Standortbestimmung der Kernenergie in Deutschland

Die diesjährige Wintertagung des Deutschen Atomforums widmete sich wie jedes Jahr der aktuellen energiepolitischen Situation der Kernenergie in Deutschland. Vom 6. bis 7. Februar 2008 trafen sich über 300 Teilnehmer und Vertreter der deutschen Energiewirtschaft, Politik und Wissenschaft zum Austausch in Berlin. Öffentliches Aufsehen erregte der prominente SPD-Politiker Wolfgang Clement mit seinem Plädoyer für die Kernenergie.

12. März 2008
Walter Hohlefelder: Ohne Laufzeitverlängerungen wird Deutschland das für 2020 gesetzte CO[sub]2[/sub]-Reduktionsziel von 40% gegenüber 1990 weit verfehlen.
Walter Hohlefelder: Ohne Laufzeitverlängerungen wird Deutschland das für 2020 gesetzte CO[sub]2[/sub]-Reduktionsziel von 40% gegenüber 1990 weit verfehlen.
Quelle: Henning Lüders Fotografie, Berlin

«Auf globaler und europäischer Ebene ist die Kernenergie im Aufwind», konstatierte Walter Hohlefelder, Präsident des Deutschen Atomforums, zu Beginn der Tagung. «Die schlechte Nachricht ist, dass in Deutschland die Kernenergie weiterhin blockiert ist.» Damit kam Hohlefelder gleich auf den Punkt, nämlich die schwierige politische Situation für die Kernenergie in Deutschland, die in Europa einmalig ist und keine Nachahmer findet. Im Gegenteil: Während die Europäische Kommission der Kernenergie im Kampf gegen den Klimawandel eine wesentliche Rolle attestiere und ein Umdenken auch in Ausstiegsländern wie Italien und Spanien deutlich werde, beharre Deutschlands Politik auf ihren Ausstiegsplänen und lehne Laufzeitverlängerungen für die Kernkraftwerke weiterhin ab. Allerdings sah Hohlefelder auch positive Signale für ein Umdenken in den Reihen der Regierungsparteien, wie die Zustimmung deutscher EU-Parlamentarier zur Kernenergie anlässlich der Überweisung eines Parlamentsberichts zur Klimapolitik im Herbst 2007.

Kein Vorbild für andere Länder

In Deutschland werde offensichtlich die Haltung der anderen Länder gegenüber der Kernenergie falsch eingeschätzt, sagte Marc Oliver Bettzüge vom Energiewirtschaftlichen Institut der Universität zu Köln. Mit dem Atomausstieg finde höchstens eine Verschiebung in Europa statt: Die wegfallenden deutschen Kernkraftwerke würden in der Praxis durch Kernkraftwerkszubau in anderen EU-Ländern ersetzt.

Auch laut Philipp Missfelder, Bundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands, dient Deutschland mit seiner Energiepolitik in Europa offensichtlich nicht als Vorbild. Gerade dies sei aber notwendig. Denn das Hauptargument für die Förderung der erneuerbaren Energien sei ihre Exportmöglichkeit, sagte Missfelder. Aus demselben Grund sei es «Irrsinn», die jahrzehntelange technologische Führungsposition in der Kerntechnik aufzugeben und anderen Ländern zu überlassen. Die deutschen Kernanlagen gehörten schliesslich zu den sichersten der Welt. Auch in diesem Sektor müsse Deutschland seine Exportstärke erkennen.

Die Bedeutung des Exports betonte auch Eberhard Umbach, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Sinnvolle Energiestrategien müssten über die Landesgrenzen hinausgehen. Vor allem mit Hinblick auf die Klimaproblematik - für Umbach die wahrscheinlich grösste Herausforderung der Menschheit - könne einzig eine internationale Energiepolitik nachhaltig sein, ein deutscher Alleingang hingegen nicht.

Klimaschutz kostet Geld

Hohlefelder machte auf einen Aspekt aufmerksam, der in vielen Debatten vernachlässigt werde: die Kosten des Klimaschutzes. Mit Kernenergie wäre der Klimaschutz viel günstiger zu haben als ohne: «Wir reden hier über mindestens zweistellige Milliardenbeträge.»

Kurt Lauk, Mitglied des deutschen Bundestages und Präsident des Wirtschaftsrates der CDU, rechnete vor, dass die deutschen Kernkraftwerke jährlich bis zu 150 Mio. t CO2 vermeiden. «Damit tragen sie einen grossen Teil zur Einhaltung der sehr ehrgeizigen Klimaschutzziele bei, die sich Deutschland gesetzt hat.» Noch ehrgeiziger werden die Ziele, wenn man die anfallenden CO2-Vermeidungskosten betrachtet, denn in Deutschland werden nicht die kosteneffizientesten Technologien eingesetzt. Vielmehr liegen die Vermeidungskosten mit EUR 80 pro t CO2 um das Doppelte über dem möglichen Preis, sagte Ulrich Jobs, Vorstandsmitglied der RWE AG. Es müssten nämlich auch die hohen volkswirtschaftlichen Kosten durch die direkten Subventionen des Energie-Einspeisegesetzes zur Förderung der erneuerbaren Energien und die kostentreibende Wirkung des Ausstieg aus der Kernenergie - eine der günstigsten Vermeidungsoptionen - berücksichtigt werden.

Fehlende Energiestrategie

Wie die Klimaziele der Regierung mit den heutigen politischen Massnahmen erreicht werden sollen, blieb vielen Rednern ein Rätsel. Ohne Laufzeitverlängerungen für die Kernkraftwerke sind sie nach Auffassung Hohlefelders unerreichbar. Und Lauk vermisste eine nachvollziehbare Energiestrategie.

Laut Jobs verursacht die Politik durch den Ausstieg aus der Kernenergie eine «gesetzlich bestimmte Lücke» von rund 21 GW. An der Tagung wurde mehrfach gefordert, dass die Politik endlich Rahmenbedingungen schaffe, die es den Stromversorgern ermöglichten, in weitere Kraftwerke zu investieren, statt durch Regulierungen Neubauten zu erschweren. Deutlich wurde, dass die Energiewirtschaft auf Planungssicherheit besonders angewiesen ist.

Wolfgang Clement: Fehleinschätzungen korrigieren

Einen in der Öffentlichkeit besonders beachteten Akzent setzte der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement, Mitglied der SPD. Noch immer werde die Substitutionsproblematik des Kernenergieausstiegs von der Politik unterschätzt, sagte Clement. Pläne, wie die fehlende Energie ersetzt werden solle, gebe es anscheinend keine konkreten. Es werde lediglich auf den Ausbau der erneuerbaren Energien und auf eine «Effizienzrevolution» verwiesen.

Clement war es, der im Jahr 2000 als Wirtschaftsminister zusammen mit dem damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau den Vertrag zum Ausstieg aus der Kernenergie unterzeichnet hatte. Er habe damals diese Entscheidung nach langen Diskussionen aufgrund der Risiken des Missbrauchs getroffen, sagte Clement. Seinerzeit hätte diese Politik durchaus Sinn gemacht, aus heutiger Sicht sei sie «naiv», so Clement weiter. Denn der Ausstieg Deutschlands werde angesichts der weltweiten Ausbreitung der Kernenergie an der Möglichkeit des Missbrauchs nichts ändern. Eher gelte das Gegenteil: Deutschland verliere nur an Einflussmöglichkeiten. Als Politiker müsse man den Mut haben, eine Fehleinschätzung einzugestehen und sie zu korrigieren, fand Clement.

Wegen kritischer Äusserungen zur Energiepolitik der eigenen Partei unter Beschuss: der ehemalige SPD-Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement.
Wegen kritischer Äusserungen zur Energiepolitik der eigenen Partei unter Beschuss: der ehemalige SPD-Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement.
Quelle: Henning Lüders Fotografie, Berlin

«Strom ist Modernisierungsenergie»

Mit der Liberalisierung der Strommärkte streben auch die deutschen Energieversorger als Konkurrenten auf den europäischen Markt. «Es wäre deshalb gut, wenn sie dies unter europäischen Regeln tun könnten, damit der Wettbewerb über die Grenzen und politisch unbehindert funktioniert», sagte Clement weiter. Der weltweite Anstieg des Energieverbrauchs - bis 2050 soll er sich verdoppeln - mache dies unerlässlich.

In diesem Zusammenhang erinnerte Umbach daran, dass das Bruttosozialprodukt mit dem Stromverbrauch korreliere. Und auch Johannes Theyssen, Vorstandsmitglied der E.On AG, sah den wachsenden Stromverbrauch vor dem Hintergrund von Wirtschaftswachstum und technologischem Fortschritt. «Strom ist Modernisierungsenergie», betonte er. Daher müsse mit der Idee, den Status quo zu erhalten, gebrochen werden. Hier sei neben der Politik auch die Wirtschaft gefragt.

Mit einer Stimme trotz Konkurrenz

Clement forderte, dass Energiewissenschaft und -wirtschaft zur «tabufreien Zone» werden. Die Energiewirtschaft müsse daran mitwirken. Abschliessend appellierte er an die Vertreter der Energieversorger: Sie sollten, wenn es um gemeinsame Interessen gehe, vor allem miteinander - und nicht in Konkurrenz gegeneinander - «mit einer klaren, vernehmbaren Stimme» sprechen. Dies müsse immer im fairen Dialog mit der Öffentlichkeit geschehen, um Kommunikationspannen wie die um das Kernkraftwerk Krümmel im letzten Sommer zu vermeiden.

Jährliche Standortbestimmung der Kernenergie: die Wintertagung mit stark angestiegener Teilnehmerzahl.
Jährliche Standortbestimmung der Kernenergie: die Wintertagung mit stark angestiegener Teilnehmerzahl.
Quelle: Henning Lüders Fotografie, Berlin

Quelle

M.R.

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