Deutschland: Widerstand gegen beschleunigten Ausstieg

Der deutsche sozialdemokratische Bundesumweltminister Sigmar Gabriel hat die Sicherheit der Kerntechnik wieder grundsätzlich infrage gestellt. Er verlangte in der Süddeutschen Zeitung vom 1. September 2007, dass die sieben ältesten Kernkraftwerke des Landes «für mehr Sicherheit» umgehend abgeschaltet werden. Die Unionsparteien CDU (Christlich Demokratische Union) und CSU (Christlich-Soziale Union) sowie die Energieversorgungsunternehmen lehnen den Vorschlag entschieden ab.

19. Sep. 2007
Bundeskanzlerin Angela Merkel ist entschieden gegen Gabriels Vorstoss, vorzeitig aus der Kernenergie auszusteigen
Bundeskanzlerin Angela Merkel ist entschieden gegen Gabriels Vorstoss, vorzeitig aus der Kernenergie auszusteigen
Quelle: Europäisches Parlament

In einer Pressemitteilung vom 3. September 2007 hielt Katherina Reiche, stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fest, dass für die Laufzeit eines Kernkraftwerks das Sicherheitsniveau und nicht das Alter der Anlage entscheidend sei. Dieser Grundsatz sei gesetzlich verankert und vernünftig. Zwei Tage später wiederholte sie: «Die Sicherheit deutscher Kernkraftwerke hat höchste Priorität. Dieses Thema eignet sich deshalb nicht als Spielball für ideologische Grabenkämpfe.» Es gäbe keine Hinweise, dass die deutschen Kernkraftwerke die Sicherheitsanforderungen nicht erfüllten. Solche Behauptungen müssten konkret belegt werden, verlangt Reiche.

«Ohne längere Laufzeiten für Kernkraftwerke wird Deutschland seine ambitionierten Klimaschutzziele kaum erreichen können. Auch schränkt der Ausstieg aus der Kernenergie die Sicherheit unserer Energieversorgung ein», warnte Reiche. Für die Union gelte weiterhin, dass die Kernenergie als Brückentechnologie gebraucht werde, bis erneuerbare Energien wirtschaftlich und technisch in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen.

Kanzlerin: Atomgesetz entscheidend

Bundeskanzlerin Angela Merkel äusserte sich in einem Interview vom 4. September 2007 mit der Frankfurter Rundschau ebenfalls klar gegen Gabriels Vorstoss, die sieben ältesten Atomkraftwerke abzuschalten. Sie sehe auf der Grundlage der bestehenden Gesetze keine Handlungsmöglichkeiten, erklärte sie und bestritt, dass ältere Anlagen «per se unsicherer» seien. «Für alle Kernkraftwerke gilt die gleiche Sicherheitsanforderung, definiert durch das Atomgesetz», betonte Merkel. Auf die Frage, ob es ihr kein Anliegen sei, bis zum Ende der Legislatur ein oder zwei Kernkraftwerke stillzulegen, meinte sie: «Sie kennen meine Haltung zur Atomkraft. Ansonsten haben wir eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag, an die ich mich halte.»

Gabriel verteidigt seine Forderung

Daraufhin präzisierte Gabriel seine Überlegungen zur vorzeitigen Stilllegung der sieben ältesten Reaktoren in einem Beitrag in der Frankfurter Rundschau vom 5. September 2007. Jüngere Kernkraftwerke besässen «grundsätzlich ein sicherheitstechnisches Grundkonzept mit höherer Sicherheitsreserven», schreibt Gabriel in einem elfseitigen Positionspapier «Mehr Sicherheit durch die Stilllegung älterer Atomkraftwerke». Diese Auffassung werde «von der Fachwelt ganz allgemein geteilt». Sicherheitstechnische Nachrüstungen bei einzelnen älteren Anlagen änderten nichts an der insgesamt konzeptionell geringeren Sicherheit der älteren Kernkraftwerke.

Für einen vorgezogenen Ausstieg aus der Kernenergie schlägt Gabriel zwei Szenarien vor: Szenario 1 sieht die sofortige Abschaltung der sieben Anlagen mit «veraltetem Reaktorkonzept» vor. Dies würde die Laufzeit der übrigen Kernanlagen um rund 20 Monate auf jeweils rund 34 Betriebsjahre verlängern. Würden, wie in Szenario 2 vorgesehen, die sieben Einheiten nicht sofort, sondern bis zum Herbst 2009 stillgelegt - dem voraussichtlichen Termin für die nächste Bundestagswahl - würde die Laufzeit der jüngeren Kernkraftwerke nur um jeweils zehn Monate auf knapp 33 Jahre verlängert. Der Atomausstieg würde bei diesem Szenario somit um zehn Monate verzögert. Laut Gabriel könne Deutschland ohne Versorgungsengpässe und ohne «sichtbare Preiseffekte an der Strombörse» auf die sieben Kernkraftwerke verzichten.

Energieversorger gegen vorzeitige Stilllegung

Bereits anlässlich eines Treffens des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) mit den Spitzenvertretern der vier grossen Energieversorgungsunternehmen EnBW, E.ON, RWE und Vattenfall vom 23. August 2007 hatte Gabriel gefordert, ältere Reaktoren vorzeitig vom Netz zu nehmen. «Durch die Übertragung von nur 5% der Strommenge, die die Kernkraftwerke noch produzieren dürfen, von veralteten auf moderne Anlagen, könnte ein Gewinn an Sicherheit erreicht werden, der alle diskutierten Nachrüstungsmassnahmen bei weitem übersteigen würde», erklärte er. Eine derartige Strommengenübertragung sei nach dem Atomgesetz vorgesehen und für die Betreiber ohne behördliche Zustimmung möglich.

Die Energieversorgungsunternehmen lehnten diese Forderungen ab. Nach ihrer Auffassung ist die Sicherheit aller Anlagen jederzeit unabhängig von ihrem Alter gewährleistet. Zudem seien Strommengenübertragungen sowohl von jüngeren auf ältere als auch von älteren auf jüngere Anlagen nach dem Atomgesetz zulässig. Laut Koalitionsvertrag müssen Biblis-A, Neckar-1 und Brunsbüttel noch in dieser Regierungsperiode stillgelegt werden. Mit Strommengenübertragungen von jüngeren Anlagen auf ältere wollen die Betreiber zunächst einmal die Laufzeiten dieser älteren Kernkraftwerke über das Jahr 2009 hinaus bis zur nächsten Bundestagswahl verlängern.

Verwaltungsgerichtshöfe erstinstanzlich zuständig

Bisher haben drei Energieversorger beim BMU Anträge zur Strommengenübertragung auf ältere Anlagen eingereicht. Die Anträge der RWE Power AG (Biblis-A) und der Vattenfall (Brunsbüttel) hat das BMU im Sommer 2007 abgelehnt. Über das Gesuch der EnBW Kraftwerk GmbH (Neckar-1) vom Dezember 2006 hat das BMU noch nicht entschieden. Alle drei Unternehmen haben vorsorglich Klage erhoben. Daraufhin hat das BMU die Zuständigkeit der angerufenen Gerichte in Frage gestellt und die Verweisung an das Verwaltungsgericht in Köln, in dessen Gerichtsbezirk das BMU seinen Satz hat, verlangt. Dem ist am 23. August 2007 der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Klage der EnBW) und am 4. September 2007 der hessische Verwaltungsgerichtshof (Klage der RWE Power AG) nicht gefolgt.

Von Gabriels Forderung betroffene Blöcke

Betroffen wären von Gabriels Vorschlag die hessischen Reaktorblöcke Biblis-A und -B sowie Brunsbüttel in Schleswig-Holstein, Neckar-1 und Philippsburg-1 in Baden-Württemberg, Unterweser in Niedersachsen sowie Isar-1 in Bayern (Gesamtleistung 7076 MW oder 35% der Kernkraftwerke). Im Gegenzug könnten jüngere Einheiten wie Isar-2 oder Neckar-2 länger als bisher geplant laufen (siehe Karte). Nach Berechnungen des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) müssten dazu 5% der gesamten Reststrommenge von älteren auf neuere Kernkraftwerke übertragen werden. «Damit liesse sich das nukleare Gesamtrisiko erheblich senken», behauptet Gabriel.

M.A. nach BMU und Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Pressemitteilungen, 23. August, Angela Merkel, Interview mit der Frankfurter Rundschau, 4. September, hessischer Verwaltungsgerichtshof, Presseinformation, 4. September, Sigmar Gabriel: «Stilllegen schafft mehr Sicherheit» und Positionspapier «Mehr Sicherheit durch die Stilllegung älterer Atomkraftwerke»in der Frankfurter Rundschau, 5. September, sowie CDU/CSU-Fraktion, Medienmitteilungen, 3. und 5. September 2007

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