Vom Kernkraftwerk zum Lieferanten von Strom, Wärme und Wasserstoff

Die Veränderungen in den Stromnetzen durch den Ausbau der volatilen erneuerbaren Energien wie auch die klimapolitische Forderung nach Reduktion der fossilen Energien stellen neue Anforderungen an künftige Reaktorsysteme. Eine Bestandesaufnahme einer Expertengruppe der Nuclear Energy Agency (NEA) der OECD identifiziert die diesbezüglichen Vorteile von flexiblen, fortgeschrittenen Reaktorsystemen der Generationen III und IV.

19. Aug. 2022
Haiyang nuclear district heating
Für Kernkraftwerke kann auch die Erzeugung nuklearer Fernwärme wirtschaftlich sein, um die Auslastung hochzuhalten. Im Bild der Ausgangspunkt des Fernwärmesystems der chinesischen Stadt Haiyang, das von nuklearer Fernwärme aus dem Kernkraftwerk Haiyang gespiesen wird.
Quelle: State Nuclear Power Planning and Design Institute

Die Autoren des 2021 publizierten Berichts «Advanced Nuclear Reactor Systems and Future Energy Market Needs» bedauern, dass die Einsatzmöglichkeiten nuklearer Reaktorsysteme ausserhalb der reinen Stromerzeugung in politischen Diskussionen wie auch in den internationalen Szenarien zur Dekarbonisierung kaum berücksichtigt werden. Dabei könnten gerade sie – in Kombination mit den volatilen erneuerbaren Energien – in schwierigen Sektoren wie der Schwerindustrie oder dem Transportsektor interessante Lösungswege aufzeigen.

Der Bericht geht davon aus, dass künftige Stromversorgungssysteme vielfältiger sein werden als heute. «Einerseits dürfte der steigende Anteil der volatilen erneuerbaren Energien zu zusätzlichem Bedarf an flexibler Stromproduktion führen. Andererseits dürften die Zunahme der Elektrofahrzeuge, das veränderte Lastmanagement und der Bedarf an Speichersystemen (…) den Kernkraftwerken die Möglichkeit eröffnen, auch bei einem hohen Anteil an volatilen Stromquellen im Netz mit hoher Auslastung zu fahren», heisst es im Bericht.

Fähigkeit zum Lastfolgebetrieb
Die erste Anforderung an ein fortgeschrittenes Reaktorsystem ist die Fähigkeit zum Lastfolgebetrieb, d.h. die Fähigkeit, die Schwankungen der erneuerbaren Energien auszugleichen und die Frequenz- und Netzstabilität aufrechtzuerhalten. Während die Reaktoren der Generation II für den Grundlastbetrieb ausgelegt wurden, weist der Bericht darauf hin, dass die meisten Reaktorsysteme der Generation III/III+ für schwankende Anforderungen der Netzbetreiber ausgelegt sind. So verlangen seit 2001 die European Utility Requirements, dass neue Reaktorsysteme in der Lage sein müssen, dauernd mit Lasten zwischen 50 und 100% der installierten Leistung zu produzieren, geplante und ungeplante Lastfolgemanöver zu fahren sowie die Primärregelung zur Frequenzstabilität im Bereich von ±2% der installierten Leistung sicherzustellen. Diesbezüglich zertifiziert sind laut Bericht derzeit der AP1000 von Westinghouse, der WWER-1200 von Rosatom, der EPR von Framatome sowie der japanische ABWR. Betont wird aber, dass durchaus auch Reaktoren der Generation II erfolgreich im Lastfolgebetrieb eingesetzt werden können, so seit Jahrzehnten in Frankreich und Deutschland.

Auch die derzeit in schneller Entwicklung stehenden kleinen, modularen Reaktoren (SMR) sind – falls sich eine grössere Zahl von ihnen im Netz befindet – grundsätzlich in der Lage, die volatilen Energien auszubalancieren. Auch die in Entwicklung stehende Generation IV, hält der Bericht fest, müsse zwingend den flexiblen Betrieb ermöglichen – trotz ihrer besonderen Stärken für nicht elektrische Anwendungen.

Trotzdem hohe Auslastung möglich
Kernkraftwerke sind zwar kapitalintensiv, haben aber tiefere Betriebskosten als fossil befeuerte Kraftwerke. Daher laufen sie am wirtschaftlichsten unter Volllast. Die georderte flexible Betriebsweise kann sich daher über die reduzierte Auslastung und den erhöhten Unterhaltsaufwand wegen stärkerer Materialbelastung nachteilig auf die Wirtschaftlichkeit auswirken, insbesondere wenn gleichzeitig keine Einsparung an Brennstoff möglich ist, schreiben die Autoren. Der Bericht untersucht daher Möglichkeiten, die Auslastung trotz Integration der neuen erneuerbaren Energien im Netz hochzuhalten. Die klimapolitischen Forderungen bieten dazu eine Reihe von Optionen.

Nukleare Wärme für nicht elektrische Anwendungen
Rund die Hälfte des derzeitigen weltweiten Endenergiebedarfs (Zahlen von 2018) besteht in der Nachfrage nach Wärme. Das ist deutlich mehr als der Energieeinsatz für den Transportsektor (29%) oder für die Stromerzeugung (21%). Da rund drei Viertel des Wärmebedarfs mit fossilen Brennstoffen gedeckt wird, verursacht der Wärmemarkt 40% der weltweiten CO2-Emissionen. Der Löwenanteil der Wärme (96%) wird zu etwa gleichen Teilen im Gebäudesektor und in der Industrie benötigt. Das eröffnet potenziell gute Möglichkeiten für Kernkraftwerke. Das gilt grundsätzlich für die Schweiz, wo nach wie vor fast zwei Drittel des Energiebedarfs – v.a. für Wärme und den Verkehr – mit fossilen Energieträgern gedeckt werden.

Der Bericht hält dazu fest, dass die EUROPAIRS-Studie der EU aus dem Jahr 2011 gezeigt habe, dass der weitaus grösste Teil des Wärmemarkts Temperaturen unter 550 °C bzw. über 1000 °C verlangt und es nur wenige Prozesse für das dazwischenliegende Segment gibt (etwa die Produktion von Industriegasen oder für weichgebrannten Kalk). Der grösste Teil des Wärmebedarfs unter 550 °C kommt von den Raffinerien (250–550 °C), der chemischen Industrie und den Fernwärmenetzen (unter 250 °C).

Anwendungen unter 300 °C
Die herkömmlichen Reaktoren der Generationen II/III/III+ liefern typischerweise Dampf um die 300 °C. Das eignet sich für den Betrieb von Fernwärmenetzen. Gemäss Bericht lieferten im Jahr 2019 insgesamt 68 kommerzielle Kernkraftwerke in elf Ländern Wärme zu Heizzwecken, darunter das Kernkraftwerk Beznau. Die dort gemachten Erfahrungen belegten, so der Bericht, dass nukleare Fernwärme wirtschaftlich, sicher und von den Endkonsumenten akzeptiert sei.

Geeignet sind ebenfalls viele der SMR, die zudem den Vorteil haben, dass sie wegen ihrer Sicherheitseigenschaften näher an den Ballungszentren erreichtet werden können. So plant beispielsweise China, ihren Kugelhaufenreaktor für die Produktion sowohl von Strom wie auch Fernwärme einzusetzen.

Temperaturen unter 300 °C lassen sich auch in industriellen Prozessen einsetzen. Der Bericht erwähnt als Beispiel das Kernkraftwerk Gösgen, das Prozessdampf an eine Karton- und eine Papierfabrik liefert. Die Autoren sind der Auffassung, dass die kombinierte Produktion von Strom und eines Industrieprodukts ein flexibles Umschalten zwischen Stromabgabe und (lagerbarer) Industrieproduktion ermöglicht.

Schliesslich genügen die tiefen Temperaturen für das Entsalzen von Wasser. Der Bericht erwähnt dazu eine inzwischen stillgelegte Anlage in Aqtau in Kasachstan, die während 26 Jahren mit einem schnellen, flüssigmetallgekühlten Brutreaktor des Typs BN-350 mit 1000 MW thermischer Leistung betrieben worden ist.

Endenergieverbrauch 2019
Endenergieverbrauch in der Schweiz 2019
Quelle: Gesamtenergiestatistik BFE

Anwendungen über 300 °C
Bei solchen Temperaturen kommen die sechs international ausgewählten Reaktorsysteme der Generation IV ins Spiel, die sich derzeit noch in Entwicklung befinden. Sie ermöglichen sehr viel höhere Temperaturen als die herkömmlichen kommerziellen Reaktoren (siehe Abschnitt «Hohe Temperaturen bei der Generation IV»). Neben den zahlreichen Einsatzmöglichkeiten in der Industrie legt der Bericht das Augenmerk auf kohlenstoffarm produzierten Wasserstoff, als Alternative zu den heutigen CO2-intensiven Produktionsverfahren sowie als Ersatz der fossilen Brenn- und Treibstoffe, aber auch als potenzieller Energiespeicher über längere Zeit.

Gesucht: CO2-armer Wasserstoff
Derzeit kommt Wasserstoff vor allem in der Industrie zum Einsatz, und dort vor allem in der Chemie, in Ölraffinerien und in der Stahlproduktion. In Zukunft könnte er sich auch als Energieträger durchsetzen – beispielsweise als Beimischung zum Erdgas oder für Brennstoffzellen in Lastwagen und Lieferwagen mit grosser Reichweite oder Schiffen. Voraussetzungen dafür sind laut Bericht die gewählten energiepolitischen Strategien und technologische Durchbrüche. Die eine Herausforderung für eine Wasserstoffwirtschaft ist der Aufbau der dafür nötigen Infrastruktur, der andere der Preis bzw. die bisher geringe energetische Effizienz der Wasserstoffproduktion. Der Bericht hält dazu fest, dass noch unsicher sei, ob dieser Brennstoff je konkurrenzfähig werde.

Die einzige reife Methode, Wasserstoff aus Wasser zu gewinnen, ist die (teure) Elektrolyse bei tiefen Temperaturen. Im Fokus steht daher einerseits die Entwicklung der Hochtemperatur-Dampf-Elektrolyse, die mit einem elektrischen Wirkungsgrad von 80% besser ist als die 70% bei tiefen Temperaturen. Allerdings benötigt sie Betriebstemperaturen von 650–1000 °C. Andererseits werden derzeit auch thermochemische Verfahren entwickelt. Gemäss Bericht stehen hier ein auf Schwefelsäure und Jod als Katalysatoren beruhender Kreislaufprozess im Vordergrund, der 800–900 °C erfordert. Dieser Temperaturbereich ist bei einigen der Reaktoren der Generation IV erreichbar, insbesondere vom «Very High Temperature Reactor» (VHTR).

Flexible Kernenergienutzung
Vorschlag aus den USA für die flexible Nutzung der Kernenergie: gasgekühlte Reaktoren mit sehr hohen Temperaturen für die gleichzeitige bzw. abwechselnde Produktion von Strom, Wasserstoff und Prozesswärme für die Industrie.
Quelle: Idaho National Laboratory

Bereits heute Wasserstoffproduktion
Die Autoren des Berichts sind der Auffassung, dass bereits heute ein grosses CO2-Reduktionspotenzial durch Wasserstoff besteht. So könnten die dank Langzeitbetrieb günstig produzierenden heutigen Kernkraftwerke in Zeiten geringer Stromnachfrage und tiefer Preise mit der erprobten Tieftemperatur-Elektrolyse Wasserstoff produzieren (siehe Abschnitt «USA: Milliarden für Wasserstoff»). Später könnten sie von den Hochtemperaturverfahren und den Reaktoren der Generation IV abgelöst werden. Falls sich nämlich Wasserstoff als Energieträger breit durchsetzt, würde die Nachfrage enorm steigen. Dies eröffne, so die Autoren, im Verbund mit den volatilen erneuerbaren Energien eine gute Zukunft für Kernreaktoren.

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Hohe Temperaturen bei der Generation IV
Im Rahmen des «Generation IV International Forum» (GIF) haben sich – neben Euratom – bisher 13 Länder zusammengeschlossen, darunter die Schweiz. Ziel ist, für die Zeit nach 2040, neue Reaktoren und Brennstoffkreisläufe zu entwickeln, die den Ressourcenverbrauch drastisch reduzieren und die Menge des radioaktiven Abfalls erheblich vermindern. Diese Systeme der Generation IV haben deutlich höhere Temperaturen beim Reaktoraustritt:

  • 480 bis 570 °C beim mit Blei gekühlten Schnellen Reaktor (LFR, Weiterentwicklung von bestehenden kleinen Reaktoren für Schiffsantriebe) mit Potenzial zu deutlich höheren Temperaturen, falls geeignete Materialien gefunden werden;
  • 500 bis 550 °C beim mit Natrium gekühlten Schnellen Reaktor (SFR, Weiterentwicklung von seit Jahrzehnten erprobten Reaktorsystemen);
  • bis 625 °C beim Leichtwasserreaktor mit überkritischem Dampf (SCWR, Weiterentwicklung der heutigen Siedewasserreaktoren);
  • um 750 °C beim Salzschmelze-Reaktor (MSR, experimenteller Reaktor war in den 1960er- Jahren in den USA in Betrieb);
  • bis 850 °C beim gasgekühlten Schnellen Reaktor (GFR, Weiterentwicklung aus den britischen Magnox und AGR-Reaktoren);
  • 1000 °C beim Reaktor mit sehr hohen Temperaturen (VHTR, Weiterentwicklung der bisherigen Hochtemperatur-Reaktoren wie beispielsweise des Kugelhaufenreaktors).

Allen diesen Reaktorsystemen ist gemeinsam, dass sie höchste Anforderungen an die Materialtechnik stellen. Oberste Priorität haben derzeit der SFR und der VHTR. Bei letzterem forscht das GIF parallel an geeigneten Methoden der Wasserstoffproduktion.

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USA: Milliarden für Wasserstoff
Nur Tage nachdem der amerikanische Kongress ein Sechs-Milliarden-Dollar-Programm zur Unterstützung des Weiterbetriebs der bestehenden Kernkraftwerke bewilligt hatte, lancierte das Department of Energy (DOE) am 16. Februar 2022 sein Programm für sauberen Wasserstoff aus Elektrolyse. USD 8 Mrd. sollen zum Aufbau regionaler Wasserstoff-Hubs für die Industrie eingesetzt werden. Weitere USD 1 Mrd. fliessen in ein Programm zur Reduktion der Kosten der CO2-armen Wasserstoffproduktion, und USD 500 Mio. stehen für Initiativen zur Wasserstoffproduktion und -rezyklierung zur Verfügung.

Ziel dieser von beiden Parteien unterstützen Politik ist, innerhalb eines Jahrzehnts die Kosten für ein Kilogramm Wasserstoff auf einen Dollar zu senken. «Das ermöglicht die Wasserstoffproduktion aus erneuerbaren Energien einschliesslich Sonnen-, Wind- und Nuklearenergie», schreibt das DOE.

Im Rahmen dieses Programms gab das DOE am 8. Oktober 2021 dem Kernkraftwerk Palo Verde in Arizona USD 20 Mio. für ein Demonstrationsprojekt für die Produktion und Lagerung von Wasserstoff frei. Mit dem gespeicherten Wasserstoff soll bei hoher Nachfrage Strom erzeugt werden. Er soll aber auch für die Produktion von chemischen Erzeugnissen und weiterer Brennstoffe genutzt werden.

Verfasser/in

Michael Schorer

Quelle

NEA-Bericht «Advanced Nuclear Reactor Systems and Future Energy Market Needs»

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