Vor der Uno-Klimakonferenz in Kopenhagen: Wie viel Kernkraft bedarf die Welt?
Wie viele Kernkraftwerke werden in zwanzig Jahren global benötigt, um einerseits den wachsenden Strombedarf zu decken und andererseits den Ausstoss des Treibhausgases Kohlendioxid zu verringern? Diese Frage ist vor der Uno-Klimakonferenz in Kopenhagen, die vom 7. bis 18. Dezember 2009 stattfindet, dringender denn je.
«Die Kernenergie ist eine Lösung für das Problem des Klimawandels», meint Rajendra K. Pachauri, Präsident des in Genf ansässigen Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – oft auch als Weltklimarat bezeichnet. Die nukleare Stromerzeugung sei eine grüne Technologie. Er fügte an einer Konferenz in Manila Mitte Jahr die wohl unbestrittene Bedingung an, dass aufgrund des Know-hows und Sicherheitsstandards diese Technologie nicht für jedes Land auf dieser Welt geeignet sei.
An der Uno-Klimakonferenz in Kopenhagen stehen Strategien zur Senkung der Treibhausgase im Zentrum, um die globale Erwärmung einzudämmen. Bereits im Vorfeld wird um ein ambitioniertes Kyoto-Folgeabkommen mit verbindlichen Reduktionszielen für das Klimagas gerungen.
Siemens prognostiziert 400 neue Reaktoren
Vertreter der Wirtschaft verzichten an sich gerne auf klare Stellungnahmen, wenn diese eine gewisse politische Brisanz besitzen. Für Peter Löscher, Chef von Siemens, gibt es jedoch keinen Zweifel: «Wir sehen die Kernenergie als weltweiten Wachstumsmarkt, an dem wir teilhaben wollen.» Der Konzern hat sich Umweltschutz auf die Fahne geschrieben und für Löscher schliessen sich Atomstrom und grüne Technologie nicht aus. Peter Löscher in einem Interview gegenüber der Zeitung «Die Welt»: «Um den Klimaschutz zu verbessern, brauchen wir einen breiten Energiemix.» Siemens bilde als einziges Unternehmen weltweit die gesamte Energiekette ab. «Wir sind in Solar- und Windenergie engagiert, in Biomasse, bei Gas- und Dampfturbinen, bei Kohlekraftwerken sowie der Kernenergie.» Der Klimawandel sei die wohl grösste und anspruchsvollste Herausforderung, vor der die Menschheit heute stehe. Siemens beschäftigt 430 000 Menschen und setzt CHF 117 Mrd. um (Zahlen 2008).
Die Analysten von Siemens gehen von einer Verdoppelung des globalen Strombedarfes bis ins Jahr 2030 aus. Dabei sollte der Anteil der Kernenergie an der gesamten Stromproduktion (Anteil von rund 15%) – wie übrigens auch jener der Wasserkraft – stabil bleiben. Mit Berücksichtigung des gesamten Primärenergieverbrauchs werde der Anteil des Nuklearstroms von 6 auf 7% wachsen.
Weltweit würden bis zum Jahr 2030 rund 400 Atomkraftwerke im Gesamtwert von EUR 1000 Mrd. (CHF 1510 Mrd.) gebaut, so Siemens-Chef Peter Löscher. Siemens kündigte eine Allianz mit Russlands Staatskonzern Rosatom an. Das Joint Venture soll zum Weltmarktführer beim Kernkraftwerkbau aufsteigen. Dem Gemeinschaftsunternehmen eröffnen sich zudem neue Geschäftsfelder wie die Modernisierung von Kraftwerken.
Der World Energy Outlook 2009
Gemäss dem Referenz-Szenario des World Energy Outlook 2009 der Internationalen Energie-Agentur (IEA), das von der Fortsetzung des aktuellen Trends ausgeht, würde die nuklearen Stromproduktion bis ins Jahr 2030 um rund 250 Millionen Tonnen Erdölequivalent (Mtoe) ausgeweitet, das entspricht knapp 1000 TWh. Zum Vergleich: Die Wasserkraft würde demnach die Produktion um 125 Mtoe steigern. Erneuerbare Energien (ohne Biomasse/Holz) kämen auf eine Ausweitung der Produktion um 300 Mtoe.
Der IEA-Chef-Ökonom Fatih Birol hatte unlängst ein drastisches Massnahmen-Programm erarbeitet, das unter den Staaten immer mehr Anhänger findet und auch an der Weltklimakonferenz in Kopenhagen zentral ist. Demnach soll die CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre langfristig auf 450 ppm (parts per million) begrenzt werden. Damit könnte eine Erderwärmung bis Mitte des Jahrhunderts unter zwei Grad gehalten werden. Ohne Massnahmen würde die Erderwärmung sechs Grad Celsius betragen.
Dieses äusserst ehrgeizige 450-(ppm)-Szenario, das den CO2-Ausstoss unter den aktuellen Stand vermindern möchte, würde allerdings eine Steigerung der Atomstromproduktion um rund 2750 TWh bedürfen. Im Jahr 2030 dürfte demnach der Anteil der Kernenergie an der weltweiten Stromproduktion 18% betragen (heute 15%). Eine mit der Kernenergie vergleichbare Steigerung müssten auch die Wasserkraft, die Windenergie und die übrigen erneuerbaren Energien vollziehen. Die CO2-arme Produktion von Strom müsste global von heute einem Drittel auf 60% im Jahr 2030 steigen, wie Analysten anlässlich der Präsentation des Energy Outlook 2009 ausführten. Der Grossteil der Reduktion von Kohlenstoffdioxid (gegenüber dem Referenz-Szenario) geht auf das Konto der Effizienzsteigerung: 65% (2020) bzw. 57% (2030). Der Beitrag der erneuerbaren Energien wird auf rund ein Fünftel geschätzt; der Beitrag der Kernenergie auf 13% (2020) und 10% (2030). In zwanzig Jahren wird von den künftigen CCS-Kohlekraftwerken, die Kohlenstoffdioxid nicht mehr in die Luft abgeben, ebenfalls ein entscheidender Beitrag erwartet (10%).
52 Kernkraftwerke sind im Bau
Derzeit sind 441 Kernkraftwerke in Betrieb (www.nuclearplanet.ch). Die USA, Frankreich und Japan betreiben weltweit am meisten Kernkraftwerke. Im Bau sind 52 Anlagen (Stichtag: 30. November 2009). Die Emerging Markets, welche in den nächsten Jahrzehnten einen enormen Strombedarf haben, haben die Nase vorn. In China sind laut nuclearplanet 17, in Russland 9 und in Indien 6 Anlagen im Bau; insgesamt 30 Baustellen befinden sich in Asien, Osteuropa und Mittleren Osten. An der Fertigstellung dieser Projekte besteht kaum Zweifel.
Laut dem nuclearplanet sind über 100 Kernkraftwerke in Planung. Diese Liste wird angeführt von China (35 Anlagen), gefolgt von den USA (22), Japan (12) und Russland (7). Mehrere Einheiten projektiert oder angekündigt haben ferner Grossbritannien, Indien und Südkorea. Selbstverständlich bedeutet ein angekündigtes Projekt noch nicht, dass dieses auch realisiert wird. So sind in der Schweiz drei Projekte eingereicht; es ist jedoch unwahrscheinlich, dass alle drei Projekte tatsächlich realisiert werden. Auch im Ausland würden längst nicht alle angekündigten Projekte innert nützlicher Frist vollendet, wird verschiedentlich kritisch bemerkt. Allerdings konzentriert sich der aktuelle und künftige Ausbau der Kernkraft auf Schwellenländer, welche zum einen mit hoher Dringlichkeit die Projekte vorantreiben und in welchen es zum anderen kaum politische Opposition gibt. Ferner wird in einigen Schätzungen vernachlässigt, dass in den nächsten Jahren wahrscheinlich eine Vielzahl weiterer Projekte angekündigt wird.
Aufgrund der Altersstruktur der Kernkraftwerke ist ein sprunghafter Anstieg der Inbetriebnahmen notwendig, nur schon, um die aktuell installierte Leistung zu erhalten. Die Gesamt-Bruttoleistung der Anlagen betrug Anfang 2009 rund 375 GW. Gemäss der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) sollten die Inbetriebnahmen rasch auf über 30 im Jahr 2020 ansteigen. Im Hinblick auf den Klimaschutz relevant: Die Kernkraftwerke haben im vergangenen Jahr 2,43 Mrd. Tonnen Kohlendioxid-Emissionen vermieden – dies entspricht rund 8% der derzeit jährlichen weltweiten Emissionen.
Uran-Förderer will Produktion massiv ausweiten
Die Bankanalysten, welche die Aktien der Kernenergie-Industrie sowie den Markt des nuklearen Brennstoffs beurteilen, nehmen im Rahmen ihrer Einschätzungen und Projektionen regelmässig Bezug auf die internationalen Organisationen IAEO und IEA. Insbesondere die Internationale Energieagentur (IEA) geniesst innerhalb der Bankanalysten und der Marktakteure eine sehr hohe Reputation. Publikationen der IEA bewegen die Kurse an den Aktien- und Rohstoffbörsen. So haben auch die Ausführungen zur Gasproduktion im neuesten Energy Outlook 2009 einen Einfluss auf die Gas-Spotmärkte.
Für Aufsehen sorgte eine von der Wirtschaftsnachrichten-Agentur Bloomberg verbreitete Meldung, dass Cameco – der zweitgrösste Uranförderer der Welt – die Uranproduktion bis ins Jahr 2018 verdoppeln wolle. Dabei sieht Cameco ein Wachstum nicht nur durch Zukäufe bzw. im Rahmen der Konsolidierung des Marktes, sondern ebenso dank organischem Wachstum; sprich einem erhöhten Fördervolumen. Cameco-CEO Jerry Grandey rechnet mit einer zusätzlichen Nachfrage nach Uran von 2–3% pro Jahr. Grandey verweist auf den rasant steigenden Bedarf in China.
Japan Steel Works, ein Zulieferer von Areva und Toshiba, hat die Prognose für China massiv nach oben geschraubt. Mittelfristig werde mit dem Bau von 136 neuen Kernkraftwerken begonnen; die rund 20 Reaktorneubauten bis Ende 2010 nicht eingerechnet. Ikuo Sato, Präsident von Japan Steel Works, war vor einem Jahr noch von 60 Neubauten ausgegangen. Neben dem steigenden Bedarf begründet Sato diesen einzigartigen Bauboom mit dem Konjunkturpaket sowie dem forcierten Engagement für saubere Energie.
Fazit
Es ist offensichtlich: In den Emerging Markets wird der Bau von Reaktoren rasch vorangetrieben. Und in den kommenden Jahren ist mit einer Vielzahl neuer Projekte zu rechnen. In einigen Szenarien wird die politische Dringlichkeit der Reduktion der Kohlenstoffdioxid-Emissionen vermutlich unterschätzt. Am Uno-Klimagipfel in Kopenhagen werden wohl neue Pflöcke eingeschlagen – trotz Finanzkrise, oder gerade wegen der Finanzkrise. Die Bedarfsanalyse und die neue Energiepolitik lassen ein Revival der Kernenergie als wahrscheinlich erachten.
Quelle
Hans Peter Arnold, Wirtschaftspublizist