Perspektiven der Schweizer Kernenergie nach den Volksabstimmungen vom 18. Mai 2003

Präsidialansprache von Dr. Bruno Pellaud anlässlich der 44. ordentlichen Generalversammlung der Schweizerischen Vereinigung für Atomenergie (SVA) vom 21. Oktober 2003 in Bern

20. Okt. 2003

Sehr verehrte Damen und Herren, geschätzte Mitglieder und Gäste!
Ich freue mich sehr, Sie zur Generalversammlung 2003 im Kursaal Bern begrüssen zu dürfen. Gestatten Sie mir, dass ich Sie alle, unsere Gäste, Einzel- und Kollektivmitglieder, gesamthaft begrüsse. Sie kommen aus Wirtschaft und Forschung, aus Verwaltung, Politik und Medien. Ihre Präsenz dokumentiert das Interesse an der Entwicklung der Kernenergie, weltweit und in der Schweiz. Seit unserer letzten Generalversammlung hat sich in der Tat vieles geändert oder geklärt, sowohl auf internationalem, wie auf nationalem Parkett. Einen besonderen Gruss richte ich an unsern Gastreferenten, Herrn Dr. Rolf Linkohr. Wir schätzen es sehr, dass Sie den Weg in die Schweiz gefunden haben - trotz Ihrer gedrängten Agenda in Brüssel, Strassburg und Stuttgart. Sie werden im zweiten Teil zu uns sprechen, und wir sind alle gespannt auf Ihr Referat.
Im Vorfeld der markanten kernenergiepolitischen Weichenstellungen des letzten Jahres - einerseits die zweifelsfrei klare Ablehnung der eidgenössischen Volksinitiativen "Strom ohne Atom" und "Moratorium plus", anderseits die nicht minder deutliche Verwerfung des Projekts Wellenberg durch die Stimmbürger des Kantons Nidwaiden - haben Sie, Mitglieder und Verbündete, gewaltige Arbeit geleistet. Für diesen unermüdlichen Einsatz danke ich Ihnen allen im Namen der Vereinigung. Dieser Dank richtet sich natürlich auch an die Mitglieder unseres Vorstandes und der Kommissionen sowie der Geschäftsstelle.

Vorsichtiges Schweizer Volk
Das Schweizer Volk hat also Ja zur Kernenergie gesagt. Es hat einen überstürzten Ausstieg verworfen und Fallstricke bei ihrer Nutzung abgelehnt. Welch ein schöner Sieg für die Kernkraftwerksbetreiber und für unsere Vereinigung! Er ist die Belohnung für 30 Jahre zuverlässigen Betrieb und einen Beitrag ohnegleichen an unsere Elektrizitätsversorgung. Um zu wissen, dass eine sichere Stromversorgung nicht um eine solide einheimische Produktion und ein dicht vermaschtes Übertragungsnetz herumkommt, brauchte das Schweizer Volk nicht auf die Strompannen zu warten, die den Sommer 2003 dies- und jenseits des Atlantiks auszeichneten. Die sprichwörtliche schweizerische Vorsicht gegenüber masslosen Lösungen erklärt das Ergebnis. Andere Faktoren haben ebenfalls eine Rolle gespielt; ich möchte zwei davon erwähnen.
Früh kam unsere Branche zur Einsicht, niemand sei besser geeignet, um der Bürgerin und dem Bürger die Wichtigkeit des Kernkraftwerkstroms aus der Steckdose verständlich zu machen, als der Nachbar: der Bäcker an der Ecke, die Ärztin, der Kleinunternehmer am Ort, der Direktor der Fabrik ganz in der Nähe, kurz die kleinen und mittleren, im Schweizerischen Gewerbeverband sowie im Verband der Schweizer Unternehmen Economie-suisse zusammengeschlossenen, Betriebe. Diese Menschen erklärten, dass die Schweiz die Kernenergie braucht, dass die Stilllegung der Kernkraftwerke die Stromversorgung aus dem Gleichgewicht bringen würde, die Arbeitsproduktivität in Frage stellen müsste und damit den Wohlstand des Landes untergraben könnte. Es sind die Nutzniesser der Kernenergie, die in den Medien und bei öffentlichen Veranstaltungen auftraten. Sie taten dies mit Kompetenz, mit Überzeugung und mit Erfolg. Es waren also nicht die Physiker und Ingenieure, die Angestellten der Kernkraftwerke und die Direktoren der Elektrizitätsunternehmen, die auf die Zinnen stiegen, um die Kernenergie zu rühmen. Ich weiss, dass einige von uns etwas frustriert waren, sich im zweiten Glied wieder zu finden. Trotzdem haben die Kernkraftwerksmitarbeiter in ihrem Umfeld, die befreundeten Organisationen -darunter Frauen und Ärzte - sowie auch die SVA mit ihrer Geschäftsstelle einen grossen Einsatz geleistet und sich unermüdlich dafür eingesetzt, dass die den Medien zur Verfügung gestellte Information stets korrekt blieb.
Ein weiterer kluger Entscheid war es, die Kampagne unter der Flagge "Wasserkraftwerk + Kernenergie - Die sichere Stromversorgung" zu führen. Es ging hier darum, den Bürgerinnen und Bürgern zu sagen, dass nicht nur die Kernenergie in Frage gestellt sei, sondern auch die gegenseitige ideale Ergänzung der beiden Stromproduktionsarten. Die Stabilität eines Elektrizitätsnetzes erfordert beides, Bandenergie und Spitzenenergie. Die Fachwelt weiss das. In meinem Kanton, dem Wallis, wo die Wasserkraft genau wie das Matterhorn zur kantonalen Landschaft gehört, hörte man oft am Stammtisch lange vor dem 18. Mai, die Stilllegung der Kernkraftwerke - die Elimination der Konkurrenz - könne für die Wasserkraft doch nur von Gutem sein. Im Laufe der Kampagne erklärten die lokalen Politiker, die Elektrizitätswirtschaft und die Unternehmer, weshalb eine Leerung der Stauseen innerhalb weniger Wochen zur Lieferung von Bandenergie in die Deutschschweiz und nach Italien nicht im Landesinteresse liegen würde. Die Botschaft drang durch: Das Wallis verwarf beide Initiativen massiv und stellte beim Moratorium gar den Landesrekord auf! Tatsächlich verstand die ganze Schweiz von Romanshorn bis Genf und von Basel(land) bis Chiasso diese Botschaft.
Mit dem Entscheid, die Option Kernenergie offen zu halten, hat das Schweizer Volk den Beweis für eine Besonnenheit erbracht, zu der andere Europäer anscheinend jetzt auch kommen - mit der Zeit und mit den Strompannen. Die Sicherstellung der Stromversorgung erfordert ein Netz im Gleichgewicht-ein Gleichgewicht zwischen interregionalem Stromaustausch und regionaler Erzeugung, wie auch ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Erzeugungsarten. Italien geht das Gleichgewicht auf beiden Gebieten völlig ab; das Land wird sich daher am Bau von Kernkraftwerken in Frankreich beteiligen und sein Netz verstärken. Deutschland will seine Kernkraftwerke willkürlich stilllegen; zudem muss das Land seinen Kohlekraftwerkspark verkleinern, um die Kyoto-Verpflichtungen zu erfüllen, und auch, weil die Kohlesubventionen auslaufen werden. Und gleichzeitig verhindern Umweltschützer den Bau der Hochspannungsleitungen, die den Strom aus Windkraftwerken von der Nordsee nach Frankfurt übertragen sollen! Andere kleinere Länder machen es besser. Schweden hält seine Kernkraftwerke in Betrieb, weil es sie braucht und weil die grosse-zweifelsohne links stehende - Gewerkschaft LO eine Abschaltung nicht zulassen würde. Finnland lanciert den Bau eines fünften Kernkraftwerks, um weniger von Energieimporten abzuhängen.
Sie haben sicherlich die Vox-Analyse über die Abstimmungen vom 18. Mai zur Kenntnis genommen. Die Analyse brachte zahlreiche erfreuliche Überraschungen, vor allem eine positive Mehrheit für die Kernenergie bei den jüngeren Generationen. Das ist wichtig. Überraschender noch die positive Mehrheit unter den Befragten, die sich zu den Anhängern von Umweltorganisationen zählen. Eins und eins zusammengezählt, zeigt die Analyse eine deutliche Alterung einer Atomenergiegegnerschaft auf, die ihre Botschaft bei den Jungen nicht mehr anbringen kann. Diese Jungen sind sich der wirtschaftlichen Realitäten sehr bewusst und setzen die Prioritäten bei ihrem Kampf für ökologische Anliegen anderswo ein. Offen gesagt, haben sich die antinuklearen 68er mit der Teilhabe an der Macht gewissermassen erschöpft. Sie stehen vereinsamt und ohne frische Kräfte hinter sich da!

Nachwuchs sichern
Der Knackpunkt besteht darin, dass sich auch der Kernenergiesektor einer Erneuerungsaufgabe gegenüber sieht. Die Unsicherheit um den künftigen Betrieb unserer Kraftwerke hat nicht viele junge Menschen ermutigt, sich zur Kerntechnik hinzuwenden. Den Fachhochschulen und Technischen Hochschulen fehlen die Studenten. Nach 60 Jahren intensiver Tätigkeit hat sich auch die technische Entwicklung verlangsamt. Sie ist reif geworden und weist den Pluspunkt auf, dass die Sicherheit, die Zuverlässigkeit und die Konkurrenzfähigkeit der Kernkraftwerke einen sehr hohen Stand erreicht haben. In der Schweiz eröffnet in Wissenschaft und Technik immerhin die Kernfusion Möglichkeiten für Spitzenforschung. Glücklicherweise bietet die Schweiz dank dem Forschungszentrum für Plasmaphysik der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne mit 120 Mitarbeitern den Studenten ein Fenster, das in Richtung Zukunft offen steht. Dies umso mehr, als unser Land auf diesem Gebiet mit der Europäischen Union assoziiert ist und unter anderem am Bau des 500-MW-Fusionskraftwerks Iter beteiligt ist, das bald auf europäischem Boden entstehen soll.
Die Option Kernenergie in der Schweiz offen zu halten, heisst also, einen Nuklearschwerpunkt am Paul Scherrer Institut beizubehalten. Es heisst ebenfalls, Lehrstühle für Kerntechnik in Lausanne und Zürich fortzuführen, wie auch eine vertiefte Ausbildung an den Fachhochschulen anzubieten. Um den Nachwuchs zu sichern und einen optimalen Betrieb unserer Kraftwerke zu gewährleisten, brauchen wir auch die Politik, die eine angemessene Finanzierung der Forschung und Ausbildung trägt. Die SVA wird darüber wachen, dass diese Ziele weiterhin Priorität geniessen.

Der Wille des Souveräns und des Parlaments ist umzusetzen
Nicht alle in diesem Saal hätten vor einem Jahr zu hoffen gewagt, dass die eidgenössische Volksabstimmung über die beiden Ausstiegsinitiativen am 18. Mai 2003 derart klar ausgehen würde und -abgesehen vom Ja beider Basel zu "Moratorium plus" und vom Ja des Halbkantons Basel-Stadt zu "Strom ohne Atom" - mit in allen Sprachregionen des Landes gleichem Ergebnis. Der klipp und klare Wille des Souveräns bestätigt so die Haltung des Parlaments in den Beratungen über das neue Kernenergiegesetz und die Atominitiativen. Die an der Urne direktdemokratisch zweifelsfrei abgestützten Hauptpunkte der künftigen Schweizer Kernenergiepolitik lauten demnach:

  • die bestehenden Kernkraftwerke sind weiter zu betreiben, solange sie sicher und wirtschaftlich sind, und
  • die Option, bei Bedarf neue Kernkraftwerke zu bauen, ist offen zu halten.

Das zentrale Anliegen der SVA an die Adresse der Verwaltung bei der laufenden Arbeit vor der Inkraftsetzung des neuen Kernenergiegesetzes ist daher die Forderung, den Geist dieses klaren Volkswillens bei der Redaktion der Verordnungen ebenso klar umzusetzen. Eine im Verordnungsrecht denkbare Strapazierung von Interpretationsspielräumen des neuen Gesetzes im Interesse der Abstimmungsverlierer wäre eine Missachtung des Willens von Volk und Parlament und deshalb nicht vertretbar. Die SVA geht davon aus, dass die Kernenergieverordnung dem weiteren Betrieb der Kernkraftwerke und der Entscheidungsfindung auf dem Gebiet der Entsorgung keine zusätzlichen Hindernisse in den Weg legen wird.

Entsorgung: Aufgabe effektiv lösen - nicht bloss verwalten
Das politische Verdikt der Nidwaldner Stimmbürger vom 23. September 2002 gegen den Sondierstollen im Wellenberg zur Erkundung seiner Eignung als Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle hat uns vor Augen geführt, dass auf dem Weg zur Realisierung eines Endlagers ein verbindliches Engagement der Politik erforderlich ist. Die Fachwelt, einschliesslich der Sicherheitsbehörden haben beim Wellenberg alles unternommen, was möglich war, um darzulegen, dass ein Sondierstollen aus sachlicher Sicht das Richtige gewesen wäre. Um bei künftigen Projekten zum Ziel zu gelangen, muss ein neues Element zum heute vorhandenen Arsenal an Entsorgungsmethoden und -mitteln hinzukommen: Der politische Wille, die Entsorgungsaufgabe tatsächlich praktisch zu lösen und nicht weiter vor sich her zu schieben.
Zwar sind in diesem Punkt Ansätze zu einer zukunftsweisenden Einigkeit im politischen Umfeldfestzustellen. Gleichzeitig besteht Anlass zur Befürchtung, die Politik könnte den von ihr erwarteten Entscheiden ausweichen und die Verantwortung für die praktische Entsorgung zunächst an die Verwaltung delegieren. Nicht die Verwaltung, sondern die Politik ist heute mit gezielten Massnahmen in die Pflicht zu nehmen, wenn wir morgen für die erheblichen aus dem Betrieb der Kernkraftwerke dazu zurückgestellten Geldmittel tatsächlich Entsorgung und nicht einfach mehr Verwaltung bekommen wollen.

Schlusswort
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie Sie sehen, sind wir auf dem Weg in eine bewegte Zukunft, eine Zukunft, in der von der Kernenergie in der Schweiz ein bedeutender Beitrag zur Versorgungssicherheit und zum Umweltschutz erwartet wird. Die Schweiz steht dabei mit ihrer demokratisch klar abgestützten Beurteilung, die Option Kernenergie sei weiter zu entwickeln und zu nutzen, keineswegs isoliert da. Nicht nur häufen sich seit einigen Monaten die Zeichen dafür, dass auch ausserhalb Asiens und des früheren Ostblocks der Bau neuer Kernkraftwerke ein ernst zu nehmendes Thema wird. Ebenso wesentlich sind die Arbeiten zur Ertüchtigung der bestehenden Kernkraftwerke für den sicheren Langzeitbetrieb, typischerweise während 60 statt 40 Jahren, die in zahlreichen Ländern voranschreiten.
Aus diesem Grunde ist die Konkretisierung künftiger Rahmenbedingungen für die Nutzung der Kernenergie ein vitaler Vorgang. Die SVA verwahrt sich mit aller Vehemenz gegen die neuesten Vorstösse aus dem Kreis der Abstimmungsverlierer, wonach das neue Kernenergiegesetz in den ihnen passenden Teilen vorzeitig in Kraft zu setzen sei. Die Autoren dieser Vorstösse verlangen damit für die Übergangszeit bis zur Inkraftsetzung des neuen Kernenergiegesetzes nichts weniger als die Ausschaltung der rechtsstaatlichen Abläufe. In der bestehenden Rechtsordnung haben wir ein Atomgesetz - ein sehr strenges Gesetz - und wir haben den gestrengen Bundesrat als Bewilligungsbehörde sowie die HSK als verantwortliche Sicherheitsbehörde. Den Zeitpunkt der Inkraftsetzung der neuen Gesetzgebung mit den neuen Bewilligungsverfahren hat der Bundesrat festzulegen. Wie Sie dem Beitrag der Bundesverwaltung auf den hintersten Seiten unseres Jahresberichts 2002 entnehmen, dürfte dies nicht vor Anfang 2005 geschehen. Der Ruf, bis dahin die bestehende Rechtsordnung teilweise ausser Kraft zu setzen, ist eine rechtsstaatliche Ungeheuerlichkeit, die hoffentlich keine Chance haben wird. Der Anspruch auf ei ne korrekte, nicht von Willkür geprägte Abwicklung der Bewilligungsverfahren ist auch nach Annahme des neuen Kernenergiegesetzes lückenlos aufrecht zu erhalten!

Quelle

Dr. Bruno Pellaud

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