Wer gewinnt?

Die Frage "Wer gewinnt?" steht heute, drei Wochen vor der Abstimmung über die beiden Volksinitiativen "Moratorium plus" und "Strom ohne Atom" (Bulletin 7-8/1998), für Befürworter und Gegner der Kernenergie wie auch für Neutrale im Vordergrund des Interesses.

29. Apr. 2003

Werden Volk und Stände den besonnenen Aufrufen folgen, den bewährten, umweltfreundlichen und kostengünstigen Schweizer Strom-Mix mit 60 Prozent Wasserkraft und 40 Prozent Kernenergie beizubehalten und die zwei Ausstiegsinitiativen abzulehnen, da kein realistischer Ersatz für die Kernkraftwerke Beznau, Mühleberg, Gösgen und Leibstadt zur Verfügung steht? Oder werden die Initianten obsiegen, welche die Kernenergie am liebsten subito als historische Episode entsorgen möchten? Die Antwort werden wir natürlich erst nach Ermittlung der Abstimmungsresultate vom 18. Mai kennen, an dem die Stimmbürger über die Rekordzahl von neun eidgenössischen Vorlagen zu befinden haben, nämlich über: Armee XXI, Bevölkerungsschutz und Zivilschutz, Initiative "Ja zu fairen Mieten", "Sonntags-Initiative", "Gesundheitsinitiative", Initiative "Gleiche Rechte für Behinderte", Initiative "Strom ohne Atom", Initiative "Moratorium plus" und "Lehrstellen-Initiative". Trotzdem darf überlegt werden, welche Faktoren aus heutiger Sicht das Ergebnis an der Urne bestimmen dürften.
Zunächst ist festzustellen, dass die Kernenergie an sich seit Jahren und auch weiterhin in der Schweiz nicht (mehr) ein Thema von riesigem öffentlichem Interesse und auch kein Stichwort mit grosser Mobilisierungskraft ist. Das war seit geraumer Zeit an der untergeordneten Rolle von Atomenergiethemen in den Medien zu erkennen. Die meist sehr bescheidenen Teilnehmerzahlen an öffentlichen Veranstaltungen in der laufenden Abstimmungskampagne bestätigen dies. Allerdings - das versteht sich von selbst - zieht die Präsenz des Themas Kernenergie in der gedruckten Presse vor dem Urnengang drastisch an, allenfalls etwas gedämpft durch die Vielfalt anderer Abstimmungsgegenstände. Gleichwohl ist schwer vorauszusehen, wie gut sich die Stimmbürger der verschiedenen Lager zur Teilnahme am Urnengang mobilisieren lassen.
Weiter ist bemerkenswert, dass heute wiederum normal über Kernenergie diskutiert werden kann -was in der völlig polarisierten, ja vergifteten Atmosphäre vor dem Moratorium 1990-2000 jahrelang nicht mehr möglich war. Die Ruhe während des Moratoriums hat anscheinend die Gemüter nachhaltig abgekühlt und dem Austausch von Gehässigkeiten und der Angstmache den Resonanzboden etwas entzogen. Das Moratorium 1990-2000 hat in der Tat bewirkt, dass heute eine etwas lockerere und offenere Dialogkultur die Kernenergiedebatte prägt, als dies im Zeitabschnitt von der Kaiseraugst-Besetzung 1975 bis zur Moratoriums-Abstimmung 1990, mit den dazwischenliegenden Atom-Abstimmungen von 1979 und 1984, der Fall war. Wie weit sich dieser Fortschritt - die wahrnehmbare Präsenz einer dialogbereiten Bevölkerungsschicht - allenfalls sogar in der intensiven Kontroverse einer Abstimmungskampagne aufrecht erhalten lässt, werden die nächsten Wochen zeigen.
Seit der letzten Atom-Abstimmung 1990 haben die Schweizer Kernkraftwerke ihre Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit durch einen durchgehend klaglosen Betrieb erneut bestätigt. Mindestens teilweise wurde dies von der Öffentlichkeit auch registriert. Fraglich ist hingegen, wie weit die Tatsache ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen ist, dass die Kernkraftwerke einen sehr erheblichen Beitrag zur Dämpfung des gesamtschweizerischen CO2-Ausstosses leisten. Bei Wegfall dieses 40-Prozent-Beitrags zum CO2-freien Schweizer Strommix und seinem Ersatz durch Strom aus Gas-Kombi-Kraftwerken würden die zusätzlichen CO2-Emissionen die Anstrengungen zum Erreichen der Kyoto-Ziele zunichte machen und die im CO2-Gesetz vorgesehenen CO2-Abgaben in die Höhe treiben. Der bei Reduktion des Kernenergie-Beitrags nötige Einsatz von Erdgas für die Stromproduktion Messe sich nicht einfach durch Einsparungen in Bereichen ausserhalb der Stromproduktion kompensieren, wo Wirtschaft und Haushalte realistischerweise noch lange auf die fossilen Brenn- und Treibstoffe angewiesen sind. Für die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft und besonders für die Überlebenskraft der kleinen und mittleren Unternehmen ist die Verhinderung vermeidbarer CO2-Abgaben und damit der weitere Einsatz der Kernenergie vital. Wie SVA-Präsident Dr. Bruno Pellaud an der Generalversammlung 2002 erläuterte, hält so die Kernenergie der Wirtschaft den Rücken frei. Folgerichtig engagieren sich denn die grossen Wirtschaftsorganisationen, vorab die Economiesuisse und der Schweizerische Gewerbeverband, vehement gegen die beiden Ausstiegsinitiativen. Ihre Begründung für dieses Engagement lautet klipp und klar, die Ablehnung des unrealistischen, teuren und falschen Ausstiegs liege nicht einfach im Interesse der Kernenergie- und Elektrizitätswirtschaft, sondern das zweifache Nein zu den Initiativen "Moratorium plus" und "Strom ohne Atom" sei ein Anliegen der Gesamtwirtschaft. Ob diese Botschaft die Stimmenden erreicht?
Neben dem sicheren, zuverlässigen Betrieb der Kernkraftwerke konzentrierte sich die Schweizer Kernenergie seit 1990 auf die Arbeiten an der Lösung der Entsorgungsaufgabe. Das im Urteil der Fachwelt und namentlich der Sicherheitsbehörden technisch zur Weiterverfolgung geeignete Projekt für die Langzeitlagerung schwachradioaktiver und kurzlebiger mittelradioaktiver Abfälle am Nidwaldner Wellenberg scheiterte politisch in den kantonalen Volksabstimmungen von 1995 und 2002. Der seit 1990 erzielte "Fortschritt" auf dem Weg zur Lösung der Entsorgungsaufgabe besteht damit in der klaren Einsicht, dass der Ball für die Realisierung von technisch einwandfreien konkreten Entsorgungsprojekten nicht bei der Technik, sondern bei der Politik liegt. Erste Ansätze für praktikable Bewilligungsverfahren und für nicht zwangsläufig auf Verhinderung angelegte Mitwirkungsmechanismen der betroffenen Gemeinwesen sind im Entwurf des Parlaments für das neue Kernenergiegesetz vorgezeichnet. Trotzdem dürfte die sachlich falsche dialektische Lieblingsbehauptung der Kernenergiegegner, die Entsorgung der radioaktiven Abfälle sei nicht gelöst bzw. grundsätzlich nicht lösbar, nicht wenige Mitbürger weiterhin verunsichern und von einem zweifachen Nein zu den Initiativen abhalten. Es ist nämlich kaum anzunehmen, dass die Unehrlichkeit der Verweigerungshaltung der Protestindustrie gegen jeden konkreten Entsorgungsfortschritt von der breiten Öffentlichkeit als verantwortungslose politische Erpressung erkannt wird. Immerhin brachte die laufende Abstimmungskontroverse für den aufmerksamen Beobachter in diesem Punkt eine deutliche Klärung. Ein bekannter Basler Exponent des Vereins "Strom ohne Atom" gab in der Basler Zeitung vom 16. April 2003 entlarvend zu Protokoll: "Wir halten es für überheblich zu behaupten, man könne diese Substanzen mit Sicherheit eine Million Jahre von der Biosphäre fernhalten. Dennoch sind wir bereit, zu einer Lösung beizutragen. Aber wenn eine Badewanne überläuft, dann stellt man zuerst das Wasser ab. Deshalb wollen wir zuerst eine Befristung der Betriebszeit der Werke als Voraussetzung für einen Konsens in der Endlagerfrage. Ferner wollen wir die dauernde Überwachung und die Rückholbarkeit im Gesetz garantiert haben. Wenn die Atomlobby in diesen Punkten nachgeben würde, bin ich zuversichtlich, dass wir auch einen Standort finden werden."
Kein Fortschritt seit 1990 ist leider bei der ideologischen Zuspitzung des Streits über die Kernenergie zu verzeichnen. Nach wie vor ist der Kampf für eine so genannte Energiewende eine partei- und wahlpolitisch nutzbare und genutzte Plattform. Dabei schliesst der Katechismus der "Energiewende" den unversöhnlichen Gegensatz zwischen der Kernenergie und den neuen erneuerbaren Energien sowie einer rationellen Energienutzung als Dogma mit ein - was zum Beispiel auch die ursprünglich aus ökologischen Gründen pronuklearen ostdeutschen Grünen nach der Wende in ihr Weltbild hinein korrigieren mussten. Sachlich gibt es für diesen Gegensatz keine Gründe. Die Atomenergie-Fachwelt signalisierte ihre Vision schon vor bald 25 Jahren mit dem Slogan "Sonne und Kernenergie - unsere Zukunft". Er steht im Einklang mit der Tatsache, dass auf absehbare Zeit ein reales Gesamtsystem aller rationell zu nutzenden Energien mit Kernenergie nachhaltiger ist als ohne Kernenergie - unter dem anspruchsvollen, aber selbstverständlichen Vorbehalt einer sorgfältigen und verantwortungsbewussten Handhabung.
Ebenfalls unverändert gegenüber der Zeit vor 1990 ist das Spiel der Initianten mit den Potenzialen von Ersatzenergien und Sparmassnahmen, welche die Kernenergie angeblich überflüssig machen sollen. Wie vor 25 Jahren wird mit Sonnen- und Windenergie, Biomasse, Holz, Erdwärme und so weiter gefochten, es werden Tatsachen, Auslassungen und Träume über Kilowattstundenpreise vermischt sowie ein heilloses Durcheinander mit "Strom" und "Energie" angerichtet. Als Ergebnis dieses Langzeit-Verwirrspiels hat sich in vielen Köpfen der Irrtum eingenistet, der Ersatz unserer 40 Prozent Atomstrom sei nur eine Frage des politischen Willens und der technischen Kreativität, die man endlich, endlich ernsthaft fördern sollte. Dass seit Jahrzehnten national und international sehr erhebliche finanzielle Mittel in die Entwicklung von Alternativen investiert werden, wird dabei unter den Tisch gewischt. So ist dem Schweizer Publikum zwar bekannt, dass in Deutschland ein eindrücklicher Ausbau der Windstromproduktion vorangetrieben wird. Nicht bekannt ist, dass jeder der in diesem Boom in der deutschen Windbranche geschaffenen rund 40'000 Arbeitsplätze im Durchschnitt mit rund 25'000 Euro pro Jahr - umgerechnet fast 40'000 Schweizerfranken pro Jahr - gefördert wird. Das Schweizer Zerrbild, angereichert durch eine systematische Unterschätzung der volkswirtschaftlichen Mehrkosten namentlich im Fall einer Annahme der Initiative "Moratorium plus", wird teilweise durch sachlich unhaltbare Äusserungen von Bundesstellen verstärkt - ein Novum gegenüber der Zeit vor dem Moratorium 1990-2000.
"Moratorium plus" ist, anständig ausgedrückt, eine sehr raffinierte Vorlage. Nennt man das Kind beim Namen und verfolgt man die Aussagen der Initianten, ist sie als Mogelpackung, ja als perfid, zu qualifizieren. Mit dem Namen "Moratorium plus" wird suggeriert - und von den Medien intensiv kolportiert -, es gehe um die Verlängerung des Moratoriums 1990-2000, das für jene 10 Jahre ein Bewilligungsverbot für neue Kernkraftwerke in der Bundesverfassung festschrieb, das aber die bestehenden Kernkraftwerke in keiner Weise berührte. Mit diesem "alten" Moratorium konnten alle leben, ja es schaffte willkommene Ruhe um das leidige Atom-Thema. In der Tat verlangt "Moratorium plus" in den Übergangsbestimmungen eine entsprechende Bewilligungspause für neue Anlagen. Die Hauptforderung der Initiative "Moratorium plus" verlangt aber für den Betrieb der bestehenden Werke über 40 Jahre hinaus alle zehn Jahre einen referendumspflichtigen Bundesbeschluss - ein äusserst massiver Eingriff in die unternehmerische Verantwortung der Betreiber. Bei einer Referendumsabstimmung ist nach den Regeln der Demokratie auch mit einem Nein zu rechnen. Die Initiative "Moratorium plus" widerspricht dem langfristigen Kernkraftwerks-Sicherheitsdenken. Sie verfügt eine politisch motivierte Planungsunsicherheit und verunmöglicht so praktisch die aufwändige Vorbereitung des Betriebs für die sicherheitstechnisch möglichen 50 (Beznau, Mühleberg) bzw. 60 (Gösgen, Leibstadt) oder mehr Jahre. Wer wie die Initianten behauptet, "Moratorium plus" sei kein Ausstieg, nimmt die direkte Demokratie nicht ernst. Zudem verlangt die Initiative "Moratorium plus" mit dem Referendum für den Betrieb jedes unserer fünf Kernkraftwerke über 40 Jahre hinaus einen jahrzehntelangen Atom-Abstimmungsmarathon. Alle paar Jahre würde der leidige Streit um die Kernenergie neu entfacht und müsste an der Urne ausgetragen werden. Das ist genau das Gegenteil der politischen Ruhe, die das bekannte Moratorium von 1990-2000 ermöglichte.
Es bleibt also zu sehen, ob das Schweizer Volk das üble Spiel durchschaut, oder ob der falsche Anschein des wilkommenen Kompromisses, welcher der Ausstiegs-Initiative mit dem unehrlichen, irreführenden Namen "Moratorium plus" anhaftet, den Initianten zu einem ertragenen Sieg verhilft. In diesem Fall wären zur Titelfrage "Wer gewinnt?" als grosse -wohl ungewollte ... - Sieger die fossilen Energien, vorab das Erdgas, sowie die ausländischen Stromexporteure anzuführen, die zur Hauptsache in die Lücke zu springen hätten. Es gäbe aber auch eine Anzahl kleine Gewinner, nicht zuletzt einige Energiebüros aus dem Kreis der Initianten, die mittels der verstärkten Förderung der diversen alternativen Produktionsbeiträge und anderer Programme wachsen müssten.
Bundesrat Moritz Leuenberger, unser Energieminister, hat sich mit seiner kaum verhohlenen Sympathie gegenüber "Moratorium plus" in Widerspruch zum Bundesratskollegium und auch zu sich selbst manövriert. So sagte er der Tageszeitung "Der Bund" vom 24. April 2003: "Die Moratorium-plus-lnitiative will einen geordneten Ausstieg. Dieser wäre mit einem relativ einschneidenden Energiesparprogramm mit den entsprechenden Eingriffen in die kantonale Autonomie verbunden. Zum anderen müssten die erneuerbaren Energien so gefördert werden, dass es eben kostet. Wir müssten eine Förderabgabe erheben. Die politische Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt indessen, dass sich dafür kaum eine Mehrheit finden liesse. Müsste aufgrund einer solchen Verweigerung ausländischer Atomstrom importiert werden, dann wäre das unehrlich." Fast sieht es so aus, als wäre Bundesrat Leuenberger bei jedem Abstimmungsergebnis zugleich Sieger und Verlierer. Jedenfalls spricht seine klare Analyse an sich eindeutig für ein kräftiges zweifaches Nein zu "Moratorium plus" und "Strom ohne Atom", wie es der Gesamtbundesrat den Stimmbürgern empfiehlt. Es versteht sich von selbst, dass die SVA diese Empfehlung mit Nachdruck unterstützt.

Quelle

P.H.

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