Medienreise des Nuklearforums nach Finnland

Das Nuklearforum Schweiz hat vom 10. bis 12. September 2006 erneut eine Informationsreise für Medienschaffende nach Olkiluoto (Finnland) zum Thema «Neubau von Kernkraftwerken - Entsorgung radioaktiver Abfälle» durchgeführt. Das Programm umfasste den Besuch der Grossbaustelle des weltweit ersten europäischen Druckwasserreaktors vom Typ EPR, des Zwischenlagers für abgebrannte Brennelemente, des seit 1992 in Betrieb stehenden Tiefenlagers für schwach- und mittelaktive Abfälle sowie der Baustelle des Tiefenlagers für hochaktive Abfälle.

14. Sep. 2006
Die Medienleute aus der Schweiz im Wald der Armierungseisen für das äusserst robuste, doppelwandige Reaktorgebäude des weltweit ersten EPR, einer inneren Hülle aus vorgespanntem Beton und einer äusseren Stahlbetonhülle. Das Bild gibt einen Eindruck von der Mächtigkeit der beiden Betonschalen.
Die Medienleute aus der Schweiz im Wald der Armierungseisen für das äusserst robuste, doppelwandige Reaktorgebäude des weltweit ersten EPR, einer inneren Hülle aus vorgespanntem Beton und einer äusseren Stahlbetonhülle. Das Bild gibt einen Eindruck von der Mächtigkeit der beiden Betonschalen.
Quelle: Nuklearforum Schweiz

Die elf Medienschaffenden von Presse, Radio und Fernsehen wurden von Markus Fritschi, Mitglied der Geschäftsleitung der Nagra und Leiter Lagerprojekte, Patrick Miazza, Leiter des Kernkraftwerks Mühleberg und Prof. Horst-Michael Prasser, Dozent für Kernenergiesysteme an der ETH Zürich, begleitet. Die Reise bot den Medienschaffenden zudem die Gelegenheit, sich aus erster Hand darüber zu informieren, wie in Finnland der Neubau von Kernkraftwerken und die Standortwahl für geologische Tiefenlager entschieden und an die Hand genommen wurden.

Hoher Stromkonsum in Finnland

Im Vergleich zu den meisten westlichen Ländern hat Finnland einen sehr hohen Energiekonsum. Die Gründe dafür liegen in der energieintensiven Struktur der finnischen Industrie, dem hohem Lebensstandard, dem kalten Klima und den grossen Distanzen. Wie die Schweiz ist auch Finnland stark von Energieimporten abhängig: Im Jahr 2004 importierte das Land 67% der insgesamt konsumierten Energie aus dem Ausland. Für die Energieversorgung des Landes spielt die Elektrizität eine zentrale Rolle. Im Jahr 2005 lag der Stromverbrauch der rund 5,2 Mio. Einwohner bei 84,9 TWh (Schweiz: 61,6 TWh bei 7,5 Mio. Einwohnern). 52% des Stroms flössen in die Industrie (Schweiz: 33%) und rund 630'000 finnische Haushalte heizen gegenwärtig mit Strom. In den vergangenen Jahren haben sich 70-80% der Familien, die ein neues Eigenheim bauten, für eine Stromheizung entschieden.

Abhängigkeit von Stromimporten

Die finnische Stromversorgung stützt sich heute auf einen breiten Energiemix: Rund 26% des Stroms stammen aus den vier bestehenden Kernkraftwerksblöcken an zwei Standorten (Loviisa und Olkiluoto), weitere rund 26% aus der Verbrennung von Erdgas, Kohle, Torf und Erdöl, 16% aus Wasserkraftwerken und rund 12% aus Biomasse und der Kehrichtverbrennung. 20% des Strombedarfs wurden im vergangenen Jahr importiert, vor allem aus Russland und in geringerem Umfang aus Schweden. Das Potenzial der Windenergie ist in Finnland wegen der eher ungünstigen Windverhältnisse begrenzt, und die Wasserkraft kann aus rechtlichen Gründen nicht weiter ausgebaut werden. Nach Angaben von Martin Landtman, Projektleiter des neuen Kernkraftwerks Olkiluoto-3 und Senior Vice President von Teollisuuden Voima Oy (TVO), der Betreiberin der Kernkraftwerke in Olkiluoto, ist die finnische Stromproduktion in den Jahren 1995 bis 2003 weniger als 15% gewachsen, während der Stromverbrauch über 22% gestiegen ist. Das jüngste Szenario des finnischen Handels- und Industrieministeriums rechnet bis 2020 mit einer weiteren deutlichen Zunahme des Stromverbrauchs auf über 100TWh. Ein erheblicher Teil der fossilen Kraftwerkskapazität muss zudem in absehbarer Zeit ersetzt werden.

Information vor Ort: Martin Landtman auf der Baustelle von Olkiluoto-3 beim Interview mit einem Schweizer TV-Journalisten.
Information vor Ort: Martin Landtman auf der Baustelle von Olkiluoto-3 beim Interview mit einem Schweizer TV-Journalisten.
Quelle: Nuklearforum Schweiz

Politischer Grundsatzentscheid

Jorma Aurela, Senior Engineer im Energiedepartement des finnischen Handels- und Industrieministeriums, erläuterte in einem Vortrag in Pori den finnischen Genehmigungsprozess für neue Kernkraftwerke (siehe Grafik). Wie in der Schweiz erfolgt dieser Prozess schrittweise, nur sehr viel zügiger. Am Anfang steht die Umweltverträglichkeitsprüfung. Auf sie folgt der politische Grundsatzentscheid der Regierung. Sie hat die Frage zu beantworten, ob das vorgeschlagene Projekt im Einklang mit dem allgemeinen Wohl der Gesellschaft steht. Der Grundsatzentscheid der Regierung muss an-schliessend vom Parlament bestätigt werden. Zu den Voraussetzungen für einen positiven Entscheid gehören die vorgängige Zustimmung der Standortgemeinde und das grüne Licht der für die nukleare Sicherheit zuständigen Aufsichtsbehörde Stuk.
Im November 2000 reichte die TVO bei der finnischen Regierung ein Gesuch für den Grundsatzentscheid zum Bau eines neuen Kernkraftwerks an den beiden bestehenden Standorten Loviisa und Olkiluoto ein. Studien der Technischen Universität Lappeenranta hatten gezeigt, dass in Finnland der Strom aus Kernkraftwerken deutlich billiger ist als die Alternativen Kohle, Erdgas, Torf, Holz und Wind - auch ohne Berücksichtigung des CO2-Emissionshandels in der EU.

Versorgungssicherheit und Klimaschutz

Im Januar 2002 fällte die finnische Regierung den zustimmenden Grundsatzentscheid für den Neubau eines Kernkraftwerks und die damit verbundenen Entsorgungsanlagen. Die Regierung begründete ihren positiven Entscheid unter anderem damit, dass das Projekt
- von grosser Bedeutung für die Stromversorgung Finnlands ist
- zusammen mit den Programmen für Energieeinsparungen und dem Ausbau der erneuerbaren Energien dazu beiträgt, die Klimaschutzverpflichtungen des Landes einzuhalten. Im Mai 2002 ratifizierte das Parlament diesen Entscheid mit 107 gegen 92 Stimmen (im Jahr 1993 hatte das Parlament ein ähnliches Gesuch mit knapper Mehrheit abgelehnt). Gleichzeitig hiess das Parlament auch den Grundsatzentscheid gut, wonach die hochradioaktiven Abfälle des neuen Kernkraftwerks in Olkiluoto entsorgt werden sollen. Bereits im Mai 2001 hatte das Parlament mit 159 gegen 3 (!) Stimmen Olkiluoto als Standort für die Entsorgung der abgebrannten Brennelemente aus den vier bestehenden Kernkraftwerken zugestimmt.

Blick in das entstehende Reaktorgebäude des EPR: Erkennbar ist die spezielle Ausbreitungsfläche, auf der im unwahrscheinlichen Fall einer Kernschmelze der geschmolzene Kern aufgefangen und gekühlt werden könnte. Im Hintergrund ist der untere Teil der Stahlauskleidung (steel liner) sichtbar, die ihrerseits von der doppelten Betonschale umgeben wird.
Blick in das entstehende Reaktorgebäude des EPR: Erkennbar ist die spezielle Ausbreitungsfläche, auf der im unwahrscheinlichen Fall einer Kernschmelze der geschmolzene Kern aufgefangen und gekühlt werden könnte. Im Hintergrund ist der untere Teil der Stahlauskleidung (steel liner) sichtbar, die ihrerseits von der doppelten Betonschale umgeben wird.
Quelle: Nuklearforum Schweiz

Entscheid für den EPR

In der Folge schrieb die TVO den Bau eines neuen Kernkraftwerks weltweit aus. Im Oktober 2003 wurde als Standort Olkiluoto gewählt. Im Dezember 2003 entschied sich die TVO für den EPR von Areva/Siemens, und im Januar 2004 reichte sie das Baugesuch ein. Einen Monat später wurde in Olkiluoto mit dem Aushub der Baugrube begonnen.
Am 17. Februar 2005 erteilte die finnische Regierung die Baubewilligung. Die eigentlichen Bauarbeiten begannen im August 2005, die formelle Grundsteinlegung erfolgte am 12. September 2005. Der nächste Schritt im Genehmigungsverfahren wird das Einreichen der Betriebsbewilligung sein.

Bewilligungs- und Bauzeit von gut zehn Jahren

Die Baukosten beziffert die TVO auf EUR 3 Mrd. Der Bau des EPR wird vollständig privat und ohne staatliche Subventionen vom Betreiber TVO mit dem Engagement der industriellen Stromkonsumenten finanziert. Nach heutigem Planungsstand soll das neue Kernkraftwerk erstmals Ende 2009 Strom ans Netz abgeben und 2010 - mit einem Jahr Verspätung auf den ursprünglichen Zeitplan - den kommerziellen Betrieb aufnehmen. Diese Verzögerung ist laut Landtman für Finnland, das an Pünktlichkeit gewohnt ist, enorm, aber nicht mehr aufzuholen, da «Qualität und Sicherheit» erste Priorität haben.
Damit wird sich der gesamte Zeitbedarf für Genehmigung und Bau des neuen Kernkraftwerks bis zum kommerziellen Betrieb auf gut zehn Jahre belaufen - aus finnischer Sicht eine bedauerlich lange Zeit, wie Aurela versicherte. Zum Vergleich: An einer Medienkonferenz Ende März 2006 schätzte Walter Steinmann, Direktor des Bundesamts für Energie, die Bewilligungsund Bauzeit für ein neues Kernkraftwerk in der Schweiz auf über 25 Jahre.

Weiterer Ausbau der Kernenergie?

Die finnischen Stromversorger denken bereits an eine weitere Einheit. In einer Meinungsumfrage im April 2006 zur Zukunft der Kernenergie in Finnland sprachen sich 60% der Befragten für ein sechstes Kernkraftwerk aus. Ein Jahr zuvor lag die Zustimmungsrate noch bei rund 40%. Nach Auskunft von Aurela gibt es zwar noch keine konkreten Neubaupläne, doch wird damit gerechnet, dass eine allfällige weitere Anlage an einem der bestehenden Standorte, also in Olkiluoto oder Loviisa gebaut werden würde.

Tiefenlager für schwach- und mittelaktive Abfälle

Die Besuchergruppe aus der Schweiz fuhr auch in den Untergrund der Halbinsel Olkiluoto. Hier steht seit 1992 ein geologisches Tiefenlager für die Entsorgung schwach- und mittelaktiver Abfälle (SMA) in Betrieb. Ein zweites solches Tiefenlager wurde 1997 am zweiten Kernkraftwerksstandort Loviisa in Betrieb genommen.
Zurzeit sind in Olkiluoto zwei Silos in Betrieb: eines für schwachaktive Abfälle und eines für mittelaktive Abfälle. Sie liegen in einer Tiefe zwischen 70 und 100 m. Für den künftigen Abbruch der beiden Reaktoren in Olkiluoto werden später drei weitere Silos gebaut, die das Abbruchmaterial und die Reaktordruckbehälter aufnehmen werden.

Eingang zum geologischen Tiefenlager für schwach- und mittelaktive Abfälle. Auf dem Schild steht: «Willkommen in der Welt der Höhlenmenschen».
Eingang zum geologischen Tiefenlager für schwach- und mittelaktive Abfälle. Auf dem Schild steht: «Willkommen in der Welt der Höhlenmenschen».
Quelle: Nuklearforum Schweiz

Tiefenlager für abgebrannte Brennelemente

Wie bereits erwähnt hat Finnland als weltweit erstes Land im Mai 2001 den Grundsatzentscheid für ein geologisches Tiefenlager für die hochaktiven abgebrannten Brennelemente gefällt. Der Standort dieses Tiefenlagers befindet sich ebenfalls auf der Halbinsel Olkiluoto. Dort sollen ab ca. 2020 die abgebrannten Brennelemente aller finnischen Kernkraftwerke gelagert werden. Als erster Schritt auf dem Weg zur Realisierung werden die geologischen Verhältnisse vor Ort unter Tage in einem Felslabor mit Namen Onkalo weiter abgeklärt. Sind alle Voraussetzungen erfüllt, kann mit dem Ausbau des Felslabors zum Tiefenlager begonnen werden. Gegenwärtig wird der Zugangsstollen mit einer Gesamtlänge von 5,5 km erstellt.

Quelle

M.S./M.A.

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