Kritikalitätsunfall in Tokai-mura

Am 30. September 1999 um 10.35 Uhr Lokalzeit ereignete sich im japanischen Tokai-mura ca. 120 km nordöstlich von Tokio ein Kritikalitätsunfall, der provisorisch auf Stufe 4 der internationalen Störfallbewertungsskala für Kernanlagen Ines eingeordnet worden ist.

29. Sep. 1999

Der Unfall geschah in einem Behälter einer Urankonversions-Versuchsanlage der Japan Nuclear Fuels Conversion Company (JCO). Die Kettenreaktion konnte erst nach 17 Stunden endgültig abgebrochen werden. Drei Arbeiter erhielten lebensgefährliche Strahlendosen. Detaillierte Informationen zum Ablauf und zu den Auswirkungen des Unfalls waren aus Japan nur langsam erhältlich und sind teilweise widersprüchlich. Die folgende Darstellung beruht im Wesentlichen auf Aussagen der SVA-Schwesterorganisation Japan Atomic Industrial Forum (JAIF) und reflektiert den Stand des Wissens Mitte Oktober 1999.
Die JCO führt seit 20 Jahren Konversionsdienstleistungen für das Japan Nuclear Cycle Development Institue JNC (vormals Power Reactor an Nuclear Fuel Development Corp. PNC) durch. Der Unfall fand bei einem chemischen Reinigungsprozess für auf 18,8% angereichertes U3O8 statt, der von der Regierung bewilligt in drei Stufen ablaufen sollte: Im ersten Schritt werden das Uranoxid und Salpetersäure in einem wegen seiner Form kritikalitätssicheren Gefäss gemischt. Im zweiten Schritt wird die aus der Mischung entstandene Uranylnitratlösung über Extraktionskolonnen in einen ebenfalls kritikalitätssicheren Zwischenbehälter gepumpt, in dem Urankonzentration und -masse bestimmt werden. Für den dritten Schritt wird die Lösung in einen Sedimentationsbehälter gepumpt. Durch Zugabe von Ammoniak wird der Feststoff Ammoniumdiuranat ausgefällt. In nachfolgenden Stufen wird das Ammoniumdiuranat wieder zu - jetzt gereinigtem - U3O8 und dieses schliesslich zu Uranylnitrat umgewandelt, das als Ausgangsprodukt für die Herstellung von Kernbrennstoff dient. Schritt 2 hat eine Kontrollfunktion, da der Sedimentationsbehälter (Schritt 3) aufgrund seiner Geometrie nicht kritikalitätssicher ist. Dieser dürfte nur mit einer Uranmasse von 2 kg (anderen Angaben zufolge 2,4 kg) befüllt werden.
Nach heutigem Kenntnisstand liessen die Arbeiter entgegen dem bewilligten Verfahren die Schritte 1 und 2 aus. Sie mischten das U3O8 in einem separaten Kessel mit Salpetersäure und füllten die Uranylnitratlösung direkt in den Sedimentationsbehälter ein. Entscheidend für die Auslösung des Unfalls war jedoch, dass 16 kg Uran mit einer Anreicherung von 18,8% eingebracht wurden. Damit wurde das festgelegte Limit um das Sieben- bis Achtfache überschritten. Die kritische Masse bei 20% Anreicherung beträgt nach Aussage der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) etwa 5 kg Uran, unter den gegebenen Bedingungen der Salpetersäure etwa 8 kg. Damit wurde die kritische Masse um rund das Zweifache überschritten. Die Arbeiter waren nicht oder nur teilweise über die Gefahren der Kritikalität informiert; sie trugen auch keine Dosimeter.
Der über 17 Stunden andauernde kritische Zustand wurde beendet, indem das Kühlwasser aus dem Kühlmantel des Sedimentationsbehälters abgelassen wurde. Dieses förderte vermutlich unter den Unfallbedingungen die Kernspaltungs-Kettenreaktion. Ausserdem wurde Neutronen schluckende Borsäure in den Behälter eingespeist. Während des Störfalls wurde ausserhalb der Anlage eine Dosisrate von 0,84 mSv/h für Gammastrahlen und von 4,5 mSv/h für Neutronenstrahlen gemessen. Nach dem Abbruch der Kettenreaktion fielen die Dosisraten wieder in den Bereich der natürlichen Hintergrundstrahlung. Aussagen über die Strahlung im Innern der Anlage waren bislang keine erhältlich.
Die freigesetzten Spaltprodukte waren im Wesentlichen gasförmige Krypton- und Xenonisotope sowie Iod und Spuren von Cäsium. Die Menge erzeugter Spaltprodukte und freigesetzter Radioaktivität ist nach heutigem Stand des Wissens zu gering, als dass es zu einer Gefährdung der Umgebung gekommen wäre. Am 8. und 9. Oktober wurde an einem Punkt etwa 50 m südwestlich des Unfallgebäudes Iod-131 in der Luft gemessen, allerdings in einer Konzentration, die um das Hundertfache unter dem erlaubten Grenzwert liegt. Proben von Boden-, Pflanzen- und anderen Materialien um die Anlage zeigten ebenfalls Iod-131-Werte, die deutlich unter den entsprechenden Grenzwerten liegen. Die Ventilation des Gebäudes wurde jedoch erst elf Tage nach dem Unfall abgeschaltet, nachdem man festgestellt hatte, dass die Abluft die Grenzwerte überschreitet.
Die drei unmittelbar am chemischen Reinigungsprozess beteiligten Mitarbeiter erhielten Strahlendosen von 17, 10 und 3 Sv. Weitere 46 Personen wurden durch den Unfall weniger schwerwiegend betroffen. Über ihre Strahlenexposition liegen zur Zeit noch keine quantitativen Angaben vor. Hinzu kommen 21 Mitarbeiter des Notfalldienstes, die versuchten, die Kettenreaktion unter Kontrolle zu bringen und sich dabei kurzzeitig wissentlich erhöhter Strahlung aussetzten. Bei diesen betrug die höchste registrierte Dosis knapp 100 mSv, das Doppelte der für beruflich Strahlenexponierte in Japan zulässigen Jahresdosis von 50 mSv. Mehr als 150 Anwohner aus der unmittelbaren Umgebung der Anlage wurden vorübergehend evakuiert, und ca. 310'000 Anwohner im Umkreis von 10 km um die Anlage wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben. Nach dem endgültigen Abbruch der Kritikalität konnten diese Notfallmassnahmen wieder aufgehoben werden.
Kurz nach dem Unfall wurde bekannt, dass es bei der JCO eine nicht autorisierte Arbeitsvorschrift gab, nach der Schritt 1 des chemischen Reinigungsprozesses für U3O8 ausgelassen und stattdessen das Uranoxid in dem separaten Kessel aufgelöst werden könne. Schritt 2 - die Kontrolle von Urankonzentration und -masse - hätte aber gemäss dieser internen Arbeitsvorschrift durchgeführt werden müssen.
Die japanische Regierung hat polizeiliche Ermittlungen eingeleitet, die Bildung einer Untersuchungskommission angekündigt sowie die Zuständigkeiten für die Überwachung der Radioaktivität und die Bewältigung der Unfallauswirkungen festgelegt. Als vorbeugende Massnahme sollen die Anlagen des Kernbrennstoffkreislaufs und "verwandte" Anlagen wie Forschungsreaktoren im Hinblick auf den Umgang mit Kritikalität umfassend überprüft werden. Die Kernkraftwerke sind nicht in diese umfassende Kontrolle eingeschlossen, doch sollen unter anderem ihre Handbücher überprüft werden. Verschiedene Regierungsstellen und Ministerien wurden angewiesen, gemeinsam die Massnahmen zur Katastrophenbewältigung zu verbessern. Die Science and Technology Agency (STA) wurde zudem beauftragt, über die Überwachung der Radioaktivität und den Stand der Ermittlungen aktiv zu informieren. Sowohl die Notfallorganisation als auch die Informationspolitik der Regierung waren teilweise heftig kritisiert worden. Medienberichte, wonach die STA den Störfall anfangs Oktober inoffiziell von der provisorischen Ines-Stufe 4 auf die Ines-Stufe 5 umklassiert habe, wurden bisher nicht bestätigt. Die Internationale Atomenergie-Organisation IAEO hatte schon am 30. September ihre Unterstützung in Form eines Expertenteams angeboten. Am 12. Oktober hat sie drei Spezialisten nach Japan entsandt, nachdem die Regierung ihr Einverständnis zu einem solchen Unfall-Untersuchungsteam gegeben hatte.
Auf internationaler Ebene reagierte sowohl die Politik als auch die Nuklearindustrie selbst mit Betroffenheit auf das Ereignis. Das Europäische Parlament verabschiedete eine Resolution, die verlangt, dass aus "Tokai-mura" entsprechende Lehren gezogen werden müssen. Das Nuclear Energy Institute (NEI), der Interessenverband der amerikanischen Nuklearindustrie, erklärte, ein solcher Unfall sollte angesichts der Kontrollmassnahmen bei der Brennstofffabrikation in den USA nicht passieren. Es möchte aber die Anlagen einer koordinierten Überprüfung unterziehen - in Ergänzung zu den Untersuchungen, die die Betreiber unter solchen Umständen "typischerweise" auch von sich aus anstellen würden. Die Vorzüge der Kerntechnologie für die Gesellschaft - sei es in der Medizin, bei der Stromerzeugung oder in anderen Bereichen - seien so gross, dass man keine Fragen über das Ereignis in Japan offen lassen dürfe.
Seit 1945 passierten laut einer Aufstellung des französischen Institut de protection et de sûreté nucléaire (IPSN) weltweit rund 60 Kritikalitätsunfälle, die meisten davon in den 50er- und 60er-Jahren in militärischen Anlagen der USA und der Sowjetunion. Die Auswirkungen beschränkten sich im Wesentlichen auf die Anlagen selbst und kosteten insgesamt 17 Mitarbeitern das Leben. Zwei Drittel dieser Unfälle fanden in Forschungsreaktoren und in Laboratorien statt, in denen mit kritischen Anordnungen gearbeitet wurde. Von den 21 bisherigen Unfällen, die wie "Tokai-mura" den Brennstoffkreislauf betrafen, ereigneten sich fast alle mit Lösungen, die spaltbares Material enthielten. Sie führten zu sieben Todesopfern und signifikanten Strahlenbelastungen von 40 weiteren Personen.

Quelle

M.S. nach NucNet und Angaben des JAIF

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