Die Rolle der Kernenergie in der Dekarbonisierung

Interview mit Dr. Henri Paillère, Leiter Planning and Economic Studies Section der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) (Teil 1)

Das Nuklearforum Schweiz hat mit Henri Paillère von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) über die Rolle und die Zukunft der Kernenergie bei der Stromerzeugung weltweit, über die Wichtigkeit der Diversifizierung und über die vielseitigen Tätigkeiten der IAEO gesprochen. SMRs werden dabei an Bedeutung gewinnen.

31. Jan. 2023
Kwaku Afriyie und Hua Liu
Kwaku Afriyie, Minister für Umwelt, Wissenschaft, Technologie und Innovation von Ghana, und Hua Liu, stellvertretender Generaldirektor der IAEO und Leiter der Abteilung für Technische Zusammenarbeit, bei der Unterzeichnung des Country Programme Framework (CPF) für Ghana. Ein CPF ist der Referenzrahmen für die mittelfristige Planung der technischen Zusammenarbeit zwischen einem Mitgliedstaat und der IAEO. Ziel eines CPF ist, vorrangige Bereiche zu ermitteln, in denen der Transfer von Kerntechnologie und der Einsatz von Ressourcen der technischen Zusammenarbeit zur Unterstützung nationaler Entwicklungsziele erfolgt.
Quelle: Omar Yusuf / IEAO

Viele Länder beabsichtigen, ihre Wirtschaft, ihren Energie- und ihren Verkehrssektor zu dekarbonisieren. Welche Rolle spielt dabei die Kernenergie bzw. welche Rolle kann sie spielen?
Zunächst möchte ich daran erinnern, dass der Energiesektor eine der Hauptquellen für Treibhausgasemissionen ist. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur ist der Energiesektor für etwa drei Viertel der gesamten Treibhausgasemissionen weltweit verantwortlich. Von den 198 Unterzeichnerstaaten des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) haben 194 auch das Pariser Abkommen unterzeichnet. Ich denke also, dass eine überwältigende Mehrheit der Länder die Absicht hat, ihr Energiesystem zu dekarbonisieren. Wie sie das machen wollen, ist vielleicht der schwierigste Teil des Problems. Klar ist jedoch, dass man zur Dekarbonisierung des Energiesektors zuerst den Stromsektor dekarbonisieren muss, denn der Stromsektor wird trotz aller Bemühungen der letzten zwei bis drei Jahrzehnte immer noch von fossilen Brennstoffen dominiert. 62% der weltweiten Stromerzeugung erfolgt immer noch mit fossilen Brennstoffen.

Die erste Priorität besteht also darin, den Stromsektor zu dekarbonisieren und die Wirtschaft so weit wie möglich zu elektrifizieren, zum Beispiel den Verkehr, die Heizung und Kühlung von Gebäuden und einige industrielle Prozesse. Nicht alle Sektoren können elektrifiziert werden und es gibt solche, für die es spezielle Technologien und vielleicht alternative kohlenstoffarme Brennstoffe wie Wasserstoff braucht. Auch einige industrielle Anwendungen wie das Herstellen von Zement und Stahl, aber auch der Schwerlastverkehr, der Seeverkehr und der Luftverkehr werden andere kohlenstoffarme Kraftstoffe oder Elektrizität benötigen.

Der Anteil der Kernenergie an der weltweiten Stromerzeugung liegt bei knapp 10%. Sie liefert etwas mehr als ein Viertel der gesamten kohlenstoffarmen Elektrizität. In den Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist Kernenergie immer noch die grösste Quelle für kohlenstoffarmen Strom und sie liegt weltweit an zweiter Stelle hinter der Wasserkraft. Dies, obwohl der Beitrag der gesamten nuklearen Stromerzeugung im letzten Jahrzehnt nicht wirklich signifikant gestiegen ist. Klar ist auch, dass wir für die Dekarbonisierung unserer Volkswirtschaften bis zur Mitte des Jahrhunderts riesige Mengen an sauberem Strom benötigen werden. Der Strombedarf wird sich verdoppeln oder noch mehr steigen und es werden zudem riesige Mengen an Wasserstoff benötigt. Einige politische Entscheidungsträger und Länder glauben, dass dies allein mit erneuerbaren Energien und Energiespeicherung erreicht werden kann. Immer mehr Experten sagen aber, dass es schwierig ist, dies allein mit erneuerbaren Energien zu erreichen, und dass wir für Netto-Null höchstwahrscheinlich alle kohlenstoffarmen Energiequellen benötigen werden, einschliesslich der Kernenergie. Dr. Fatih Birol, der Leiter der Internationalen Energieagentur, hat in den letzten Jahren mehrfach betont, dass die Energiewende ohne Kernenergie viel schwieriger und kostspieliger wird.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, dessen sich die politischen Entscheidungsträger bewusst sein sollten, ist, dass es auch riskanter wäre, die Energiewende nur mit erneuerbaren Energien anzugehen. Dann ist da noch die Frage der kritischen Rohstoffe wie Silizium und Kupfer, die für Fotovoltaik, Windkraft, Batterien usw. benötigt werden. Diese Mineralien kommen nur in begrenztem Mass vor und sie werden nicht unbedingt auf die umweltfreundlichste Weise abgebaut und verarbeitet. Einer der Vorteile der Kernenergie ist, dass sie von den kohlenstoffarmen Technologien den geringsten Bedarf an diesen kritischen Rohstoffen aufweist. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Flächennutzung: Für die Nutzung von Wind- und Solarenergie wird viel Land benötigt, wohingegen die Kernenergie eine so dichte Energiequelle ist, dass sie nur sehr wenig Fläche beansprucht.

Und dann sind da noch die Kosten: Wir haben gesehen, dass die Kosten für Fotovoltaik und Windenergie in den letzten zehn Jahren erheblich gesunken sind, sodass die reinen Gestehungskosten in einem Solarkraftwerk oder Windpark sicherlich niedriger sind als für Strom aus einem neuen Kernkraftwerk. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte, denn es kommt stark darauf an, wie man all seine kohlenstoffarmen Quellen in sein Energiesystem integriert. Die Systemkosten müssen ebenfalls berücksichtigt werden: die Netzkosten und Kosten für die notwendige Regelleistung mit dem Bereithalten von Reservekraftwerken aufgrund der variablen/fluktuierenden Stromerzeugung der erneuerbaren Energien. Kernkraftwerke produzieren hingegen zuverlässig und vorhersagbar praktisch das ganze Jahr über – Tag und Nacht – Grundlast und tragen zur Stabilität des Stromnetzes bei. So können Kernkraftwerke durch einen flexiblen Betrieb oder im Lastfolgebetrieb ihre Produktion an die schwankende Stromnachfrage oder an die fluktuierende Stromerzeugung der erneuerbaren Energien anpassen. In einem System nur mit erneuerbaren Energien muss man neue erneuerbare Energien übermässig ausbauen, man braucht Energiespeicher und Technologien, die Flexibilität bieten. In der Vollkostenrechnung wird dieses System teurer sein als ein System mit weniger erneuerbaren Energien, dafür aber mit kohlenstoffarmer Grundlasterzeugung aus Kern- oder Wasserkraft.

Sie haben das Konzept einer ausschliesslich aus erneuerbaren Energien bestehenden Stromversorgung erwähnt. Die Befürworter von 100% erneuerbaren Energien sind meist gegen die Kernenergie. Welche weiteren Nachteile neben hohen Kosten hat ein solches System? Und halten Sie ein Stromsystem ohne Grundlasterzeugung überhaupt für machbar?
Für die benötigte Strommenge, vor allem, wenn auch Wasserstoff aus erneuerbaren Energien erzeugt werden soll, braucht man riesige Mengen an Wind- und Solarenergie. Ein solches System benötigt viel Land, Beton, Stahl und kritische Rohstoffe.

Ob es ohne Grundlast machbar ist oder nicht: Als Ingenieur bin ich immer an neuen Entwicklungen und Innovationen interessiert, wie zum Beispiel der virtuellen Schwungmasse, die die Trägheit grosser Wärmekraftwerke wie Kernkraft oder Kohle im System ersetzen könnte. Ich verstehe, dass es Fortschritte gibt, aber ich denke, dass es für Länder mit einer energieintensiven Wirtschaft, die rund um die Uhr zuverlässige Energie benötigt, trotzdem sinnvoll ist, Grundlastkraftwerke im System zu haben.

Eine Randbemerkung: Die IAEO ist bestrebt, einige Länder in Afrika als Mitglieder zu gewinnen, welche in die Kernenergie einsteigen oder diese als Option in Betracht ziehen. Einer der Bewegründe dazu, die in der Diskussion mit diesen Ländern auftauchten, war eine zuverlässige Grundlastversorgung, um die Industrie und Wirtschaft mit Strom zu versorgen. Ich halte es für sehr wichtig, diese saubere Grundlast mit der Idee zu verbinden, damit eine zuverlässige Wirtschaft und industrielle Dienstleistungen usw. zu ermöglichen.

Was wir seit über einem Jahr aufgrund der Energiekrise in Europa sagen, ist, dass es eine Wiederentdeckung der Eigenschaften gibt, welche die Kernenergie in den 1970er-Jahren zu einer attraktiven Option machten: Versorgungssicherheit und stabile Produktionskosten. Damit will ich nicht sagen, dass die Kernenergie unbedingt billig ist, aber zumindest sind ihre Produktionskosten über die Zeit stabil. Sie hängen nicht so sehr von den Brennstoffpreisen usw. ab. Die politischen Entscheidungsträger entdecken also diese Eigenschaften der Kernenergie wieder, und das ist auch der Grund für das neue Interesse an der Kernenergie.

Auf der anderen Seite will Deutschland alle seine Kernkraftwerke abschalten. Gleichzeitig werden jedoch stillgelegte kostenintensive Kohlekraftwerke wieder in Betrieb genommen, um den Mangel an Gas auszugleichen. Und die Behörden reden auf höchster Ebene immer noch von der Kernenergie als einer Hochrisikotechnologie. Was sagen Sie dazu?
Ich höre dieses Argument immer wieder, aber ich denke, es ist wichtig, sich die Daten anzusehen. Und diese Daten sind nicht unbedingt sehr intuitiv, weil jeder Atomunfall und die Art und Weise, wie in der Vergangenheit darüber berichtet wurde, in den Köpfen der Menschen hängen bleibt. Aber Leute, die sich die Daten angeschaut und die Zahl der Todesfälle pro erzeugter Kilowattstunde Strom berechnet haben – wie zum Beispiel ein hervorragendes Team am Paul Scherrer Institut in der Schweiz –, kommen zum Schluss, dass die Kernkraft eine der sichersten Technologien ist. Aber ich würde sagen, dass dies in der breiten Öffentlichkeit nicht unbedingt bekannt ist. Andererseits ist Kohle eine der Technologien mit den meisten Todesopfern im Zusammenhang mit dem Bergbau. Erst vor wenigen Tagen wurde über Unfälle in der Türkei berichtet. Ich denke, weltweit kommen jedes Jahr Hunderte, wenn nicht Tausende von Bergleuten ums Leben. Und wir verbinden Kohlekraftwerke nicht unbedingt mit einer tödlichen Gefahr. Wir wissen aber, dass sie schlecht für die Umwelt sind, da wir uns die Emissionen, die Verschmutzung und das CO2 vorstellen können. Aber diese Todesfälle sind nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Daher denke ich, dass es notwendig ist, die Fakten darüber zu vermitteln, wie es bei einer Technologie in Bezug auf die Betriebssicherheit und alle vor- und nachgelagerten Todesfälle aussieht.

Zurück zur Energieversorgungssicherheit: Können wir es uns überhaupt leisten, im Hinblick auf die Versorgungssicherheit auf die Kernenergie zu verzichten?
Ich möchte nicht derjenige sein, der die Entscheidung trifft, auf die Kernenergie zu verzichten. Die IAEO befürwortet sicherlich nicht, dass jedes Land auf Kernenergie umsteigen sollte. Aber für die Länder, die das wollen, ist die Agentur natürlich da, um sie zu unterstützen. Jedes Land hat das Recht, seine eigenen Energieentscheidungen zu treffen. Länder, die einen grossen Industriesektor besitzen, müssen diesen zuverlässig rund um die Uhr mit Energie versorgen können. Und dann ist da noch die Frage der Klimaresistenz, ein Thema, das immer wieder in den Nachrichten auftaucht: die Auswirkungen des Klimawandels auf die Energieinfrastrukturen. Jede Technologie ist bis zu einem gewissen Grad anfällig für extreme Wetterereignisse. Ich denke, ein diversifiziertes Energiesystem mit Kernenergie ist wahrscheinlich zuverlässiger und widerstandsfähiger als ein System, das nur auf erneuerbaren Energien basiert. Variable erneuerbare Energien wie Wind und Sonne sind wetterabhängige Technologien, Wasserkraft weniger. In Europa gab es in der Mitte des letzten oder vorletzten Sommers eine so genannte Windflaute von zwei bis drei Wochen mit sehr wenig Wind in der Nordsee – dort wo viele Offshore-Windturbinen stehen und viele weitere geplant sind.

Deshalb denke ich, dass es teurer und riskanter wäre, auf eine Grundlaststromquelle wie die Kernkraft zu verzichten. Ich denke auch, dass dies mehr diskutiert und bekannter gemacht werden muss. Die Länder, die über grosse Mengen an Wasserkraft verfügen, müssen nicht unbedingt auf die Kernenergie setzen, obwohl sich der Klimawandel auch stark auf die Wasserkraft auswirkt, sei es in Norwegen, China oder Südamerika, in Brasilien und Argentinien und weiteren Ländern. Meiner Meinung nach ist die Diversifizierung also eine wichtige Dimension bei der Planung eines zuverlässigen Energiesystems.

Würden Sie sogar so weit gehen zu sagen, dass Kernkraftwerke dazu beitragen, erneuerbare Energien mit ihrer schwankenden Erzeugung besser integrieren zu können?
Ja, das ist eine Botschaft, an die wir bei der IAEO glauben. Mehr als ein Jahrzehnt lang wurde Gas als der perfekte Partner für erneuerbare Energien dargestellt. Ich erinnere mich an eine Gipfelkonferenz von Bloomberg New Energy Finance in London, auf der es um Gas und erneuerbare Energien für die Energiewende ging. Es gab eine Podiumsdiskussion, und ich gehörte zu den Bösen, denn ich war der Vertreter der Kernenergiebranche und so auch der Vertreter aus der Kohlebranche neben mir. Ich fragte mich, warum die Kernenergie in der öffentlichen Wahrnehmung nicht zu den Guten zählt. Ich denke, die Ereignisse in der Energiekrise zeigen, dass Gas keine Übergangstechnologie ist, kein idealer Partner für erneuerbare Energien und keine kohlenstoffarme Technologie. Natürlich hat es viele betriebliche Eigenschaften, die es in Bezug auf Flexibilität und Kosten attraktiv machen, aber langfristig denke ich, dass ein System mit Kernenergie und erneuerbaren Energien mit irgendeiner Form von Energiespeicherung oder Wasserstoffproduktion – die als eine Art Energiespeicherpuffer dienen kann – wahrscheinlich ein robustes und kohlenstoffarmes Energiesystem ist.

Dr. Henri Paillère

Dr. Henri Paillère
Dr. Henri Paillère, Leiter der Planning and Economic Studies Section der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO).

Dr. Henri Paillère verfügt über mehr als 26 Jahre Erfahrung im Kernenergiesektor und arbeitet derzeit als Leiter der Planning and Economic Studies Section bei der IAEO, der er im Februar 2020 antrat. Davor arbeitete Henri Paillère von 2011 bis 2019 bei der Kernenergie-Agentur (NEA) der OECD in Paris als Senior Analyst und stellvertretender Leiter der Abteilung für Entwicklung und Wirtschaft der Kerntechnik. Ausserdem war er Leiter des technischen Sekretariats für zwei internationale Initiativen, das Generation IV International Forum (GIF) und das International Framework for Nuclear Energy Cooperation (IFNEC). Von 2009 bis 2011 war er als F&E-Programmmanager bei der Alstom tätig und arbeitete davor während 13 Jahren beim französischen Commissariat à l’énergie atomique et aux énergies alternatives (CEA) in verschiedenen Positionen, unter anderem als europäischer Programmmanager in der Kernenergieabteilung der CEA. Paillère promovierte an der Université Libre de Bruxelles am Karman Institute for Fluid Dynamics (1995), erwarb einen Master of Science in Luft- und Raumfahrttechnik an der Universität Michigan (1991) und einen Abschluss als Ingenieur an der École Nationale supérieure de techniques avancées (1991).

Verfasser/in

Matthias Rey, Medienverantwortlicher Nuklearforum Schweiz

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