Standpunkte der Kernkraftwerksbetreiber in der aktuellen Lage der Energiediskussion

20. Dez. 1999

Dr. Peter Wiederkehr, Direktionspräsident der Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK), Referat am SVA-Parlamentariertreffen vom 21. Dezember 1999 in Bern


Es gibt wohl keine Energieform, die derart umstritten ist und für Debatten sorgt wie die Kernenergie. Einst freudig begrüsst als die Energie der Zukunft, ist sie heute für viele Bürger zu einem Auslaufmodell geworden. Die Fronten sind scharf gezogen. Die einen bleiben dabei: ohne Kernenergie keine ausreichende und umweltfreundliche Stromversorgung. Für die anderen kann über den Ausstieg der Kernenergie nicht einmal mehr verhandelt werden. Die Kernenergie ist zur Glaubensfrage geworden. In Glaubensfragen wird erfahrungsgemäss dogmatisch und mit blindem Eifer gestritten. So auch über die Kernenergie. Die Diskussion über den Strommarkt überdeckt zur Zeit die Problematik der Kernenergie. Sie wird aber in Bälde wieder in der ganzen Breite ausbrechen, liegen doch zwei Initiativen zur Kernenergie vor:
1. Initiative "Moratorium plus" Sie fordert im Wesentlichen:

  • Für die Dauer von 10 Jahren werden keine Bewilligungen für Atomenergieanlagen erteilt.
  • Bleibt ein Kernkraftwerk länger als 40 Jahre in Betrieb, braucht es hierfür einen referendumspflichtigen Bundesbeschluss.
  • Die Betriebsdauer darf jeweils um höchstens 10 Jahre verlängert werden.

2. Initiative "Strom ohne Atom" Sie fordert im Wesentlichen:

  • Die schweizerischen Kernkraftwerke werden stillgelegt. Beznau und Mühleberg spätestens zwei Jahre nach Annahme der entsprechenden Übergangsbestimmung in der Bundesverfassung; Gösgen und Leibstadt spätestens nach 30 Betriebsjahren.
  • Die Wiederaufarbeitung wird eingestellt.
  • Die Stromerzeugung ist auf nicht-nukleare Energiequellen umzustellen. Die Substitution durch fossil betriebene Anlagen ohne Nutzung der Abwärme ist ausgeschlossen.

Die Forderungen sind nicht ganz neu. Im Grunde genommen sind die beiden Initiativen Neuauflagen zweier Initativen aus dem Jahre 1990. Der Bundesrat ist auch nicht untätig geblieben. Er bereitet eine Revision der Atomgesetzgebung vor, die zugleich einen Gegenvorschlag zu den Initiativen darstellen soll. Für Gesprächsstoff ist damit gesorgt. Für die Betreiber der Kernkraftwerke ist wichtig, dass auch ihre Überlegungen in die Diskussion einfliessen.

Die Standpunkte der Kernkraftwerksbetreiber

1. Die Werkbetreiber sind mit keiner Energie verheiratet, auch nicht mit der Kernenergie
Für die Werkbetreiber - die schweizerischen Überlandwerke - ist daher der Streit um die Kernenergie auch keine Glaubensfrage. Sie betreiben neben Kernkraftwerken zahlreiche Wasserkraftwerke, fossilthermische Kraftwerke, Solaranlagen und Windkraftwerke. Kernenergie ist für sie eine Energie neben anderen. Im bisher geltenden Monopol und der damit verbundenen Versorgungspflicht hatten die Werkbetreiber eine klare Zielsetzung: Die Versorgung der Bevölkerung mit hinreichend Energie zu günstigen Preisen.
Begonnen haben alle mit der Wasserkraft. Als die Wasserkraft für die Versorgung nicht mehr ausreichte, mussten sie sich nach neuen Energiequellen umsehen. Zur Auswahl standen fossilthermische Kraftwerke oder Kernkraftwerke. Nicht zuletzt unter mehr oder weniger sanftem Druck des Bundes wählten sie die Kernenergie. Heute deckt die Kernenergie im schweizerischen Schnitt 40% des Strombedarfs. Im Wirtschaftsraum Zürich sind es in der Winterzeit gar 70%. Elektrizitätsgesellschaften sind wirtschaftlilche Unternehmungen. Sie betreiben eine Energieform, solange sie wirtschaftlich sinnvoll ist, andernfalls geben sie diese auf. Sie wechseln zu anderen Energiearten, sofern ihnen diese wirtschaftlicher erscheinen. Sie verkaufen Wasserkraftwerke oder geben Wasserkraftwerkprojekte auf, wenn sie unrentabel sind. Sie würden Solaranlagen in grossen Massen betreiben, wenn sie wirtschaftlich wären. Sie würden auch von der Kernenergie abgehen, sobald diese nicht mehr konkurrenzfähig wäre.
Wirtschaftsunternehmen produzieren nach wirtschaftlichen, nicht nach ideologischen Kriterien.

2. Jede Energieart hat ihre Vorteile, aber auch ihre Probleme
Fossile Energien belasten die Luft, sind aber billig. Wasserkraft ist erneuerbar und sauber, aber teuer. Ohne Eingriffe in die Natur lässt sich ihre Nutzung nicht realisieren. Kernenergie steht unbeschränkt zur Verfügung und ist eine saubere Energie. Jede Terawattstunde Nuklearstrom vermeidet im Vergleich zu Kohlestrom ungefähr eine Million Tonnen Kohlendioxid. Ihr Problem: sie gilt als gefährlich, kompliziert und unwirtschaftlich. Das Problem des radioaktiven Abfalls ist - zumindest in der Schweiz - noch nicht gelöst.

3. Kernenergie ist eine komplizierte, aber dennoch sichere Energie
Wir beherrschen sie. Wir leisten auch den Tatbeweis. Es sind in Betrieb: Beznau und Mühleberg seit rund 30 Jahren. Gösgen seit 20 Jahren und Leibstadt seit rund 15 Jahren. Alle Werke laufen unfallfrei. Ihre Verfügbarkeit steht weltweit an der Spitze.
Wir beherrschen die Technik der Kernenergie, weil

  • bauliche und technische Sicherheiten in unseren Kernkraftwerken in grosser Zahl eingebaut sind,
  • wir über hoch qualifiziertes Personal verfügen,
  • wir die Kraftwerke dauernd erneuern.

Das Kernkraftwerk Beznau von 2000 ist nicht mehr dasjenige von 1970. Es wurde von Grund auf erneuert. Das zeigen die Zahlen. Die Baukosten betrugen rund SFr. 700 Mio. Die Erneuerungskosten der letzten Jahre belaufen sich auf rund SFr. 1 Mrd., übersteigen damit die Erstellungskosten in erheblichem Mass.
Es ist auch kein Zufall, dass die Bevölkerung in der Nachbarschaft Zutrauen zu den Kernkraftwerken hat. Abstimmungsresultate bestätigen dies deutlich.

4. Kernenergie ist eine wirtschaftliche und wettbewerbsfähige Energie
Die Wirtschaftlichkeit einer Energieform ist nach Mittelwerten und nicht nach Extremwerten zu beurteilen. So ist Leibstadt nicht der Vergleichswert für die Stromproduktion aus Kernenergie. Ebenso wenig sind die 24 Rp. je kWh des Wasserkraftwerkes Ilanz der Referenzwert für die Wasserkraft. Die Gestehungskosten der schweizerischen Kernkraftwerke sind durchaus konkurrenzfähig, sofern sie nicht durch übermässige Auflagen künstlich verteuert werden. Wäre die Kernenergie nicht wirtschaftlich, müsste sie auch nicht bekämpft werden. Sie würde sich von selbst eliminieren. Es scheint allerdings, als würden die Propagandisten der zu teuren Kernenergie ihren eigenen Behauptungen nicht trauen und verlangen deshalb ein Verbot dieser Energie.
Die eifrig kolportierte Behauptung, die Wasserkraft müsse die Kernenergie subventionieren und damit künstlich am Leben erhalten, ist schlicht und einfach falsch. Sie wird auch nicht richtig, wenn man sie dauernd wiederholt. Eher lässt sich das Gegenteil belegen. So wurde Ilanz nicht zuletzt durch die Erträge des Kernkraftwerks Beznau saniert. Die Wahrheit ist: Wasserkraft und Kernenergie können finanziell nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Erfahrung zeigt lediglich, dass alte Wasserkraftwerke billiger sind als neue Kernkraftwerke und anderseits alte Kernkraftwerke günstiger produzieren als neue Wasserkraftwerke.

5. Die Entsorgung des radioaktiven Abfalls ist machbar
Mit Sondierbohrungen allein allerdings nicht. Es kann nicht übersehen werden, dass die bisherigen Bemühungen um die Lösung der Abfallproblematik sich auf das Sondieren und nicht auf das Realisieren konzentrierten. Bis heute hat die Nagra über SFr. 700 Mio. für die Suche nach Endlagern ausgegeben.
Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir aber noch immer kein Endlager. Das müsste nicht sein. Das Konzept der Endlagerung ist klar:

  • Schwache und mittelstarke Abfälle sind in der Schweiz einzulagern. Man weiss auch wo: im Wellenberg. Kann das Endlager Wellenberg nicht realisiert werden, lässt sich kaum ein Endlager in der Schweiz verwirklichen.
  • Für hochaktive Abfälle muss eine Lagermöglichkeit in der Schweiz bestehen. Vernünftigerweise sollte die geringe schweizerische Abfallmenge in einem grossen ausländischen Lager gegen harte Schweizerfranken miteingelagert werden.
  • Das erforderliche Geld wird zeitgerecht ausgeschieden.

Unlogisch ist die Forderung, man solle der Realisierung eines Endlagers nur zustimmen, wenn gleichzeitig der Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen werde. Radioaktiver Abfall fällt auch dann an, wenn die Zustimmung zu einem Endlager verweigert wird.
Einen Sonderfall der Abfallentsorgung stellt die Wiederaufarbeitung dar. In der Wiederaufarbeitung wird das in abgebrannten Brennelementen noch enthaltene spaltbare Uran sowie das durch den Abbrand erzeugte Plutonium herausgenommen und in neue Brennelemente verarbeitet. Es handelt sich hierbei um ein klassisches Recycling. Die Alternative zu diesem Recycling ist die direkte Endlagerung. Die für die Wiederaufarbeitung notwendigen Transporte haben sich in den letzten Jahren zu spektakulären Grossdemonstrationen ausgeweitet. Mit ihnen soll die Gefährlichkeit der Kernenergie bewiesen werden. Der Beweis bietet allerdings Schwierigkeiten. Bis heute sind abgebrannte Brennelemente über Millionen von Kilometern transportiert worden, ohne dass es je zu einer ernsthaften Verstrahlung gekommen wäre. 4 Becquerel je Quadratzentimeter reichen hierfür nicht aus.
Es gibt keine stichhaltigen ökologischen und sicherheitstechnischen Argumente gegen die Wiederaufarbeitung. Für die Werkbetreiber ist die Wiederaufarbeitung eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Aus heutiger Sicht dürfte die Wiederaufarbeitung nicht entscheidend billiger sein als die direkte Endlagerung. Das Problem wird damit wesentlich entschärft.

6. Die Kernenergie hängt letztlich von der politischen Akzeptanz ab
Auch wenn die Kernenergie wirtschaftlich und sicher und das Abfallproblem lösbar ist, hat die Kernenergie ohne politische Akzeptanz keinen Bestand. Der Gesetzgeber kann sie aus emotionalen Gründen verbieten.
Die Frage der Akzeptanz betrifft mittelfristig lediglich die bestehenden Kernkraftwerke. Für die nächsten Jahrzehnte ist kein neues Kraftwerk geplant. Die Initiative "Moratorium plus" hängt in diesem Punkt in der Luft. Neue Kraftwerke werden vermutlich sowieso dem Referendum unterstehen und damit einem Akzeptanzbeweis unterstellt. Die politische Wertung der bestehenden Kernkraftwerke lässt zwei Grundvarianten zu:

  • Sofortiger Ausstieg, wie das die Initiative "Strom ohne Atom" verlangt.
  • Weiterbetrieb der Kernkraftwerke. Zu bestimmen ist noch die Dauer des Weiterbetriebes.

Ein sofortiger Ausstieg ist an sich möglich, aber unsinnig. Das zeigen die Konsequenzen:

  • Die Ausserbetriebnahme funktionsfähiger Kraftwerke führt zu Milliardenverlusten. Sie sind zu entschädigen. Darum kann man sich kaum drücken.
  • Die ausfallende Stromproduktion muss ersetzt werden. Mit Sparen und der Förderung erneuerbarer Energie lassen sich 40-70% des Stromkonsums nicht auffangen. Für den Ersatz bestehen drei Möglichkeiten:
    • Vermehrter Strombezug aus Frankreich. Produktionsform in Frankreich: Kernenergie. Wo liegt der Sinn, schweizerische Nuklearenergie durch französische zu ersetzen?

    • Vermehrter Strombezug aus dem Osten: Produktionsform: fossilthermische Kraftwerke. Die saubere schweizerische Kernenergie wird durch CO2-lastige Energie ersetzt. Wo liegt der Sinn?

    • Bau fossilthermischer Kraftwerke in der Schweiz. Sie stehen wegen der zu erwartenden Einsprachen nicht rechtzeitig zur Verfügung. Auch sie brauchen Vorlaufszeiten von Jahren. Auch sie produzieren CO2. Wo liegt da der Sinn?

Die sinnvolle politische Lösung kann nur darin liegen, dass die bestehenden Werke weiterbetrieben werden, solange deren Sicherheit gewährleistet ist. Das ergibt, wie die HSK in ihrem Bericht vom Februar 1999 feststellt, Betriebsdauern von mindestens 50 Jahren für Beznau und Mühleberg sowie von 60 Jahren für Gösgen und Leibstadt.
Diese Fristen sind sinnvoll, weil sie

  • vernünftige Amortisationszeiten und damit wettbewerbsfähige Kosten ermöglichen.
  • sich mit der wirtschaftlichen Realität decken. Nach 50-60 Jahren Betriebsdauer dürfte eine erneute Generalüberholung notwendig werden, die möglicherweise wirtschaftlich nicht mehr interessant ist. Wird das Werk dann aus dem Betrieb genommen, entsteht kein Verlust.
  • eine Denkpause ermöglichen. Es kann die Entwicklung der nächsten 20 Jahre abgewartet werden. Erst dann muss entschieden werden, ob ein Kernkraftwerk neu erstellt oder auf andere Energien umgestiegen werden soll. In diesem Zeitraum zeigt sich, wieweit der Energiebedarf zurückgegangen ist, wie weit sich Alternativenergien tatsächlich durchgesetzt haben. Entscheidend dürfte auch die Beurteilung der Energiesituation sein. Die Kernenergie hat zweifellos in Zeiten einer Energieknappheit einen andern Stellenwert als in Zeiten des Stromüberschusses.

Quelle

Dr. Peter Wiederkehr

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