Tschernobyl: Eine Bilanz aus medizinischer Sicht
Am 10. April 2003 führte das Forum Medizin und Energie (FME) ein Mediengespräch unter dem Titel "Tschernobyl: Eine Bilanz aus medizinischer Sicht" durch, an welcher ein Bericht mit dem gleichen Titel vorgestellt wurde.
Als Autor des Papiers zeichnet FME-Präsident Prof. Dr. Dr. h.c. Johannes Th. Locher, langjähriger Chefarzt der Nuklearmedizin der Kantonsspitäler Aarau und Baden.
Für die Arbeit basiert das FME schwergewichtig auf dem Bericht "Human Conséquences of the Chernobyl Nuclear Accident - A Strategy for Recovery", veröffentlicht im Jahr 2002 von einigen UN-Organisationen: UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinigten Nationen), UNICEF (Fonds der Vereinigten Nationen für die Kinder), OCHA (Zentralstelle der Vereinigten Nationen für die Koordination von humanitären Tätigkeiten) und WHO (Weltgesundheitsorganisation).
Das FME schreibt einleitend: "Die Explosion im Kernkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 war eine schreckliche Katastrophe, deren schlimmste Auswirkung die starke radiologische Kontamination von Tausenden von Quadratkilometern Land war, das dadurch für Jahrzehnte unbewohnbar wurde. In einigen Jahrzehnten, wenn sich die Menschen vom Schock erholt haben, werden ihnen die wahren Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe bewusst werden. Aus medizinischer Sicht indessen ist es bereits heute, 17 Jahre nach dem Unglück, möglich, einige wesentliche und statistisch gesicherte Schlussfolgerungen zu ziehen. Diese basieren auf ehrlichen, politisch unvoreingenommenen Berichterstattungen von einer Vielzahl von Forschungsteams aus aller Welt, die laufend in seriösen und wissenschaftlich anerkannten Publikationen der UNO, WHO, UNICEF u.a. veröffentlicht werden. Noch nie ist eine Umweltkatastrophe so intensiv untersucht worden."
Das Ausmass und die Schwere dieser Katastrophe, so das FME, kann mit Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüchen, Erdbeben oder Flutwellen beziehungsweise von Chemiekatastrophen (Bhopal, Seweso u.a.) verglichen werden, und es fährt fort: "Im Fall Tschernobyl allerdings wurde die mythische Angst vor Strahlung von den Medien der ganzen Welt dermassen propagiert, verstärkt und aufrecht erhalten, sodass diese Angst selbst Ursache für Gesundheitsschäden wurde. Öffentlich wird kaum über diese Wahrheit gesprochen; sie wird als Sakrileg empfunden. Später aber dürfte man vielleicht einmal zum Schluss kommen, dass die Angst vor Strahlung mehr Schaden angerichtet hat, als die Strahlung selbst."
Hinsichtlich der strahlungsbedingten Auswirkungen fasst der UNO-Bericht gemäss FME die wesentlichen Fakten wie folgt zusammen: Auf dem Reaktorgelände selbst wurden über 100 Arbeiter und Fachleute so intensiv bestrahlt, dass sie in der Folge unter der Strahlenkrankheit (sogenanntes Strahlensyndrom) litten; etwa 40 von ihnen sind gestorben. Unter der Bevölkerung ausserhalb des Geländes wurde seither einzig eine Zunahme von Schilddrüsenkrebsfällen bei Kindern festgestelltes heute fast 2000 Fälle in der Ukraine und Weissrussland (ca. 70 Mio. Einwohner). Absolut ist dies eine hohe Zahl, relativ zu anderen tödlichen Krankheiten und Ereignissen (zum Beispiel Verkehrsunfälle mit Kindern) ist diese Tumorerkrankung noch immer selten. Unter normalen Umständen (auch in der Schweiz) ist diese Krankheit selten (jährlich 0-2 Fälle pro Mio. Kinder; ca. 30 Fälle pro Mio. bei Erwachsenen); sie ist jedoch in den meisten Fällen heilbar.
Gemäss früheren Erhebungen nach Atombombenabwürfen und nuklearen Unfällen musste man auch in Tschernobyl mit einer Zunahme von Leukämiefällen rechnen, die ihr Maximum jeweils acht bis zehn Jahre nach dem Ereignis hat. Trotz intensiver Nachkontrollen bei den strahlenexponierten Rettungsmannschaften und der evakuierten Bevölkerung konnten die beauftragten Ärzte und Forscher keinen Hinweisfür dieses erwartete Phänomen finden. Da nach den bekannten strahlenbiologischen Gegebenheiten der Zeitpunkt von gehäuften Leukämiefällen - der empfindlichste Indikator für eine strahlenbedingte Spätfolge -verstrichen ist, darf man heute zuversichtlich erwarten, dass auch keine andere Krebsart häufiger werden wird. In der Tat fehlen bis anhin entsprechende Indizien, wie auch Hinweise für vermehrt erfolgte Missgeburten fehlen.
Die Evakuierung von grossen Bevölkerungsgruppen -insbesondere von denjenigen in wenig verstrahlten Gebieten - war gemäss FME nicht gut durchdacht und daher Ursache für zusätzliche Belastungen und Krankheiten. Viele Fälle von psychosomatischen Störungen und weiteren, gehäuft beobachteten Krankheiten (wie angeblich verschiedene Herzkrankheiten, Fettleibigkeit u.a.) sind keine direkte Folge von Bestrahlung, sondern vielmehr Ausdruck einer verfehlten Lebenshaltung und der mangelhaften gesundheitspolitischen Gegebenheiten. Der UNO-Bericht sagt dazu Folgendes: "Die Sterblichkeit in den vom Unfall betroffenen Gebieten entspricht jener, die in bereits bekannten Statistiken der früheren Sowjetunion dokumentiert ist. Die Lebenserwartung - besonders die männliche- liegt hier generell weit unterhalb von westlichen Werten; mit Herzkrankheiten als häufigste Todesursache. Niedrige Einkommen, allgemeine Mutlosigkeit, ungesunde Ernährung und hoher Tabak- und Alkoholkonsum sind noch immer dafür massgebend."
Zur Situation in der Schweiz schreibt das FME: "In unserem Land verurteilen wir die wiederholten Bemühungen der Kernenergie-Gegner, den Tschernobyl-Unfall anhand irreführender medizinischer Behauptungen zu instrumentalisieren. Dieses Ereignis war an sich schon ernst genug und sollte nicht durch falsche Behauptungen aufgebauscht werden. Die bekannten schwerwiegenden Tatsachen, wie die unbestrittene Häufung von Schilddrüsenkrebs bei Kindern oder die existenzbedrohenden Evakuierungsfolgen, müssen wir mit Respekt vor den Betroffenen zur Kenntnis nehmen. Gleichzeitig aber sind alle Behauptungen über gehäufte Leukämiefälle und Fehlgeburten als Erfindungen zu bestreiten."
Abschliessend schreibt das FME: "Wir verstehen wohl, dass der Tschernobyl-Unfall in der Auseinandersetzung um die Kernenergie diskutiert werden soll und muss, aber nur auf der Basis von soliden wissenschaftlichen und medizinischen Fakten. Propaganda und übertriebene Behauptungen müssen als solche erkannt und zurückgewiesen werden. Ärzte und Bundesstellen (Gesundheitsämter und nukleare Aufsichtsbehörde) wissen längst, dass ausser dem gehäuften Auftreten von kindlichem Schilddrüsenkrebs glücklicherweise keine weiteren, direkt strahlenbedingten Krankheiten registriert worden sind. Die international breit abgestützten, seit 17 Jahren durchgeführten wissenschaftlichen und medizinischen Untersuchungen nach dem Tschernobyl-Unglück haben die früheren Annahmen und die ständig verfeinerten Richtlinien der seit 1928 tätigen 'Internationalen Strahlungsschutz-Kommission' bestätigt. Der Unfall hat das Leben von grossen Bevölkerungsgruppen massiv zerrüttet, insbesondere durch Evakuierung, Arbeitslosigkeit und tiefgreifende Unsicherheiten. Die Angst vor der Strahlung hat dazu, wenn auch nicht direkt, aber sicher indirekt beigetragen."
Quelle
H.R. nach FME, Bericht "Tschernobyl: Eine Bilanz aus medizinischer Sicht" vom 10. Februar 2003