kernspaltung verfügen wir über Rohstoffreserven von Tausenden von Jahren und für die Kernfusion noch für viel länger. Sicher, es besteht eine grosse Ungewissheit, wie gut wir sie wirklich nutzen können. Aber wenn wir unsere Arme verschränken, erhöhen sich unsere Chancen bestimmt nicht. Dazu müssen wir die Ärmel hochkrempeln. Dem Konzept der 2000-Watt-Gesellschaft fehlt es an Weitsicht: Ich wünsche der Jugend ein motivierenderes Ziel.

Ihre Vision der Energie-Ökumene hebt sich vom Religionskriegsklima ab, das die Energiedebatte beherrscht. Wie lässt sich das überwinden? Wer kann den besten Beitrag dazu leisten? Der Wissenschafter? Der Politiker? Der Industrielle? Der Philosoph?
Der Ursprung dieses Religionskriegs liegt in der Angst vor den Risiken der Technik. Wie bereits gesagt, werden sie mit wirksamen Sicherheitsnormen und deren strikter und kontrollierter Einhaltung beherrscht. Das funktioniert in unserem Land meiner Meinung nach ausgesprochen gut. Die Angst ist aber immer noch zu weit verbreitet: Mehr als um ein Energieproblem handelt es sich hier um ein Gesellschaftsproblem und ein Problem des persönlichen Gleichgewichts. Mit der Angst kann auf zwei Ebenen umgegangen werden. Zunächst auf individueller Ebene. Es gibt gelassene, konstruktive und gut dokumentierte Menschen. Und es gibt ängstliche Menschen. Wenn ich Angst habe, verliere ich das Vertrauen in mich selbst und in die anderen, verliere ich mein Gleichgewicht und die Lebensfreude, kann ich mich nicht mehr frei entfalten. Ich habe nicht gern Angst. Und wenn ich trotzdem Angst habe, versuche ich, meine Angst zu verstehen, an meiner Angst zu arbeiten, mich zu informieren. Meine Angst vor der Kernenergie fand eine Antwort, als ich die Vorlesung über Kerntechnologie besuchte. Auf der zweiten, der gesellschaftlichen Ebene, lassen sich zwei Arten von Menschen unterscheiden: die Laien, die echt Angst haben, und die Aktivisten, die die Angst als Machtinstrument einsetzen. Ich respektiere die echte Angst des Laien, und als Experte kann ich ihm mit seriöser Information helfen. Im Übrigen bin ich generell der Ansicht, dass die Gesellschaft auf dieser Ebene nicht genügend tut, um bei der Bewältigung der Ängste zu helfen. Ich freue mich über die diesbezügliche Tätigkeit der Fédération Romande de l'Energie und ihres wissenschaftlichen Beirats, dem ich vorsitze. Und ich denke, dass das Nuklearforum Schweiz ebenfalls eine wesentliche Rolle spielen kann. Wer mit den Ängsten seiner Mitbürger spielt, um die Meinungen zu beeinflussen, müsste ethisch und sozial mehr Verantwortung zeigen.

Ein besonderer Wunsch für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass die Schweiz, die auf dem Gebiet der Energietechnik - Elektrizität, Staumauern, Turbinen, Dieselmotoren - lange Zeit eine Pionier- und Führungsrolle einnahm, wieder an diesen Platz zurückfindet. Ich meinerseits setze mich als Leiter der Ingenieur-Abteilung der Fachhochschule Westschweiz-Wallis dafür ein.

Das Gespräch führte Jean-François Dupont, Nuklearforum Schweiz
Übersetzung: Jürg Holenweger

Marcel Maurer

  • Ausbildung: diplomierter Elektroingenieur ETH Zürich, Nachdiplomstudium über Energie an der ETH Lausanne
  • Berufliche Tätigkeit: Professor, Direktor des Bereichs Ingenieurwissenschaften an der Fachhochschule Westschweiz-Wallis
  • Politisches Amt: Stadtrat von Sitten (Leiter des Amtes für Umwelt)
  • Vereine: Vorstandspräsident der UTO (Abfallentsorgungsanlage Zentralwallis), Präsident des wissenschaftlichen Beirats der Fédération Romande de l'Energie (FRE), Präsident des Vereins Main Tendue Valais (Aufzählung nicht abschliessend
  • )

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